Das Schicksal der deutschen Geistesgeschichte – Interview mit Dina Gusejnova und Richard Bourke (Teil I)

Mit Rosenöl und deutscher Geist/The fortunes of German intellectual history haben Dina Gusejnova (LSE) und Richard Bourke (Cambridge) einen schon vielbeachteten Film über die deutsche Geistesgeschichte, Ideengeschichte und Intellectual History hergestellt. Eine Vielzahl von Zusatzmaterialien stellt das Wissenschaftskolleg Berlin bereit. Der Film verfolgt die Spuren einer deutschen Tradition in der europäischen Geschichtsschreibung und ihres Nachlebens in der angelsächsischen Forschung und Lehre. Ausgehend von der Frage, wie die Ideengeschichte nach ihrer Blütezeit im neunzehnten Jahrhundert aus Deutschland verdrängt wurde, lassen Bourke und Gusejnova einschlägige deutsche und internationale Forscherinnen und Forscher aus drei Generationen zu Wort kommen und gehen dem Phänomen nach, dass die Intellectual History heute weltweit eine größere Präsenz hat als im deutschen Sprachraum. Jonas Knatz und Anne Schult haben Gusejnova und Bourke ausführlich zum Film befragt – der theorieblog bringt das Gespräch in zwei Teilen. Das Originalgespräch erschien auf dem blog des Journal of the History of Ideas (JHI). – red.

Rosenöl und deutscher Geist from Wissenschaftskolleg zu Berlin on Vimeo.

 

Jonas Knatz (JK) & Anne Schult (AS): Ihr Film Rosenöl und Deutscher Geist – The Fortunes of German Intellectual History ist eine Metageschichte der deutschen Geistesgeschichte. Die Entscheidung, dieses Projekt als Dokumentarfilm und nicht als Buch oder Sonderheft zu realisieren, wirft interessante Fragen zum Medium auf. Warum haben Sie sich für ein Format entschieden, das sowohl Audio- als auch visuelle Komponenten hat?

Dina Gusejnova (DG): Richard hatte eigentlich einen Workshop zur Geschichte der Geistesgeschichte geplant, und einige der Ideen, die hinter dem Film stehen, waren ursprünglich als konventionelle Beiträge dazu gedacht. Ich wollte mich in diesem Zusammenhang mit der Geschichte von intellektuellen Strömungen, die aus der deutschen wissenschaftlichen Tradition hervorgegangen ist, beschäftigen. Leider – beziehungsweise, im Nachhinein vielleicht glücklicherweise – fand die Konferenz, für die dieser Beitrag gedacht war, nicht statt. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits ein längeres Gespräch über diese Themen begonnen, und so entstand die Idee, eine Reihe von Interviews zu führen.

Der Film als Medium ermöglichte es, die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Er erzeugt eine Gesprächssituation, in der die Zuschauer Raum für ihre eigenen Gedanken finden, die mit dem, was sie sehen oder hören, nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Gleichzeitig würde ich hinzufügen, dass kein Medium an sich die Lösung für ein intellektuelles Problem bieten kann. Um es anders auszudrücken – wer von der Geschichte, die der Film letztlich erzählt, nicht überzeugt ist, sollte es nicht auf das Medium schieben.

 

JK & AS: Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war die deutsche Geistesgeschichte, über die Grenzen des Landes hinaus, außerordentlich einflussreich in einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen. Aufbauend auf einer Reihe von Gesprächen mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den USA, Großbritannien und Deutschland argumentiert Ihr Film, dass dieser Einfluss ab den 1920er Jahren deutlich zurückging. Noch 1924 verglich Friedrich Meinecke in seinem Buch Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte große intellektuelle Werke mit einem „Tropfen Rosenöl, der aus Hunderten von Rosen gewonnen wird“ – aber was war das titelgebende „Schicksal“ der deutschen Geistesgeschichte danach?

Richard Bourke (RB): Das deutsche Geistesleben übte von der Ära Kants bis ins 20. Jahrhundert und darüber hinaus einen enormen Einfluss auf ganz Europa und die anglophone Welt aus. Unser Anliegen galt einem spezifischen Bereich dieser Geistesgeschichte, nämlich der Geschichtswissenschaft. Wir interessierten uns für den Geist des Historismus, der sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland seit Herder zeigte, und für den Einfluss dieser historischen Sensibilität auf die Praxis der Ideengeschichte. Sie tritt in unterschiedlicher Weise im Denken von Hegel, Dilthey und Nietzsche auf. Vor allem Friedrich Meinecke, als Historiker von Beruf, machte daraus einen Schwerpunkt seiner Forschung und Lehre. In unserem Film geht es nicht primär um die Ideengeschichte in Deutschland als solche, sondern um das Schicksal der Geistesgeschichte als eine grenzüberschreitende Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft. Meinecke stand zwar nicht im Mittelpunkt des deutschen Geisteslebens insgesamt, aber er war eine zentrale Figur in der deutschen Geschichtswissenschaft und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch einer ihrer international führenden Praktiker.

Im Film befragen wir unsere Gesprächspartner nach den Quellen der deutschen Geistesgeschichte vor Meinecke. Ihre Antworten führen uns zurück zur Geschichte der Ideengeschichte, der Geistesgeschichte und der Sozialwissenschaft bis hin zur Historischen Rechtsschule und ihrem großen Rivalen Hegel, und schließlich zur Geschichte der historisch-kritischen Bibelwissenschaft mit ihrem Sinn für die historische Relativität des christlichen und jüdischen Glaubens auf der Grundlage ihrer wichtigsten Offenbarungen. Wir meinen dabei nicht, dass das alles in Meinecke seinen Höhepunkt findet. Es wird aber deutlich, dass Meinecke von diesen Strömungen geprägt war und sie für die historische Wissenschaft aufgearbeitet hat.

Meinecke lieferte zwar keine erschöpfenden Antworten auf alle Probleme der Geschichtswissenschaft – bei weitem nicht. Trotzdem beeindruckt sein Werk als Beispiel einer Art der disziplinären Geistesgeschichte, die sich auf die großen deutschen philosophischen Traditionen stützte. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass diese Traditionen auch andere hochkarätige Intellektuelle dieser Epoche beeinflussten, etwa Heidegger, Simmel, Schmitt, Cassirer, Arendt und Adorno, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Uns ging es hier vor allem um Strömungen innerhalb der Geschichtswissenschaft. Hier stellt sich die Frage: Gibt es in der deutschen Geistesgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg jemanden, der als Meineckes Nachfolger gelten kann? Viele Schüler und seine wichtigste Schülerin (Hedwig Hintze) wurden unter den Nationalsozialisten verfolgt oder verdrängt, und eine Reihe von ihnen wurden zur Emigration gezwungen. Es ist schwer, in den 1950er Jahren und danach eine Figur zu finden, die auf vergleichbare Weise die deutsche philosophische Tradition in der Geschichtswissenschaft verkörpern würde. Reinhart Koselleck kommt hier als einziger Vertreter der Geschichte als Fach und jemand, der den deutschen Idealismus in seiner Breite verarbeitete, in Frage, wobei er allerdings keine Verbindung zu Meinecke hatte. Gab es sonst überhaupt jemanden, der einen solchen Zugang zur historischen Wissenschaft vermisste? Karl Mannheim mit seinem Versuch, eine historische Wissenssoziologie zu entwickeln, kommt vielleicht in Frage, doch in den 1970er Jahren reduzierte sich sein Ansatz weitgehend auf die Untersuchung von Klassen (oder Berufen) und den damit verbundenen intellektuellen „Interessen“.

Die Geschichte des relativen Niedergangs der Geistes- und Ideengeschichte ist nicht auf Deutschland beschränkt. Historiker wie Paul Veyne, Gerald Stourzh, J.G.A. Pocock, Quentin Skinner, Anthony Grafton, Natalie Zemon Davis, Richard Tuck und Lorraine Daston sind sehr umfassend gebildet, und natürlich gibt es auch heute bedeutende intellektuelle Persönlichkeiten dieses Fachs. Generell führte die Professionalisierung dieser Fachrichtung zu einer gewissen Verengung ihres Handwerks. Es handelt sich um eine Reduzierung der Kompetenz im Sinne einer vermeintlichen Interdisziplinarität, die man auch in anderen Disziplinen beobachten kann. Der Punkt ist: Es gibt in Deutschland vielleicht weniger Ausnahmen von dieser Entwicklung, als man sich erhoffen würde – Persönlichkeiten wie Wolfgang Mommsen und Ernst Nolte, aber im Großen und Ganzen gerieten ihre Errungenschaften in Vergessenheit. Erst wurde die Geistesgeschichte mit Nationalismus, Historismus und Teleologie in Verbindung gebracht, später kamen Epiphänomenalismus, Obskurantismus und Elitarismus hinzu. Diese Fachrichtung wurde zunehmend diskreditiert, wobei zunächst Karl Popper als Autorität diente, später die Ideen von 1968. In jüngerer Zeit neigen deutsche Wissenschaftler dazu, amerikanischen Trends zu folgen. Früher waren sie die Impulsgeber der intellektuellen Debatten in den USA. Heute treten sie oft als ihre Konsumenten hervor und spiegeln lediglich deren Ergebnisse wider, indem sie sie neu verpacken und umdeuten.

DG: Das Thema unseres Films stellte uns vor eine erzählerische Herausforderung, weil sich unser Gegenstand, die Geistesgeschichte, in jeder behandelten Periode ändert. Zwar trifft jede Studie, die sich mit einer längeren intellektuellen Tradition beschäftigt, auf dieses Problem. Hier ist es aber besonders akut. Im Mittelpunkt steht die Meinecke-Galaxie innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, ihr Niedergang und ihr Wiederauftauchen in der anglophonen Wissenschaft. In der allgemeineren Wissenschaftsentwicklung des langen 20. Jahrhunderts ist die Identität dieser Fachrichtung schwieriger zu fassen. Die Grenzen der Geschichtswissenschaft zur Philosophie, Politik oder Kritischen Theorie sind nicht immer eindeutig abzustecken. Erweitert man die Perspektive auf diese Felder und Fachbereiche, dann erkennt man eine Reihe von Sternen und Planeten, deren Strahlungswirkung weiterbesteht und von denen einige nach 1945 wiederentdeckt wurden.

Nachdem er den gesamten Film gesehen hatte, fragte Martin Jay sehr kritisch: „Wo bleiben die Dadaisten, Brecht, Mann, etc. in dieser Geschichte? Die Kritische Theorie, die sich eher neben als im Zentrum der Mandarin-Tradition entwickelte, wird ignoriert, das ist ein deutlicher Mangel.“ Wir stimmen dieser Aussage ganz und gar zu – und doch, wenn es um die Disziplin der Geschichte geht, wie sie in Deutschland nach 1945 praktiziert wurde, können wir die Frage nur emphatisch wiederholen. Tatsächlich stellt sich die Frage, warum diese Autoren in den 1960ern und danach keinen größeren Einfluss auf die deutsche Geschichtswissenschaft hatten – wohlgemerkt, im Unterschied zur Geschichtsschreibung über Deutschland. Es ist klar – und das ist natürlich der Grund, warum wir Martin Jay interviewt haben – dass die Kritische Theorie nicht zuletzt auch dank seinen Arbeiten und der Wissenschaft seiner Schule – einen großen Einfluss auf die Geschichtsschreibung und insbesondere die history of ideas in den USA gehabt hat. Ich möchte hier nur Sam Moyn erwähnen, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, die kürzlich vom Council for European Studies organisierte Filmdiskussion zu moderieren, oder die Arbeit verschiedener Ideengeschichtler, die in dem von Peter Gordon und John McCormick herausgegebenen Band Weimar Thought (2017) vertreten sind, oder den von Warren Breckman, Sam Moyn, Peter Gordon, Dirk Moses und Elliot Neaman herausgegebenen Sammelband The Modernist Imagination (2009), der explizit den Einfluss von Martin Jay auf innovative, von der Kritischen Theorie inspirierte Arbeiten in den Geisteswissenschaften im weiteren Sinne herausarbeitet. Unabhängig davon möchte ich an dieser Stelle auch das Werk von Raymond Geuss erwähnen, das sich gegen den antihistorischen Strang des politischen Denkens auf beiden Seiten des Atlantiks richtet, insbesondere in der Politischen Theorie.

Ausgerechnet in Deutschland haben sich Institutionen wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung von der Geschichte als solcher abgewandt und beschäftigen sich mehr mit der Politischen Theorie und der Gesellschaftstheorie sowie der Beantwortung normativer Fragen. Zwar hatten Bücher wie die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno und, fast zwanzig Jahre später, Marcuses Der eindimensionale Mensch auch in Deutschland Kultstatus. Es gibt natürlich auch deutsche Historiker und Historikerinnen, die sich mit der Frankfurter Schule oder dem Einfluss Meineckes biographisch befasst haben, wie z.B. Rolf Wiggershaus oder Gisela Bock, aber eine direkte Wirkung auf die breitere historische Forschung ergibt sich daraus nicht. Das Erbe der Kritischen Theorie wird eher innerhalb der Philosophie verhandelt, z.B. von Rahel Jaeggi. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass die Kritische Theorie einen begrenzten Einfluss auf das Handwerk der Geschichtswissenschaft hatte, während sie die Politische und Gesellschaftstheorie, im Unterschied zur amerikanischen Tradition, nicht dazu gebracht hat, in ihrem Denken historischer zu werden. Außerdem gibt es natürlich auch eine Rezeption der Geistes- und Ideengeschichte in der Germanistik.

In Großbritannien und im anglo-amerikanischen Zusammenhang sehen die Dinge wieder anders aus. Um die Galaxie-Metapher fortzusetzen: die Figur Meineckes ist aus dem Blickfeld weitgehend verschwunden, aber einige seiner Schüler erlangten an Orten wie Princeton große Sichtbarkeit und konnten ihre Ideen weitergeben. Wenn man an den Einfluss von Felix Gilbert auf Quentin Skinner denkt oder die Präsenz deutscher und österreichischer Exilanten in Princeton, erkennt man sogar bisher verborgene Verbindungen zwischen der Denkweise der Meinecke-Galaxie vor 1945 an den Schnittstellen von Philosophie und Geschichte und Skinners eigener Prägung der Disziplin seit den frühen 1970er Jahren – auch wenn er in seiner eigenen Darstellung der wichtigsten Einflüsse auf ihn eher Figuren wie Collingwood erwähnt. Man könnte also argumentieren, dass eines der Schicksale der deutschen Geistesgeschichte darin bestand, dass sie zur Geistesgeschichte als solche wurde – ganz im Sinne der meisten von Meineckes Schule, in der übrigens, mit Ausnahme von Hedwig Hintze, nur wenig zu Deutschland geforscht wurde.

Unsere Fragen an die Gesprächspartner rückten hauptsächlich die Ideengeschichte im Sinne Meineckes sowie das Thema das Niedergangs in den Mittelpunkt, etwa im Sinne von Fritz Ringers Der Niedergang der deutschen Mandarine (1969). Aber es ist fair zu sagen, dass viele unserer Interviewten entweder mit Elementen dieser Prämisse nicht einverstanden waren oder sich kritisch mit ihr auseinandersetzten. Martin Ruehl machte besonders deutlich, dass die Periodisierung problematisch ist – die Idee eines Niedergangs um 1933 entspricht einer liberalen Vorstellung der Geistesgeschichte. Die Wirklichkeit der Geistesgeschichte der Nachkriegszeit ist politisch vielfältiger. So gibt es nach 1945 einige Ausnahmen. Ruehl erwähnt an dieser Stelle Hermann Lübbe, Lothar Gall, Ernst Schulin und sogar Wolfgang Mommsen als wichtige Historiker, die die Traditionen der Geistesgeschichte in Deutschland fortführten. In ähnlicher Weise legt Eva Marlene Hausteiner dar, dass die Beschäftigung mit der Ideengeschichte nach 1945 weitergeht, obwohl sie von da an in anderen Fachbereichen beheimatet ist, vor allem in der Politikwissenschaft, und nicht in der Geschichte. Wie bereits angedeutet, findet Martin Jay, dass der preußische Mandarin zu sehr im Zentrum unserer Geschichte steht und dass diese eigentlich breiter angelegt sein müsste. Wenn man sie erweitern und zum Beispiel die österreichischen Intellektuellen miteinbeziehen würde, müsste sich dementsprechend auch die Rahmung ändern – vor allem, wenn es um den Einfluss der österreichischen Intellektuellen auf das ökonomische Denken geht. Aber auch dies überschreitet die Grenzen der Geschichte und ihrer unmittelbaren Teilgebiete. Wilfried Nippel argumentiert, dass die Meinecke-Galaxie mit ihrer Beschäftigung mit dem Historismus bereits vor dem Aufstieg der Nazis ein isoliertes Phänomen im deutschen und österreichischen Geistesleben gewesen sei. Er gibt an, dass sich die meisten Wissenschaften bereits in den 1920er Jahren „enthistorisiert“ hätten, wobei Schmoller von der eher theoretisch orientierten Wiener Schule etc. verdrängt wurde.

Der Begriff „fortunes“ im Titel verweist auch auf den Prozess der Schicksalsdeutung im Sinne von „fortune telling“ (Wahrsagerei), die ja ein Geschäft ist, bei dem es nur scheinbar um das Voraussagen einer vorbestimmten Zukunft geht, sondern eher um ein Gespür für die Gedanken und Erwartungen derjenigen, die sich die Zukunft von den Händen ablesen lassen wollen. Mit anderen Worten: Selbst wenn man sie rückwärts liest, verlaufen die Schicksale der deutschen Geistesgeschichte aus unterschiedlicher Sicht in verschiedene Richtungen.

 

JK & AS: Die Geschichte Ihres Films erstreckt sich zwar über das gesamte 20. Jahrhundert, aber die Machtergreifung des Nationalsozialismus markiert natürlich einen großen Einschnitt in der Erzählung. Wie Sie im Film sagen, Dr. Gusejnova, war 1945 „die gesamte Bandbreite der Wissenschaften durch das Nazi-Projekt kompromittiert“ [3:47]. Einige der Interviewten betonen im Film, dass die deutsche Geistesgeschichte nicht einfach vom NS-Regime unterbunden wurde. Welche Methoden und Ansätze der Geistesgeschichte konnte der NS übernehmen?

DG: Das ist ein beunruhigender Aspekt dieser Geschichte. Aus erzählerischer Sicht hat man gewissermaßen die Erwartung, dass es mit der Auswanderung und von jüdischen bzw. regimekritischen Intellektuellen in Deutschland mit der Geistes- und Ideengeschichte vorbei ist. In unserem Film argumentiert Martin Ruehl aber, dass auch in der Zeit des Nationalsozialismus Geistesgeschichte betrieben wurde. Was aus Deutschland verschwindet, ist natürlich der kosmopolitische Geist von Burckhardts liberalen Bewunderern wie etwa Ernst Cassirer. Martin Ruehl unterstreicht aber, dass einige der führenden Nazi-Ideologen tatsächlich auf ihre eigene Art Geistesgeschichte betrieben. Sein Beispiel ist Volk im Werden, die von Ernst Krieck und Alfred Baeumler herausgegebene Zeitschrift, in der „Blut und Boden“-Ideologie mit der germanisch-europäischen Kultur- und Geistesgeschichte in Verbindung gebracht wurde. Barbara Stollberg-Rilinger erinnert hier an die Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und der Nachkriegszeit und nennt hier Otto Brunner mit seiner Landeskunde aus geistesgeschichtlicher Sicht als Mitwirkenden an Kosellecks Geschichtlichen Grundbegriffen. Der Einfluss Carl Schmitts auf Koselleck ist auch erwähnenswert. Schmitts Denken über den Raum als geistesgeschichtliche Kategorie steht zweifellos in der Tradition der Geistesgeschichte, die unter dem NS-Regime aufblühte. Die NS-Ideologen bedienten sich einer bestimmten Art von regimefördernder Interdisziplinarität, in der unter anderem auch Ansätze aus der Geistesgeschichte ihren Platz hatten. Mich erinnert das an Raymond Geuss, der gerne betont, wie viele Neo-Kantianer zu glühenden Nazis wurden, trotz des Bildes, das sich aus Büchern wie Peter Gordons Continental Divide ergibt, die den Neukantianismus gerne mit den Gegnern des Nationalsozialismus verbinden. Es wäre schön, wenn die Geistes- und Ideengeschichte eine moralisch kompromisslose Genealogie hätte, aber dem ist nicht so, und auch vermeintliche Wendepunkte, an denen bestimmte Traditionen auf Abwege geraten, scheinen heute gar nicht mehr so eindeutig zu sein.

 

[Fortsetzung mit Teil II hier]

 

Richard Bourke ist Professor of the History of Political Thought an der University of Cambridge. Er hat zahlreiche Publikationen zur Geistesgeschichte der Aufklärung und der Post-Aufklärung sowie zur politischen Theorie veröffentlicht.

Dina Gusejnova ist Assistant Professor in Modern European History an der LSE. Sie hat über deutsche Geistesgeschichte und politisches Denken in europäischen und globalen Kontexten veröffentlicht.

Jonas Knatz ist Doktorand am History Department der New York University. Er arbeitet momentan an einer Dissertation über die Geistesgeschichte der Automation in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anne Schult ist Doktorandin am History Department der New York University. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Schnittstelle von Migration, Recht, und Demographie im Europa des 20. Jahrhunderts.

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