theorieblog.de | CfP: Realität und Realismus in der Demokratietheorie

28. Oktober 2020, Meine

Ein neues Themenheft der Zeitschrift für Politische Theorie widmet sich den „ganz verschiedenen und jeweils weitreichenden neuen Realitäten“ mit denen Demokratie und Demokratietheorie durch die digitale Transformation der Gesellschaft, das Aufkommen neuer Populismusformen und Renationalisierungstendenzen in Europa, durch neue soziale Ungleichheit und Migration sowie in neuen kulturellen Kontexte konfrontiert sind. Vor diesem Hintergrund laden die beiden Herausgeber, Andreas Busen (andreas.busen@uni-hamburg.de) und Alexander Weiß (1weiss@web.de), zu Beiträgen ein, die den Realitätsbezug von Demokratietheorie überprüfen, kritisch hinterfragen, methodisch und konzeptionell kontrollieren oder, auch normativ, reflektieren. Voschläge (max. 500 Wörter) müssen bis zum 31.1.2021 bei den Herausgebern eingehen. Die endgültigen Beiträge werden zum 31. August 2021 fällig. Der komplette Call findet sich hier und nach dem Klick


Realität und Realismus in der Demokratietheorie

Call for Papers für ein Themenheft der Zeitschrift für Politische Theorie

Andreas Busen (andreas.busen@uni-hamburg.de)
Alexander Weiß (1weiss@web.de)

Problemstellung

Augenscheinlich ist die Demokratie gegenwärtig mit ganz verschiedenen und jeweils weitreichenden neuen Realitäten wie der digitalen Transformation der Gesellschaft, dem Aufkommen neuer Populismusformen und Renationalisierungs­tendenzen in Europa, neuer sozialer Ungleichheit und dem Erschwachen der Mittelschichten in den OECD-Ländern, neuen Wanderungsbewegungen von Menschen und – global gesehen – neuen kulturellen Containern, in denen sich Demokratie bewähren soll (wie Konfuzianismus oder Islam), konfrontiert. Die Demokratietheorie muss, wenn sie als Reflexionsdiskurs für die Demokratie fungieren will, solchen Transformationen der Realität Rechnung tragen. Dabei erscheinen in der Auseinandersetzung mit Realitäten zuweilen etablierte Rechtfertigungen von Demokratie unsicher (Achen/Bartels 2016), oder Demokratie wird sogar mit ihren potentiell negativen Anteilen konfrontiert (Mann 2004). In allen Fällen ist aber die Demokratietheorie zunächst aufgefordert, systematisch zu klären, welche Normen und Begründungen von Institutionen eigentlich durch Realitätsbezug betroffen sind.

In dieser Perspektive lädt das Themenheft dazu ein, den Realitätsbezug von Demokratietheorie zu überprüfen, ihn – wo nötig – kritisch zu hinterfragen und – wo möglich – methodisch und konzeptionell zu kontrollieren und normative Implikationen zu reflektieren.

Anknüpfungspunkte

Grundlegende systematische Fragen für eine auf diese Befunde reagierende Demokratietheorie sind entsprechend etwa, welche Ausschnitte, Dimensionen und Modalität von Realität für die Demokratietheorie wichtig sind, welche Schritte innerhalb der Theorieentwicklung von (mehr oder weniger bzw. verändertem) Realitätsbezug affiziert sind und welche Konsequenzen sich daraus für zentrale Begriffe der Demokratietheorie wie Repräsentation, Partizipation, Deliberation, Macht etc. ergeben. Anknüpfen lässt sich dabei innerhalb der Demokratietheorie insbesondere dort, wo verschiedene Ansätze bereits die Ausblendung bestimmter Wirklichkeitsbereiche – wie der Komplexität der Demokratie (Danilo Zolo), Lobbyismus in der Demokratie (Colin Crouch), agonaler Diskursanteile (Chantal Mouffe) oder der Deformation der Subjekte durch Neoliberalismus (Wendy Brown) – problematisieren oder auch die Reichweite von gesellschaftlichem Pluralismus hervorheben (Ian Shapiro, William Connolly, James Tully). Welche Aspekte der Realität in welcher Weise und aus welchen Gründen im Rahmen von Theoriebildung bzw. -‚Anwendung‘ berücksichtigt werden sollten, ist allgemein aus der Perspektive der politischen Theorie zuletzt im Rahmen der Auseinandersetzung über ideale und nicht-ideale Theorie (Valentini 2012) sowie insbesondere der so genannten Realismus-Debatte (Galston 2010; Rossi/Sleat 2014) verhandelt worden. Auch wenn diese Debatten bisher kaum explizit mit demokratietheoretischen Fragen verknüpft worden sind (siehe allerdings Frega 2018), dürften sie ebenfalls einen produktiven Anknüpfungspunkt für die Bearbeitung der skizzierten Problemstellung darstellen. Zumindest für bestimmte Demokratietheorien sind außerdem bereits Realismusbezüge hergestellt worden (für die deliberative Theorie, vgl. Chambers 2018 und andere Artikel in dem Sonderheft „Democracy for Realists“; für die epistemische Demokratietheorie, vgl. Tong 2018; für eine an die Vergleichende Politische Theorie anschließende Vergleichende Demokratietheorie, vgl. die Beiträge in Schubert/Weiß 2016), an denen sich exemplarisch das Potenzial der hier vorgeschlagenen Frageperspektive ausloten und an die sich entsprechend mit einem breiter gefassten Fokus anschließen lässt.

Perspektiven

Willkommen sind Beiträge, die im hier skizzierten Themenfeld angesiedelt sind. Exemplarisch fallen hierunter einer der folgenden thematischen Komplexe oder eine Kombination aus ihnen:

  1. Beiträge, die methodisch, systematisch oder im Hinblick auf normative Konsequenzen untersuchen, welche Art oder welcher Modus von Realität (etwa: sozial konstruierte vs. außergesellschaftlich gegebene Realität) in welcher Weise mit welchen Konsequenzen in der Demokratietheorie zu berücksichtigen ist. Hierunter fallen auch methodologische Überlegungen, die sich aus Realitätsbezügen ergeben, etwa, wenn vermutet wird, dass sich neue digitale Wirklichkeiten nur mehr mit digitalen Methoden erfassen lassen.
  2. Beiträge, die einzelne oder vergleichend mehrere konkrete Demokratietheorien bzw. Theoriestränge (wie etwa deliberative, republikanische, radikale, epistemische oder kulturell vergleichende Demokratietheorie) daraufhin untersuchen, in welcher Weise dort (konstruierte oder vorgegebene) Realität (nicht) berücksichtigt wird.
  3. Beiträge, die bestimmte Bereiche der (konstruierten oder vorgegebenen) Realität als besonders relevant bzw. besonders herausfordernd für Demokratietheorie herausarbeiten (beispielsweise Rassismus, Kapitalismus, Digitalisierung) und jeweils spezifische Folgen für Demokratietheorie ermitteln.

Wir erbitten Vorschläge (max. 500 Wörter) bis zum 31. 1. 2021. Die endgültigen Beiträge sollen bis zum 31. 8. 2021 eingereicht werden. Die Veröffentlichung des Themenhefts ist für 2022 geplant. Bitte schicken Sie Ihre Vorschläge an Andreas Busen (andreas.busen@uni-hamburg.de) oder Alexander Weiß (1weiss@web.de).


Literatur:

Christopher H. Achen / Larry M. Bartels (2016): Democracy for Realists. Why Elections Do Not Produce Responsive Government. Princeton University Press.

Simone Chambers (2018): Human Life Is Group Life. Deliberative Democracy for Realists, in: Critical Review 30(1-2): 36-48.

Roberto Frega (2018): Democracy and the limits of political realism, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy (online first).

Enzo Rossi / Matt Sleat (2014): Realism in Normative Political Theory, in: Philosophy Compass 9(19): 689-701.

William A. Galston (2010): Realism in political theory, in: European Journal of Political Theory 9(4): 385-411.

Michael Mann (2004): The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnical Cleansing. Cambridge University Press.

Sophia Schubert / Alexander Weiß (eds.) (2016): ‚Demokratie‘ jenseits des Westens. Theorien, Diskurse, Einstellungen. PVS-Sonderheft. Nomos.

Zhichao Tong (2018): Political realism and epistemic democracy. An international perspective, in: European Journal of Political Theory (online first).

Laura Valentini (2012): Ideal vs. Non-ideal Theory: A Conceptual Map, in Philosophy Compass 7(9).


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