Online neuanfangen? Hannah Arendts Handlungstheorie während der Quarantäne

Hannah Arendts Konzept von Natalität bezieht sich nicht nur auf die natürliche Geburt, sondern auch auf ein Neuanfangen, das ihrer Handlungstheorie entsprechend einen öffentlichen Raum voraussetzt. Da dieser Raum während der aktuellen Corona-Krise zumindest physisch eingeschränkt wird, lohnt es sich, Arendts Handlungstheorie erneut zu betrachten. In vielen Ländern gilt über Monate hinweg das Gebot, zu Hause zu bleiben und den öffentlichen Raum nur dann zu betreten, wenn dies unbedingt notwendig ist. Da viele Tätigkeiten und Aspekte des menschlichen Lebens pausiert wurden, gilt es neue Handlungsweisen zu erkunden. Während viele Alltagsaktivitäten eingeschränkt wurden, bleiben Online-Aktivitäten bestehen, wurden gar notwendiger denn je. Daher erscheint es plausibel, die aktuelle Situation anhand von Arendts Handlungstheorie zu verstehen und den digitalen Raum als möglichen öffentlichen Raum für Neuanfänge zu erkennen. Mein Vorschlag lautet, dass Neuanfänge während der Quarantäne möglicherweise in einem digitalen Raum stattfinden könnten, sofern Arendts Faktum der Pluralität in diesem voll zum Ausdruck kommen kann. Allerdings droht die Vielfältigkeit im digitalen Raum durch Isolierung verschiedener Gruppen von Gleichgesinnten zerstört zu werden.

Arendts Idee des Neuanfangs ist untrennbar mit dem Konzept der Natalität verbunden. Nach ihr befähigt der Umstand, dass es immer wieder Neuankömmlinge gibt, die Menschen dazu, selbst neu anzufangen oder einen neuen Anfang zu initiieren. Die Natalität ist auch als das Zur-Welt-Kommen in eine bereits vorhandene Welt zu verstehen. Natalität wird als ontologische Grundbedingung des menschlichen Lebens verstanden, die eng mit der Fähigkeit des Anfangenkönnens und damit auch mit dem politischen Handeln verknüpft ist. An dieser Stelle sind der Begriff der (politischen) Handlung und die Arendt’sche Definition desselben von Bedeutung, denn wenn das (politische) Handeln im öffentlichen Raum stattfinden kann, nimmt dieses Neuanfangen eine bestimmte Form an. In der Arendt‘schen Handlungstheorie ist neben dem Arbeiten und Herstellen, das Handeln eine menschliche Grundtätigkeit. Mit Handeln ist das zwischenmenschliche Geschehen ohne direkte Vermittlung von Dingen gemeint. Dieses Handeln ist politisch. Eine Demokratie jedoch muss nach Arendts Darstellung einen öffentlichen Handlungsraum besitzen, in dem wir Politik performativ aufführen können.

In diesem Handeln ist das Faktum der Pluralität zu beachten, das durch die Tatsache der Unterschiede zwischen Menschen und dem daraus resultierenden „Zwang“, miteinander in Handlung zu treten, bestimmt wird. Während einer Quarantäne-Situation ist der physische öffentliche Raum äußerst begrenzt; man kann kaum aus den eigenen vier Wänden heraus, kann weder an Podiumsdiskussionen teilnehmen noch sich mit Bekannten treffen, um sich auszutauschen, noch auch nur in einem öffentlichen Raum wahrnehmen, wie andere Menschen in dieser Corona-Situation ihre Identität zeigen. Wir haben einen nur ungenügenden, physischen öffentlichen Raum, in dem wir Politik performativ aufführen können. Dieser Raum, in dem auch Neuanfänge durch Handlungen stattfinden könnten, befindet sich nun vorrangig online. Die Herausforderung, Neuanfänge während einer Quarantäne zu erleichtern, scheint online einen öffentlichen Raum zu schaffen, der menschliches Miteinander ermöglicht. Daher ist es aus handlungstheoretischer Sicht sinnvoll, zu untersuchen, welche Bedingungen ein solcher öffentlicher Raum nach Arendts Auffassung anbieten muss, damit Handlungen vorkommen und Neuanfänge ermöglicht werden.

Die Wirklichkeit des öffentlichen Raums entsteht, so Arendt, nur durch die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Ansichten, „in denen ein Gemeinsames sich präsentiert und für die es keinen gemeinsamen Maßstab gibt“ (Arendt, 1967: 71). Da wir uns in verschiedenen Situationen befinden und somit unterschiedliche Aspekte darlegen, sind das von Anderen Gehört-Werden und das Gesehen-Werden ausschlaggebend. Anhand dieser entsteht die Möglichkeit, dass jede*r in der Folge aus einer anderen Position sehen und hören kann; dieser Austausch ist Kernaufgabe des öffentlichen Raums. Eine Aufgabe hingegen, die dieser Raum nicht übernehmen sollte, ist die der Familie, denn das Familienleben ermöglicht uns nur eine Ausdehnung der eigenen Position. Hiermit ist nicht gemeint, dass die Macht der Familie sich nicht in der Öffentlichkeit ausdrückt, sondern es gilt die Erklärung Arendts, dass die Familien-„Welt“ niemals die Wirklichkeit ersetzen kann, „die aus einer Gesamtsumme von Aspekten entsteht, die ein Gegenstand in seiner Identität einer Vielheit von Zuschauer darbietet“ (72). Diese Funktionalität wird aber gefährdet, sobald wir uns nicht alle mit demselben Gegenstand befassen. Den Zustand, dass alle sich mit dem gleichen Gegenstand beschäftigen oder dazu gelangen, begründet Arendt nicht in einer gemeinsamen Natur. Die Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt ergibt sich daraus, daß es trotz Perspektivenvielfalt, „doch offenkundig ist, daß alle mit demselben Gegenstand befaßt sind“ (71). Wir blicken also aus unterschiedlichen Perspektiven auf die gleichen Gegenstände und erst in der Zusammenschau dieser Perspektiven entsteht die Realität. Doch selbst wenn nach ihrer Fassung die Realität einer gemeinsamen Welt entsteht, kann der Umstand, dass wir uns in verschiedenen Positionen befinden, darin resultieren, dass ebendiese Vielfalt in der Befassung mit unterschiedlichen Gegenständen resultiert. Wiederum ist es aber eine extreme Vorstellung, dass jede*r aufgrund der eigenen Position sich mit den unterschiedlichsten Gegenständen befasst, die mit denen der Anderen überhaupt nichts zu tun haben. Die Vielfalt an Aspekten mag einem das Gefühl geben, dass dem so ist; öfters aber sind es die Aspekte, die unterschiedlich sind, und nicht die eigentlichen Gegenstände. Selbst wenn die Selbigkeit der Gegenstände nicht immer nach strengsten Regeln erfüllt werden kann, ist es vernünftig, anzunehmen, dass diese im öffentlichen Raum normalerweise vorhanden sein kann.

Eine mögliche Vielfalt an Gegenständen steht nicht im Fokus von Arendts Handlungstheorie, allerdings nimmt sie klar Stellung zu der „Zerstörung der Vielfältigkeit im öffentlichen Raum, die durch die Isolierung von Gleichgesinnten, die durch Gewaltherrscher entstehen würde, die ihre Untertanen voneinander absondern. Die Vielfältigkeit kann aber auch in einer Massengesellschaft zerstört werden, wenn alle wie Glieder einer einstimmigen Familie handeln und hysterisch einen einzigen Aspekt ins Gigantische übersteigern (Arendt 1967 :72). Die erste Variante ist möglicherweise die passendere für Online-Neuanfänge. Die Kernproblematik des Neuanfangs in diesem digitalen Raum umfasst die Vielfalt der Aspekte und die Unklarheit darüber, welche Gegenstände wir behandeln sollen. Bezüglich der Selbigkeit der Gegenstände könnte man sich fragen, ob es im digitalen Raum so deutlich ist, wie es nach ihrer Fassung sein soll, daß „alle mit demselben Gegenstand befaßt sind“ (71) oder ob wir in diesem Raum den Eindruck haben uns mit unterschiedlichen Gegenständen befassen. Für die gemeinsame Realität ist es für Arendt erforderlich, dass wir uns mit demselben Gegenstand beschäftigen. Doch durch die Funktionsweise des digitalen Raums blicken wir auf eine andere Weise aus unterschiedlichen Perspektiven auf die gleichen Gegenstände und somit entsteht eine Realität in der Zusammenschau dieser Perspektiven unter anderen Bedingungen. Im digitalen Raum wird eine solche Gleichheit der Gegenstände von den Instrumenten der digitalen Plattformen beeinflusst. Diese Instrumente können hier nicht im Detail besprochen werden. Beispielsweise begegnet man aber etwa im Rahmen von Trends, durch die Hashtags, den Themen und somit den Gegenständen, die aktuell am meisten kommentiert werden. Doch selbst dieses Trendbewusstsein fluktuiert, da diese sich schnell ändern, sodass man von dieser Funktion kaum behaupten kann, dass sie zur Gleichheit der Gegenstände beiträgt. Da Nutzerinnen zumindest teils, oder nach Wahrnehmung, frei wählen können, welche Inhalte sie folgen, scheint diese Wahl der aus eigener Sicht relevanten Aspekte, eine sehr persönliche Entscheidung zu sein. Da dieser Raum auch noch durch Algorithmen geregelt wird, werden der Nutzerin ähnliche Inhalte vorgeschlagen, weshalb diese erste Entscheidung als eine wichtige gesehen werden kann. Die Frage bleibt offen, inwiefern es sich dabei um eine Entscheidung im eigentlichen Sinne handelt, da uns Inhalte anhand unserer persönlichen Eigenschaften vorgeschlagen werden können. Da wir nicht das Gleiche bzw. die Gleichen hören und sehen, ist auch nach Arendts Handlungstheorie kein wahrhaftiges öffentliches Zusammensein vorhanden. Aber selbst im physischen öffentlichen Raum kann es vorkommen, dass eine Gleichheit der Gegenstände nicht wahrnehmbar sein könnte oder dass Gruppen mit ähnlichen Aspekten isoliert werden. Aber eine zumindest als solche wahrgenommene Freiheit, für individuelle Bedürfnisse maßgeschneiderte Inhalte zu diskutieren, hat sie zu ihrer Zeit nicht ansprechen können.

Die Zerstörung der Vielfältigkeit im digitalen Raum durch die Isolierung verschiedener Gleichgesinnter und der Zusammenbruch der Selbigkeit der Gegenstände durch Unklarheit, welche Gegenstände jetzt relevant sind, bilden ein für ein gemeinsames Neuanfangen sehr ablehnendes Umfeld. So können Neuanfänge in isolierten, digitalen Gruppen entstehen und diese Neuanfänge behandeln verschiedene Gegenstände, die für die entsprechenden Gruppen aktuell als wichtig wahrgenommen werden. Nur eine unklare Gleichheit der Gegenstände und Isolierung können auch im physischen öffentlichen Raum vorkommen. Dass diese beiden Angelegenheiten auch sonst als Probleme des Handelns als menschliche Grundtätigkeit gesehen werden, und somit auch Probleme darstellen, sobald ein Neuanfang gemeinsam angegangen werden muss, lässt sich schwer abstreiten. Selbst wenn friedlicher Umgang mit Vielfältigkeit sich historisch als utopisch beweisen lässt, bedeutet dies nicht, dass keine Neuanfänge durch zwischenmenschliches Handeln entstehen können. Wir haben das Pech, dass der digitale Raum vorrangig für private Zwecke konzipiert wurde und weiterhin unter dieser Vorgabe strukturiert wird, obwohl ein großer Teil des Handelns online stattfindet und dieser Raum zu einer Art öffentlichen Raums wurde. Insofern er kreiert wurde, so könnte er umstrukturiert werden, sodass das Faktum der Pluralität miteinbezogen wird und die Bedingungen für Neuanfänge besser sind. Diese Umstrukturierung müsste die Selbigkeit der Gegenstände berücksichtigen und eine Zerstörung der Vielfalt verhindern. Da sie das Engagement der Plattformen voraussetzt und nicht so einfach zu verwirklichen ist, bleibt es uns leider individuell überlassen, bewusst online neuanzufangen. An dieser Stelle wäre es sinnvoll, dass wir, indem wir diese Plattformen besser kennen und uns bewusst sind, dass sie andere Ziele verfolgen, die nicht für ein gemeinsames Neuanfangen sprechen. Selbst wenn es nicht immer möglich ist, unsere eigenen Handlungen im digitalen Raum zu beeinflussen und dies keine Lösung für einen funktionalen digitalen öffentlichen Raum ist, könnte Neuanfangen eher entstehen, wenn wir uns der Strukturen bewusst sind, in denen wir neuanfangen müssen. Es könnte Neuanfänge zumindest in Teilen erleichtern, wenn das Bewusstsein besteht, dass man sich womöglich in einer isolierten Gruppe befindet und die Gleichheit der Gegenstände gefährdet ist.

 

Bianca Sola Claudio promoviert zum Thema Migration an der Universität zu Köln und behandelt normative Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Einwanderung im europäischen Kontext. Ihre Dissertation untersucht die Anwendung von Amartya Sens Fähigkeitsansatz für ein soziales Minimum für Migranten. Ihre Forschungsinteressen liegen neben der Migrationsethik in der politischen Theorie, Ethik, Verteilungsgerechtigkeit und Rechtsphilosophie.

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