„Der junge Habermas“ – ein Interview mit Roman Yos

2019 veröffentlichte Roman Yos Der junge Habermas. Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens 1952-1962 im Suhrkamp-Verlag. Für den Blog des Journal of the History of Ideas (JHI) sprach Jonas Knatz mit dem Autor im Herbst 2020. Mit freundlicher Genehmigung des JHI-Blogs veröffentlicht der theorieblog hier eine deutschprachige und gekürzte Version des Interviews – red.

 

Der junge Habermas ist eine ideengeschichtliche Untersuchung Habermas’ philosophischer Anfänge. Was hat Sie motiviert, Habermas’ frühe Jahre zum Thema Ihres Buches zu machen?

Beim Schreiben des Buchs ging es mir darum, das Gesamtspektrum intellektueller Einflüsse im Frühwerk von Habermas auszumessen. Mein Ansatz war es, die zeitgenössische Rezeption der Aufsätze und Bücher von Habermas zu untersuchen und natürlich das textliche Material als solches. Welche Denkströmungen waren darin verarbeitet worden?

Dabei zeigte sich, dass etwa die Namen Horkheimer und Adorno im Frühwerk weit weniger zu finden sind als man zunächst vermuten würde. Bereits während seiner Studienzeit in den frühen 50ern war Habermas ein unabhängiger Denker mit eigenen Ideen und Problemstellungen, was sich zum Beispiel in der Vielzahl feuilletonistischer Artikel aus dieser Zeit spiegelt. Mir ging es darum, die in der Habermas-Rezeption unterrepräsentierten intellektuellen Anstöße, wozu auch Lektüren und politische Ereignisse gehören, besser ins Bild zu setzen. Meines Erachtens wird dadurch überhaupt erst plausibel, warum man Habermas nicht einfach als einen Epigonen der Frankfurter Schulhäupter betrachten sollte.

In der Einleitung stellen Sie fest, dass Jürgen Habermas’ Werk keine generationsverbindende Theorie- und Leseerfahrung darstellt wie etwa die Bücher von Michel Foucault oder Theodor W. Adorno. Trotz seines Status als „Klassiker“ der Sozialphilosophie und der zahlreichen Einführungen in sein Werk hat Habermas’ Werk weder rivalisierende Interpretationsschulen, die sich um die richtige Lesart seiner Philosophie streiten, noch eine Historiographie seiner Ideen ausgelöst, wie Sie betonen. Wie erklären Sie sich diese (fehlende) Rezeption von Habermas’ Werk?

Man muss sich klarmachen, dass die deutschsprachige Rezeption des Habermas’schen  Oeuvres durch „Achtundsechzig“ ungemein aufgeladen wurde. Rivalitätsgefechte, die sich auf Schülerschaft, Rezeptionen, gegensätzliche Lesweisen usw. beziehen, sind aus dem philosophischen und sozialwissenschaftlichen Tagesgeschäft nicht wegzudenken. Nicht selten sind sie aber auch das Produkt einer nachträglich politisierten Rezeption. Wenn ich recht sehe, kann man ähnliche Politisierungseffekte auch in der Ende der 60er einsetzenden angloamerikanischen Rezeption zu Habermas beobachten, an der die New Left ja maßgeblichen Anteil hatte. Dort war das Rezeptionsmuster einer Schul- und Generationenfolge Kritischer Theorie, die in zweiter (heute in dritter und vierter) Generation fortsetze, was sich Horkheimer & Co. Mitte der 30er Jahre auf die Fahnen geschrieben hatten, sogleich omnipräsent.

Verständlicherweise hat dies zunächst einmal zur Einordnung des Habermas’schen Werkes als „Critical Theory“ geführt. Die heute anhaltende Umstrittenheit in der Rezeption des Habermas’schen Wirkens wie auch generell der „Critical Theory“, nicht zuletzt aber auch die Tatsache, dass Habermas als kritischer Zeitgenosse noch immer Stellung bezieht, mögen Gründe dafür sein, warum manche ihn eher im Range eines vorläufigen Anwärters auf einen Status als „Klassiker“ sehen. In anderen Teilen der Welt, die weniger unter dem Eindruck des „westlichen Marxismus“ standen, wird diese Frage meiner Wahrnehmung nach mit weniger Fragezeichen versehen. Im Allgemeinen ist es aber durchaus vorstellbar, dass der Theoriehunger ständig nachwachsender Studentengenerationen durch griffigere Autoren (wie eben Adorno oder auch Foucault) gestillt wird. Und zugegeben: als zitierfähiges und transportables Taschenbuch taugt die „Theorie des kommunikativen Handelns“ wie auch das noch umfangreichere neue Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ nur bedingt. Meiner Ansicht nach lässt sich aber vom heutigen Standpunkt aus schwer einschätzen, in welche Richtung sich die Rezeption auf längere Sicht entwickeln wird – ob Habermas’ Rolle als politischer Intellektueller, ob eher sein Werk, einzelne Bücher oder gar nur seine auf Dauer einprägsamsten Begriffe im Gedächtnis haften werden.

Ihre Ideengeschichte von Habermas’ Frühwerk verfolgt zwei miteinander verflochtene kritische Anliegen: sie warnt vor einer retrospektiven, synthetisierenden Lektüre, die die Ambivalenzen, Wendungen und Widersprüche in seinem Werk übergeht, und vor einer Lesart, die seine Philosophie allzu bereitwillig mit der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse in Verbindung bringt. Habermas‘ philosophisch prägende Jahre in Bonn scheinen diese beiden Thesen zu unterstützen: Habermas war Schüler Erich Rothackers und Oskar Beckers, die beide den Nationalsozialismus unterstützten und deren Philosophie sich stark von der Frankfurter Kritischen Theorie unterschied. Wie würden Sie deren Einfluss auf Habermas‘ Frühwerk beschreiben?

Als Habermas Anfang 1956 nach fünf Jahren in Bonn als Forschungsassistent Adornos ans Frankfurter Institut für Sozialforschung wechselte, kam er dort mit jenen intellektuellen Denkströmungen in Berührung, die in Deutschland infolge der erzwungenen Emigration kaum mehr präsent waren. Dieser Ortswechsel offenbarte so etwas wie ein Kontrastprogramm zum konservativen Klima der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität, an der bestimmte Denktraditionen wie Neukantianismus, Logischer Positivismus, Psychoanalyse oder ein sozialphilosophisch gewendeter Marxismus keine nennenswerte Bedeutung hatten.

In gewisser Hinsicht standen die beiden für Habermas wichtigsten Bonner Philosophieprofessoren Erich Rothacker und Oskar Becker noch für diesen etwas angestaubten Rezeptionshorizont: Psychologie ohne Psychoanalyse, Phänomenologie ohne Wissenssoziologie, um nur zwei Beispiele für die Ausdünnung der Professionen zu nennen, die während der NS-Zeit stattgefunden hatte. Zudem waren Rothacker und Becker wenige Jahre zuvor – jeder auf seine Weise – nationalsozialistisch engagiert und aufgrund dieses Engagements zwischenzeitlich vom Universitätsgeschehen suspendiert.

Als Habermas zu Beginn der 50er Jahre in Bonn studierte, war das Kapitel der Entnazifizierung aber bereits wieder abgeschlossen, auch für Rothacker und Becker. Dass damals noch dieselben Professoren lehrten wie in den Jahren von 1933 bis 1945 gehörte demnach nicht nur in Bonn zur Normalität. Kritische Stimmen nutzten daher das Schlagwort “Restauration”, um auf diesen Umstand hinzuweisen. Mit den Professoren aber sprach man nicht über Politik, und über Kultur nur wenn man ein geistesgeschichtliches Interesse erkennen ließ.

Wissenschaftlich gesehen beeindruckte Rothacker nicht nur durch seine breite kulturhistorische Bildung, er war auch bestens vertraut mit den philosophischen Denkströmungen, die in den ausgehenden 20er Jahren starken Zuspruch erfahren hatten: mit Phänomenologie, Hermeneutik, Philosophischer Anthropologie. Als Psychologe brachte er zusätzliches Wissen aus der empirischen Kultur- und experimentellen Verhaltensforschung mit. Außerdem war er der Entfaltung des Nachwuchses gegenüber aufgeschlossen: an seinen Seminaren nahmen auch Karl-Otto Apel, Otto Pöggeler, Hermann Schmitz u.a. teil. Aus Rothackers (von Wölfflin herstammendem) Begriff des „Lebensstils“, der auf die Ausbildung einer (kritischen) „Haltung“ gegenüber dem kulturellen Geschehen abzielte, versuchte Habermas eine zeitlang einen kulturkritischen Ansatz zu entwickeln.

Das kann man etwa in seinem damals ersten Merkur-Beitrag von 1954 erkennen kann. Als „Dialektik der Rationalisierung“ betitelt, weckt dieser fulminante Text noch immer Assoziationen in Richtung „Dialektik der Aufklärung“ – eine falsche Spur, wie ich im Buch zu zeigen versuche. Im Seminar Beckers, dem ehemaligen Husserl-Schüler und Bewunderer Heideggers, fasste Habermas den Entschluss, sich ausgiebiger mit Schelling zu befassen und machte dieses Thema zum Gegenstand seiner Promotionsschrift „Das Absolute und die Geschichte“. Becker, der als Logiker und Mathematiker bewandert und vermittelt über Paul Lorenzen auch einigen Einfluss auf die Ausbildung des Erlanger Konstruktivismus hatte, war im Vergleich zu Rothacker eine sehr zurückhaltende Persönlichkeit. Vermutlich wusste kaum jemand, dass Becker noch wenige Jahre zuvor seine rassetheoretischen Überzeugungen publiziert hatte.

Obwohl sich Habermas über beide Philosophen nur ganz verstreut geäußert hat, ganz ohne Einfluss auf sein eigenes Denken waren sie nicht. Rückblickend würde ich sagen, dass er sich im Verlauf der 50er Jahre von diesem Einfluss emanzipiert hat, ganz ähnlich wie das bei Heidegger der Fall war.

Angesichts von Habermas oft polemischen Angriffe auf Martin Heidegger ist es überraschend, wie sehr er sich anfangs auf ein heideggerianisches Vokabular stützte. In seinen ersten Artikeln für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung macht sich Habermas sogar Heideggers apologetische Argumente für die „Vernehmung“ als die richtige, passive philosophische Haltung für die Nachkriegszeit zu eigen. Zudem schließt er sich dem Freiburger Philosophen in dessen Kritik an der Entfremdung durch Technik an. Ein wichtiger Wendepunkt in dieser Beziehung scheint das Jahr 1953 zu sein. In diesem Jahr liest Habermas Heideggers Einleitung in die Metaphysik, die die „innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung lobt. Sie argumentieren, dass Habermas nach dieser Lektüreerfahrung eine politische Distanz zu Heidegger herstellte, aber dass er zunächst nicht vollständig mit dessen Philosophie gebrochen hat. Wie würden Sie Habermas‘ frühe Kritik an Heidegger beschreiben und wie zentral war Heideggers begrifflicher Apparat für seine frühe Philosophie?

Hinter Formeln wie „Submission unter das Höhere“ oder eben auch der der „vernehmenden Haltung“ verbergen sich Denkmotive, die Habermas eine gewisse Zeit über Orientierung boten. Sie halfen, die politische Gegenwart zeitdiagnostisch zu verabeiten. Einige dieser frühen zum Teil nur in seinen journalistischen Arbeiten zu findenden Denkmotive sind später verloren gegangen, andere wurden ersetzt oder in neue Theorieansätze umgegossen. Manche sind aber auch bis heute bestimmend geblieben: zum Beispiel die ‚gebrochene Haltung‘ im Umgang mit nationalen Traditionsbeständen. Auch jene Formel vom „Ohne mich“, die in den frühen 50ern ein Bekenntnis gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik beinhaltete, bot ihm eine solche Orientierung. Es war eine Art Statement, um sich im Intellektuellendiskurs zu postieren. „Ohne mich“ gehörte zum politischen Habitus so wie heute Me Too oder Fridays for Future. Im Unterschied zur heutigen Zeit war die Nachkriegsepoche allerdings viel stärker vom Bewusstsein des Provisorischen geprägt. Die Demokratie im Westen Deutschlands war noch jung und aufgrund der Vergangenheit waren Befürchtungen ja auch nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Schlagwörter wie das von der „Restauration“ waren Ausdruck jenes Ideenkampfs, bei dem es darum ging, den intellektuellen Gegner bloßzustellen. Heideggers Haltung des „Vernehmens“ schien auf den ersten Blick so etwas wie die Entgegensetzung zu seinem politischen Aktivismus der frühen 30er Jahre darzustellen. Und Habermas deutete Heideggers ‚Gelassenheit‘ zunächst im Sinne eines prinzipiellen Vorbehalts gegenüber dem politischen Zeitgeschehen, das er ja selbst kritisch beäugte. Dabei war er wohl anfangs der Ansicht, dass eine Adaption Heidegger’scher Begriffe – ähnlich wie bei Rothackers Stilbegriff – ganz nützlich sei, um die eigene Kritik des kulturellen Zeitgeistes scharf zu stellen. Das änderte sich jedoch als Habermas deutlich wurde, dass sich hinter Heideggers gewandelter Sichtweise persönliche Entlastungsmotive verbargen: Die NS-Bewegung als Symptom eines Zeitalters der „planetarischen Technik“ zu deuten, das hieß die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsordnung einzuebnen. „Abstraktion durch Verwesentlichung“ hat Habermas diese (selbst)entlastende Wendung Heideggers zu späterer Gelegenheit bezeichnet.

Ich interpretiere Habermas’ dahingehende Einsicht, die mit der Kontroverse um Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ im Spätsommer 1953 beginnt, nicht als ein plötzliches Umschwenken, sondern eher im Zusammenhang eines länger andauernden Ablösungsprozesses, der durch die Kenntnisnahme der einschlägigen Textstelle zwar in Gang gesetzt, aber nicht schon vollends abgeschlossen war. Im Buch spreche ich daher mit Blick auf Habermas’ Heideggerbild von einer „Rezeption im Schwebezustand“. Erst 1957 im Rahmen seiner ausgiebigen Befassung mit Marx und seinen zeitgenössischen Interpreten machte er dann sehr deutlich, inwiefern die an eine Logik des Absoluten rückgekoppelte „vernehmende Haltung“ zugunsten eines geschichtlichen Bewusstseins ins Leere lief. Denn wenn es tatsächlich einen der Geschichte eingeschriebenen Sinn geben sollte, so konnte dieser nicht einer „Seinsgeschichte“ abgelauscht werden, sondern musste aus praktischer Vernunft begründet und zugleich verwirklicht werden. Man kann also sagen, dass Habermas spätestens hier begann, mit Kant und Marx gegen Heidegger zu denken, was etwas grundsätzlich anderes ist, als ‚mit Heidegger gegen Heidegger‘ zu denken.

1956 wurde Habermas Theodor W. Adornos persönlicher Assisent in Frankfurt. Ihr Buch warnt davor, Habermas voreilig mit der Kritischen Theorie zu assoziieren. Inwiefern unterscheidet sich Habermas’ Werk von der Philosophie, die am Institut für Sozialforschung während seiner Zeit als Adornos Assistent entwickelt wurde, und warum wird er gemeinhin als philosophischer Erbe der Frankfurter Schule verstanden?

Man wird schlecht behaupten können, dass Habermas in dieser frühen Lebensphase schon eine ausgebildete eigene Philosophie gehabt hätte. Er war in den späten 50ern am Institut für Sozialforschung hauptsächlich mit Fragen empirischer Soziologie und am Rande auch mit Hochschulpolitik befasst. Nebenbei hat er „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ geschrieben, sein erstes Buch, bei dem man sich darüber streiten könnte, ob es eine Philosophie in nuceenthält. Aber wie auch immer, es gibt bei Habermas konkrete Ansätze philosophischer Problemstellungen und Versuche ihrer Lösung auch schon vor seinem Wechsel nach Frankfurt. Hans Paeschke etwa (einer der Herausgeber des Merkur) hat das schon Anfang 1954 bei Habermas im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Essay „Dialektik der Rationalisierung“ bemerkt. Da gibt es einen Brief, in dem er Habermas bewundernd voraussagt, dieser werde später einmal eine Philosophie schreiben. Worauf Habermas damals mit dem Begriff „soziale Rationalisierung“ hinauswollte, ist eine Einhegung der technischen wie der ökonomischen Rationalisierung. Gleichzeitig aber sollte das Band, das Fortschritt und Vernunft verbindet, nicht zerrissen werden. „Soziale Rationalisierung“ ist zunächst ein Problemtitel genauso wie etwas später der des „kommunikativen Handelns“, den Habermas Mitte der 60er Jahre lange vor seiner Ausarbeitung der „Theorie des kommunikativen Handelns“ einführt. Auch Habermas’ aktuellere Überlegungen in „Auch eine Geschichte der Philosophie“ berühren diesen systematischen Zusammenhang, der ohne einen komprehensiven Begriff der Vernunft nicht zu denken ist. Man kann also sagen, dass das Bestreben, gesellschaftliche Dynamiken selbst dort noch in den Griff zu bekommen, wo sie als verselbständigte menschlichem Zugriff enthoben scheinen, zu Habermas’ frühesten Denkbemühungen gehört. In systematischer Hinsicht ist das bis heute zentral, und zwar auch im Blick auf die demokratietheoretischen Implikationen, die das hat. Letztlich steht hinter all dem immer noch der Anspruch des Therapeutischen, bei dem es darum geht, die “aus den Fugen geratene Welt” trotz des ständigen Komplexitätszuwachses offen gegenüber korrigierenden Eingriffen zu halten. Und auf ebendieser der Systemtheorie gänzlich fremden Ebene philosophischen Denkens lässt sich eine Verbindung zwischen Habermas und Adorno nicht verleugnen.

Könnte man sagen, dass Horkheimers Kritik an Habermas’ Philosophie als einem Versuch, Herrschaft zu rationalisieren, aber nicht abzuschaffen, in nuce die Differenz zwischen seiner Philosophie und der Kritischen Theorie enthält?

Die Frage ist suggestiv. Aber ja, wenn man einschränkend nur nach der politischen Philosophie fragt, dann könnte man genau so antworten. Die prinzipielle Abschaffung von Herrschaft ist, wenn man das vom Modus des Vorgehens her betrachtet, etwas anderes als Herrschaft zu rationalisieren. Nur ist hiermit eben noch nichts über die konkrete Umsetzung dieser Ausgangsmotive gesagt. Und was am Ende stehenbleibt, weiß man auf der theoretischen Abstraktionshöhe auch nicht.

Wie genau etwa soll das politische Gemeinwesen aussehen? Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob Horkheimer und Habermas sich in verschiedenen Stadien ihres Lebens hätten beispielsweise auf die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln einigen können. Wir müssen mitbedenken, was das generationsgeschichtlich bedeutet? Horkheimers Verständnis dessen, was er unter Kritischer Theorie verstand, war ja selbst einem Wandel unterworfen, der historischer Erfahrung entsprang. Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Exil, Bundesrepublik: das sind sehr spezifische Erfahrungshintergründe, mit denen das Denken konfrontiert ist. Aber wo liegt der Schwerpunkt einer Theorie? Wenn man konsequent historisiert, geht einem schnell abhanden, was man für den theoretischen Kern dieser oder jener Theorie halten könnte. Was ist kritische Theorie? Schon eine Akzentuierung dieser Frage etwa hinsichtlich der Schreibweise (mit großem oder kleinem „k“) birgt im deutschsprachigen Diskurs einige Spannungen. Die im englischsprachigen Diskurs ungleich wirksamere Generationsgliederung wiederum verleitet dazu, kurzerhand darüber hinwegzugleiten.

Eine politische Philosophie im engeren Sinne sehe ich bei Horkheimer aber nicht. Wenn ich mich nicht täusche, hat er nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik nichts mehr in diese Richtung veröffentlicht. Dafür hatte er natürlich sehr nachvollziehbare Gründe. Eine von Habermas’ früheren Arbeiten, die Einleitung zu „Student und Politik,“ die Horkheimer missfiel, trägt ja den vielsagenden Titel „Zum Begriff der politischen Beteiligung“. Habermas fragt sich dort u.a., ob und wie man den demokratischen in einen sozialen Rechtsstaat transformieren könnte. Auch wenn Horkheimer marxistische Revolutionstheorie witterte: es war wohl doch eher ein radikaler Reformismus, der Habermas’ Frage motivierte.

Die philosophische Distanz zwischen Habermas und dem Institut für Sozialforschung zeigt sich auch darin, dass Habermas’ Konzept des ‚kommunikativen Handelns‘ aus philosophischen Quellen schöpft, die normalerweise nicht mit der Frankfurter Kritischen Theorie in Verbindung gebracht werden. Sie erwähnen explizit Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Arbeit, Herstellen und Handlung, Arnold Gehlens Begriff der Handlung und Karl Jaspers’ Begriff der existentiellen Kommunikation als Inspirationen für Habermas‘ Konzept des „kommunikativen Handelns“. Insbesondere Jaspers scheint ein wichtiger Einfluss auf Habermas‘ Theorie der Kommunikation gewesen zu sein. Könnten Sie dies näher erläutern?

Auch dies sind natürlich – jede für sich – komplizierte Beziehungsgeschichten. Geht man vom Begriff des kommunikativen Handelns aus, dann lieferten sowohl Arendt und Jaspers als auch Gehlen wichtige Anstöße für Habermas. Werkgenetisch betrachtet muss man sich diese begriffliche Vorgeschichte in etwa so vorstellen, dass es Habermas zum Ende der 50er um einen ‚Weltbegriff‘ der Philosophie geht, wie er bei Kant skizziert ist: ein Weltbegriff, „der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“.

Dieser frühe Versuch, den praktischen Weltbezug von Philosophie herauszuarbeiten, sieht so aus, dass es um „Weltbezüge des Handelns“ geht. Dabei bilden die Kollektivsingulare „Mensch“ und „Geschichte“ zentrale Bezugsgrößen einer praktischen Vernunftkonzeption, in der Welt von vornherein als „Mitwelt“ thematisch wird. Was den Vernunftbegriff angeht, so zeigt sich hier zum einen ein Erbe Kants, was in „Strukturwandel der Öffentlichkeit,“ wo Publizität für die Öffentlichkeit der Vernunft einsteht, auch relativ offensichtlich ist. Bei Jaspers, dessen eigene Bemühungen in der Nachkriegsperiode stark auf Kant Bezug nehmen, findet sich eine Form von Intersubjektivismus, der noch metaphysisch eingehegt ist, weil Kommunikation hier nur indirekt über die Annahme eines „Umgreifenden“ stattfindet, das die Verbindung der Kommunizierenden untereinander garantiert. Jaspers zufolge existiert Vernunft nur in Kommunikation. Nicht umsonst gilt er in der Nachkriegszeit als derjenige, der den Weg „kommunikativer Wahrheit“ beschritt. Er war einer der wenigen, die sich über die gegenwärtige Rolle der Philosophie Gedanken machten. Schon allein das trennte ihn von vielen seiner philosophischen Kollegen, die sich lieber der philologischen Aufbereitung antiker oder klassisch deutscher Philosophie widmeten. Es ist nicht ganz abwegig, Jaspers’ damalige Rolle als politischer Intellektueller mit der von Habermas zu vergleichen. Im Buch versuche ich außerdem zu zeigen, dass Jaspers’ damalige Interpretation von Schelling für Habermas wichtig war, um das von Heidegger stark beeinflusste Schellingbild, das Habermas zur Zeit seiner Bonner Dissertation hatte, zu revidieren.

Bei Arendt ist es der Akzent des Miteinanders im Handeln, von dem aus sich die Geschicke der Menschheit und ihrer Geschichte ordnen. Gemeinsames Handeln in der Öffentlichkeit – darin ist Arendts Begriff kommunikativer Macht verankert. Diese Verbindung zu Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff dürfte vergleichsweise bekannt sein.

Arnold Gehlen schließlich ist derjenige, der die Handlungsproblematik nüchtern und direkt angeht. Das machte ihn für Habermas interessant. Seine empirische Auffassung von Philosophie war jedoch verbunden mit einem eklatanten Defizit an Sinnorientierung. Aus Habermas’ Sicht fehlte bei Gehlen gerade die intersubjektive Komponente, die bei Jaspers und Arendt vorhanden war. Dass eine institutionell gesicherte Außenleitung der Persönlichkeit (David Riesmann), wie Gehlen sie empfahl, in normativer Hinsicht zielführend sein könnte, bestritt Habermas mit Vehemenz.

Anlässlich des 90. Geburtstags von Habermas im vergangenen Jahr nutzte der amerikanische Philosoph Raymond Geuss das britische Referendum über Brexit als Beispiel, um das Habermas’ Kommunikationskonzept und damit auch sein Konzept der intersubjektive Rationalität anzugreifen. Dieser Angriff provozierte eine Vielzahl von Antworten von Denkern wie Seyla Benhabib, Martin Jay und Michael J. Quirk, die alle darauf hinwiesen, dass Habermas’ Werk ein Schlüssel zum Verständnis des aktuellen historischen Moments ist. Haben Sie diese Debatte verfolgt und was kann Habermas‘ frühes Denken bieten, um unsere aktuelle historische Situation besser zu verstehen?

Geuss’ polemische Meldung ist im Grunde nicht der Rede wert. Schließlich geht es ihm auch gar nicht so sehr um Habermas. Ich lese seinen Beitrag eher als verunglückten Kommentar zum Brexit-Votum und dessen Nachwehen, denn als eine Stellungnahme zum Werk von Habermas. Sicher treibt Geuss auch eine Kritik am Liberalismus. Aber ist es sinnvoll Habermas mit einer Politik in Verbindung zu bringen, die man auf beiden Seiten des Ärmelkanals als liberal bezeichnen kann? Ich glaube nicht.

Nehmen wir nur Geuss’ unbedarfte Behauptung, die Westintegration der Bundesrepublik habe für die „Theorie des kommunikativen Handelns“ den passenden zeithistorischen Rahmen gebildet. Das ist sowohl unter werkgenetischen als auch unter historiographischen Gesichtspunkten eine fadenscheinige Aussage. Wer auch nur ein wenig mit der Historie der Bundesrepublik vertraut ist, weiß, dass Geuss hier Unpassendes passend machen will. Im Endeffekt bleibt nicht sehr viel übrig, worüber sich zu diskutieren lohnt. Geuss kritisiert lediglich, was er für den kommunikativen Kerngedanken von Habermas hält. Seine Vorbehalte beruhen auf der kurzschlüssigen Annahme, Habermas’ Kommunikationsbegriff sei mehr oder minder eine Ausgeburt leeren Sollens. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung oder begründete Kritik sieht anders aus. Wenn man nicht völlig naiv sein möchte, muss man davon ausgehen, dass er jemanden aus der Reserve locken wollte. Aus vergangenen Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Feuilleton kennt man solche Vorstöße zur Genüge. Kluge Professoren äußern sich über die politisch-philosophische Folgenlosigkeit von Habermas, nur um dann bei nächstbester Gelegenheit doch wieder zuzugestehen, dass er selbstverständlich Champions League spiele.

 

Roman Yos ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes der Universität Potsdam. Zur Zeit arbeitet er an einer Monographie über das Problem der Sprache in der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie.

Jonas Knatz ist Doktorand am History Department der New York University. Er arbeitet momentan an einer Dissertation über die Geistesgeschichte der westdeutschen Automation der Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Kommentar zu “„Der junge Habermas“ – ein Interview mit Roman Yos

  1. Eine großartige Arbeit! Es erklärt viele dunkle Punkte in Habermas Gedanken. Für mich ist die wichtigste Frage die Ambivalenz von Haberma und seine Beziehung zu verschiedenen Autoren und Traditionen. Dieser Aspekt spielt tatsächlich eine wichtige Rolle beim Aufbau einer unabhängigen und originellen These.

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