theorieblog.de | Wider den Methodenzwang? Krise, Kritik und politische Theorie

3. März 2021, Clemens

Lesenotiz zu „Kritik in der Krise. Perspektiven politischer Theorie auf die Corona-Pandemie“, herausgegeben von Clara Arnold, Oliver Flügel-Martinsen, Samia Mohammed und Andreas Vasilache

 

Vor ungefähr einem Jahr überraschte der politische Theoretiker Giorgio Agamben mit der Behauptung, dass es sich beim Corona-Virus um kaum mehr als eine Grippe handle (vgl. The Invention of an Epidemic). Wenig später ergänzte er diese uninformierte Einlassung um die dystopische Diagnose, dass in Italien fortan lediglich das nackte Leben zähle (vgl. Clarifications). Es folgte in diesen ersten Monaten der Pandemie eine Debatte, in der Agambens Behauptungen von verschiedenen Theoretiker*innen zwar zurecht zurückgewiesen wurden, die jedoch häufig in oberflächlichen ad-hoc-Beiträgen bestand. Der vorliegende Sammelband situiert sich in dieser Anfangsphase und nimmt vielfach (produktiv) auf Agamben Bezug. Dabei ist er jedoch einem stärker reflexiven Ansatz verpflichtet und plädiert – trotz der gegebenen Schwierigkeit einer pandemischen Situation – für die Notwendigkeit von politiktheoretischer Kritik.

 

Zur Fabrikation und Katalyse von Problemkomplexen

Einen der vier Teile des Sammelbandes bestimmt ein Phänomenbereich, der erst durch die Krise produziert bzw. relevant wurde. Dabei lässt sich erstens auf ein besonderes Spannungsfeld zwischen Legalität und exekutiv-privatrechtlicher Faktizität hinweisen, das Vasilache (61-72) in der Debatte um die Einführung eines Immunitätsausweises erblickt. Evident in negativen Infektions- bzw. positiven Antikörpertests, kam es trotz einmütiger öffentlicher Ablehnung zur faktischen Einführung. Im Sinne Derridascher Gesetzeskraft sei die Inaugurierung gerade „aufgrund institutioneller Unverfügbarkeit“ (67) möglich. Als Mittel der Be- und weniger Entrechtung könne jedoch schwerlich von einer ausnahmezuständlichen Konstitution die Rede sein (so u.a. von Agamben argumentiert). Zweitens ist eine spezifische Form sprachlicher Einhegung zu beobachten. Um einem Regress ins Autoritäre vorzubeugen, gelte es hierbei, wie Pasler (49-60) herausarbeitet, die Verwendung von Kriegsmetaphorik zu vermeiden. Schließlich bestünden die Gefahren in Depolitisierung, (blinde) Staatslegitimation oder Abwertungsmechanismen zu verfallen, permanent. Drittens trete derzeit eine symptomatische Vorstellung von Normalität auf, die in verschiedenen Beiträgen thematisiert wird und sich etwa in der Forderung nach der Rückkehr zur Normalität manifestiert. Hier werde, wie Jonas (17-32) analysiert, das Zuhause als „pauschale Sicherheitszone“ (24) zur Blackbox verklärt, wodurch nicht-privilegiertes Krisenerleben verdeckt und Machtverhältnisse reproduziert würden. Die Maßnahmen, die zur Rückgewinnung der Normalität ergriffen werden, beruhen außerdem, so Mohammed (33-48), auf einem neoliberalen Freiheitsverständnis. Gleichzeitig scheinen im Alltag (Jonas) sowie dem Aufzeigen gemeinsamer Vulnerabilität (Mohammed) auch Potentiale für die Thematisierung von Problemen bzw. einer emanzipatorischen Praxis angelegt. Ähnliches legt Marschners Beitrag (165-182) nahe. In Bezug auf Kontinuitäten und Differenzen von Corona- und Klimakrise weist er auf (dualistische) Fehlschlüsse hin, die die konstitutive Verwobenheit von Natur und Kultur/Gesellschaft negieren. Statt einer Rückkehr zur Normalität, sieht er für beide Krisen die „Notwendigkeit einer Systemtransformation“ (178).

Dass die Krise nicht nur neue Phänomene erzeugt, sondern auch bestehende (ungleiche) politische und soziale Verhältnisse verstärkt, legt ein weiterer Teil des Buches nahe. Besonders augenfällig wird dies anhand Maldous Analyse (151-164), die mit Blick auf Syrien aufzeigt, wie in dem kriegsgebeutelten Land Corona-Krise und wiedergewonnene Souveränität des Assad-Regimes die Produktion von nacktem Leben (Agamben) befeuern. Auch die Krise der Männlichkeit und der damit einhergehende Verlust von Privilegien werden aktuell von weiteren Verunsicherungserfahrungen begleitet. Weiher (133-150) sieht hierin den Grund für die stärkere Affinität von Männern zu Verschwörungstheorien. So reduzieren sie komplexe Sachlagen (und entstandenen Verunsicherungen) auf einfache Antworten und konkret benennbare Schuldige.

 

Ein neues Vokabular in der Krise

Die Entwicklung eines präzisen Vokabulars bzw. einer differenzierten Konzeptualisierung bestimmt einen weiteren Teil des Bandes, der vor allem Regierungstechniken kritisch in den Blick nimmt. Die Differenzierung des Ausnahmezustands gegen, für und durch die Demokratie bildet etwa den Ausgangspunkt von Ramadani (73-86), der die Krisenpolitik zunächst als Ausnahmezustand für die Demokratie deutet. Duncker (87-102) differenziert die Diagnose von der Biopolitik zu einem Corona-Dispositiv, das die Verschränkung von Biopolitik, Disziplin und Souveränität anzeigt. Differenzierungen solcher Art erlauben eine situative Maßnahmenkritik, zeigen aber auch Anknüpfungspunkte für eine emanzipatorische Politik auf. So beobachtet Ramadani eine Revitalisierung der bzw. einen Ausnahmezustand durch die Demokratie, während Duncker für eine universelle Biopolitik von unten plädiert, die den Personenkreis, der von den Vorzügen biopolitischer Existenzsicherung erfassten, in dezentral-demokratischer Weise erweitert. Die Beiträge von Klement (103-116) und Tiefenthal (117-130) machen deutlich, dass die aktuellen Politiken sich in wenig überraschenden Krisenmaßnahmen erschöpfen und problematisieren Gefahren für die politische Selbstgestaltung. Nach Klement seien die aktuellen Maßnahmen durch eine Angstideologie angetrieben und liefen somit Gefahr sich in den Modus einer autoritär-funktionalen Schutzvernunft zu begeben. Tiefenthal hingegen sieht die (unzureichenden) Reaktionen westlicher Gesellschaften in einigen westlich-demokratischen Grundannahmen begründet; d.h. in biopolitischen Dimensionen oder animistischen Narrativen, die zwischen Allmachtsphantasien und Unterordnungszwang changieren. Final deutet er die Notwendigkeit der Demokratisierung von Wissen(schaft) an. Thematisch daran anknüpfend widmet sich der letzte Teil universitären bzw. wissenschaftstheoretischen Fragen. Ob nun die Zeit (kontingenztheoretischer) Wissenschafts- und Wahrheitsskepsis abgelaufen sei und das naturwissenschaftliche Erkenntnismodell als alternativlos gelten müsse, fragt Flügel-Martinsen (183-196). Verneinend pointiert er die Notwendigkeit kritischer Reflexion. Eine hier ansetzende politische Theorie müsse die kritische Begleitung von „gegenwärtiger Entwicklung, Entscheidung und Beurteilungsmaßstäbe“ (193) sein sowie diagnostisch Machtasymmetrien in den Blick nehmen. Ausgehend von leibphänomenologischen Überlegungen spürt Arnold (197-207) der Rolle von Präsenz im universitären Kontext nach und weist dessen Notwendigkeit als Weltverhältnis auf. Im Anschluss an Butlers Recht zu Erscheinen und Demicovićs Kritik am Umbau der Hochschule verweist sie auf die politische Bedeutung „körperlicher Anwesenheit als Bedingung des Einspruchs“ (206) bzw. politische Grundbedingung.

 

Wider den Methodenzwang?

Auch wenn die Analysen des Sammelbandes sich auf einem hohen Niveau befinden, liegt das Bemerkenswerte in der Pluralität der methodisch-theoretischen Zugänge. Hiermit gelingt es, ganz im Sinne des von Theodor W. Adorno ausgegebenen Ziels der Kritik, naturalisierte Selbstverständlichkeiten zu hinterfragbar und Gewordenheit sichtbar zu machen. Die Autor*innen schlagen multiperspektivisch Schlaglichter in das komplexe Krisengeschehen. Dem sich schnell wandelnden Gegenstand ist es geschuldet, dass sich einige Beiträge heute mit veränderter Erkenntnislage konfrontiert sehen würden (etwa in neueren Studien zum Charakter der Coronaleugner*innen).

Da die Kommentierung eines Sammelbandes naturgemäß den einzelnen Beiträgen kaum gerecht wird, beschränke ich mich im Sinne reflexiver Kritik in der Würdigung dieses ausgezeichneten Sammelbandes auf drei Denkanstöße und eine allgemeinere Überlegung. Gerade in der Krise ist Kritik mit der Frage konfrontiert, für wen sie spricht. Mögliche Fallstricke sind hierbei das paternalistische Sprechen für bzw. Homogenisieren von Marginalisierten sowie das Nicht-Berücksichtigen der eigenen Position (Spivak 2006 & Spivak 2008). Daraus ergeben sich Gefahren, auf die zuvor bereits hingewiesen wurde (bspw. Rancière 2010 & 2018 oder Latour 2010). So kann die (theoretisch-wissenschaftliche) Thematisierung von Ungleichheiten diese perpetuieren oder sogar performativ hervorbringen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die ‚Objekte‘ der Betrachtung ohne Reflexions- und Handlungsmacht konstituiert werden. Außerdem scheint vielen Beiträgen ein Moment der Hoffnung – ein utopischer Überschuss – gemein. Ohne die (vermeintliche) Negativität von Kritik attackieren zu wollen (schließlich läuft doch ‚konstruktive‘ Kritik Gefahr ins Unkritische abzurutschen, wie Adorno bemerkt), ist der konkrete Weg vielfach aus der Theoretisierung ausgeschlossen – weitere Reflexion könnte hier ansetzen. Auch wenn alle Beiträge stets um eine umfassende Theoretisierung bemüht sind, erscheinen Natur und (Natur)Wissenschaft gelegentlich als Blackbox. Dies möchte ich nutzen, um auf einen allgemeinen Punkt hinzuweisen, der bereits in einigen Beiträgen aufscheint: Wie Wissenschaftsforschung und neumaterialistische Strömungen nahelegen (z.B. Latour/Woolgar 1979, Knorr-Cetina 1981, Tsing 2015 usw.), bestehen Natur/Technologie und Kultur/Soziales in einer konstitutiven Verwiesenheit. Das Auftreten nicht-menschlicher Wesen verändert Menschen, was wiederum Einfluss auf nicht-menschliche Wesen hat – ‚Soziales’ und ‚Materiellen‘ sind verwoben (hierzu z.B. Haraway 1991). Kritische politische Theorie muss beide Seite der Natur/Kultur-Konstitution in den Blick nehmen und darf sich nicht auf Kultur, Politik und Soziales kaprizieren.

 

Simon Clemens ist studentische Hilfskraft am Forschungs- und Lehrbereich Theorie der Politik (HU Berlin) und studiert im Master Soziologie. Zuletzt erschien der gemeinsam mit Marco Schmandt verfasste Beitrag „Eine Aktualisierung politischer Öffentlichkeit aus Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie“. 


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