Wie Sicherheit organisieren? Neuanfang zwischen Reform und Revolution

Zwar prägt besonders die Covid-19-Pandemie das Jahr 2020, jedoch erlangte ein weiteres Thema in den vergangenen Monaten viel Aufmerksamkeit: Nachdem am 25. Mai in Minneapolis George Floyd von Polizisten getötet und ein Video des Tathergangs weltweit verbreitet wurde, entfachten nicht nur in den USA Proteste und Debatten über Polizeigewalt und institutionellen Rassismus. Seitdem reißen die Proteste nicht ab und auch hierzulande sind Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Akteure bemüht, das Bewusstsein für institutionelle Erklärungen rassistischer Polizeigewalt zu stärken. Zahlreiche Befunde zu rechtsextremen Strukturen in Teilen der deutschen Sicherheitsarchitektur unterstreichen die Notwendigkeit, sich eines zu vergegenwärtigen: In den Institutionen, die für Sicherheit sorgen sollen, stimmt etwas nicht, wenn man sich fragen muss, für wen das Sicherheitsversprechen gilt und für wen die Polizei eine Bedrohung darstellt. Hier muss etwas neu gedacht und neu gemacht werden – wir brauchen einen Neuanfang. Wie also kann Sicherheit neu organisiert werden? Die Antwortsuche eröffnet das Diskussionsspektrum zwischen Reform (als planmäßiger Umgestaltung des Bestehenden) und Revolution (als radikalem strukturellen Wandel). Dieser Beitrag kommt zu dem Schluss, dass die Polizei nicht reformiert werden kann, sondern abgeschafft werden muss, um ein neues Sicherheitsverständnis zu etablieren. Damit wird an die Forderung des Police Abolition Movements angeknüpft, der Polizei finanzielle Mittel zu entziehen und in andere Strukturen öffentlicher Sicherheit umzuverteilen (‚defund the police‘).

Die Polizei als Rückgrat der Sicherheitsarchitektur hat die Aufgaben Repression und Prävention, verstanden als Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols. Die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols beruht (auch) darauf, die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Wenn das nicht geschieht, sind die zuständigen Institutionen und der Staat an sich zu hinterfragen. Dass dabei das Verhältnis von Sicherheit und Identität nicht zu unterschätzen ist, zeigt die polizeiliche Ermittlungslogik. Polizeiarbeit ist die Durchführung sozialer Kontrolle im Dienste des Staates. Soziale Kontrolle soll Abweichung kontrollieren und normalisieren, um diese in Zukunft zu verhindern. Der polizeilichen Verdachtshermeneutik nach ist jeder Mensch verdächtig, eine potenzielle Gefährdung der Gesellschaft. Die Polizei hat einen Blick auf die Gesellschaft, der Menschen im Sinne des Verdachts der Normabweichung objektiviert – Polizeiarbeit bedeutet, zu kategorisieren.

Diejenigen, die einen Neuanfang der Sicherheitsorganisierung per Reform fordern, sehen darin kein systemisches Problem. Sie möchten vor allem das Narrativ der „schwarzen Schafe“, die es überall gebe, aufrechterhalten. Die schwarzen Schafe müsse man aussortieren, aber die Institution sei unverzichtbar. Hier und da ließen sich Mechanismen und Strukturen reformieren, um Problemfälle besser erkennen zu können. Demnach gebe es zwar Rassist*innen in der Polizei, aber keinen institutionellen Rassismus. Der Begriff besagt, dass Rassismus aufgrund gesamtgesellschaftlicher Zustände in die Institution „eingeschrieben ist, also sich in deren Praxen und Anordnungen systematisch organisiert“. Ein Beispiel für die Wirklichkeit dieser Form des Rassismus ist die katastrophale Ermittlungsarbeit der Behörden im Fall des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), wie Amnesty International präzise formulierte:

„Der Unwillen der deutschen Polizei, dem mutmaßlichen rassistischen Hintergrund der Morde angemessen nachzugehen, […] deutet auf einen zugrunde liegenden institutionellen Rassismus hin. Das soll nicht heißen, dass einzelne Polizeibeamt_innen […] selbst Rassist_innen waren […], sondern dass die Behörden als Institution ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind, Menschen ungeachtet ethnischer Zugehörigkeiten oder rassistischer Zuschreibungen gleich zu behandeln.“

Damit kommen wir zum Kernproblem polizeilichen Handelns: Ungleichheiten gehören zu den Ordnungsprinzipien des Staates, zu den handlungsleitenden Normen. Maßnahmen der Polizei, die diese Ungleichheiten sichtbar machen, stehen nicht im Widerspruch zu den Ordnungsprinzipien des Staates. Deshalb ist nicht vom Rassismus einiger Polizist*innen zu sprechen, sondern vom Rassismus der Polizei. Er ist in der inneren Logik der Polizei als Institution verankert.

Polizeipräsident*innen und -„gewerkschaftler*innen“ sind bereit, über schwarze Schafe zu reden – aber sind nicht diejenigen die schwarzen Schafe, die sich der institutionellen Logik nicht ergeben? Denn genau der/die Polizist*in stellt ein Problem dar, der/die innerpolizeiliche rechte Netzwerke öffentlich macht und den verbreiteten Hang zu Gewaltphantasien kritisiert. Eine Reform der Polizei soll unser Zutrauen steigern. Wir sollen die Ordnungsinstanz des Staates als unsere innere Ordnungsinstanz verstehen und davon überzeugt sein, dass die Polizei richtig handele. Die Reform bestünde nur darin, dass die bestehende Institution durch Aussortierung der Störfälle ihr Bewusstsein ändere. Dann gebe es nur noch gute Polizist*innen. Von einem Neuanfang lässt sich folglich nicht sprechen.

Der Standpunkt derjenigen, die Reformen für illusorisch halten, ist, dass die Logik der Institution Polizist*innen rassistisch handeln lässt. Materialistisch können wir den Staat nämlich in einer dialektischen Bewegung charakterisieren: Er bildet sich aus a) seinen Ordnungshüter*innen und b) den zu Ordnenden. Klassentheoretisch ist der Staat die Aufrechterhaltung der Einheit und des Widerspruchs aus Privateigentum und Proletariat (verstanden als Abhängige, Besitzlose). Nun sollten wir uns Karl Marx‘ und Friedrich Engels‘ berühmten Satz aus der Deutschen Ideologie (S. 27) vergegenwärtigen: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ Daraus abgeleitet ist das Bewusstsein der Polizist*innen als das spezifische Bewusstsein der Polizei zu verstehen, das nicht einfach dem „lebendigen Individuum“ entspringt und das Sein der Polizist*innen formt. Das Sein der Polizei als Polizei formt das Bewusstsein der Polizei. Um dieses Dilemma aufzulösen, ist es erforderlich, den Neuanfang der Sicherheitsorganisierung radikal zu denken.

Marginalisierte Gesellschaftsteile können ihren Status der Marginalisierung und Exklusion nur aufheben, wenn Staat und Polizei als ihre Bedingungen aufgehoben sind. Die Kritik der Polizei muss in etwa so enden, wie für Marx die Kritik der Religion enden muss, nämlich damit, dass das, was an der Religion zu kritisieren ist, in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründet ist, also „mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (S. 385). Soll im gemeinschaftlichen Zusammenleben Sicherheit organisiert werden, muss sie alle umfassen. Deshalb brauchen wir statt der Polizei eine inklusive Sicherheitsstruktur.

Um zu dieser zu gelangen lohnt es sich, sich mit Transformative Justice-Ansätzen und kommunalen Fürsorgesystemen zu befassen, um zu lernen, wie ein positiver, nicht-repressiver Sicherheitsbegriff formuliert werden könnte: Nicht auf staatlicher, sondern auf lokaler Ebene müssen solidarische Beziehungen aufgebaut werden, in denen man sich den Verhältnissen entgegenstellt, die gewalttätiges Verhalten hervorbringen – weg von der Konzentration auf Strafen und Gefängnisse, hin zur Stärkung des Verantwortungsbewusstseins. Es geht um offene Ansätze, denen nicht Kategorisierung und Ausgrenzung zugrundeliegen, die Fehlverhalten nicht individualisieren, sondern gesellschaftlich einbetten. Wir müssen über diesen radikalen Neuanfang reden.

 

Julius Wolf ist Politikwissenschaftler und Blogger aus Halle (Saale).

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