theorieblog.de | Buchforum: Radikale Demokratietheorien zur Einführung

19. Oktober 2020, Buchstein

Buchforum mal anders! Vor kurzem ist Oliver Flügel-Martinsens neues Buch Radikale Demokratietheorien zur Einführung im Junius-Verlag erschienen. Der Band versucht den Spagat, von radikalen Demokratietheorien im Plural zu sprechen und die kleineren (und manchmal größeren) Differenzen zwischen den verschiedenen Vertreter*innen dieses Diskurses zu berücksichtigen, zugleich aber die Gemeinsamkeiten herauszustellen, die es überhaupt erst rechtfertigen könnten, von einem zusammenhängenden Ansatz zu sprechen. Flügel-Martinsens Buch ist entsprechend nicht anhand einzelner Autor*innen gegliedert, sondern über (geteilte) Grundannahmen, Konzepte und Themen.

Hubertus Buchstein hat dieses den Diskurs sortierende Vorgehen zum Anlass genommen, eine kritische Zwischenbilanz des radikaldemokratischen Diskurses zu ziehen. Seine ins Grundsätzliche gehenden Rückfragen veröffentlichen wir nun auf dem Theorieblog. Am Mittwoch antwortet Oliver Flügel-Martinsen hier!

Alle Leser*innen sind aufgerufen, sich an der hiermit eröffneten Debatte zu beteiligen!

 

Warum im Bestaunen der Wurzeln unter der Erde bleiben?

Eine freundliche Polemik zu den radikalen Demokratietheorien anlässlich des Einführungsbuches von Oliver Flügel-Martinsen

Oliver Flügel-Martinsen ist es in seinem glänzend geschriebenen Buch Radikale Demokratietheorien zur Einführung gelungen, auf wenigen Seiten die wichtigsten, den radikalen Demokratietheorien (im Plural) gemeinsamen Merkmale, Thesen und Themenfelder zu bündeln und zu strukturieren. Sein Buch bietet einen guten Anlass für eine Zwischenbilanz dieses sich seit einigen Jahren in der bundesdeutschen Politikwissenschaft zunehmend etablierenden Ansatzes und provoziert zugleich einige ins Grundsätzliche gehende Rückfragen.

(1) An verschiedenen Stellen betont Oliver Flügel-Martinsen die für alle radikalen Demokratietheorien grundlegende These von der „Gestaltungsoffenheit der Demokratie“ gegenüber „einer Zukunft, die sich nicht vorwegnehmen lässt“ (S. 74) ; alles andere wäre bei einem theoretischen Ansatz, der die Kontingenz derart prominent in den Mittelpunkt der Argumentation stellt, auch eine Überraschung. Er macht zwei zentrale Aspekte der Kontingenzthese deutlich: Erstens, eine Art Unverfügbarkeitsthese, wonach wir uns niemals in Sicherheit wiegen können, weil jederzeit alles auch ganz anders werden könnte. Und zweitens, eine ebenso rigide Verfügbarkeitsthese, wonach durch intentionales politisches Handeln andere gesellschaftliche Zustände geschaffen werden können und in der Vergangenheit auch schon geschaffen wurden.

Ganz entschieden reklamieren radikale Demokratietheorien mit ihrer emphatischen Kontingenzthese ein „Primat des Politischen bei der Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung“ (S. 30). Mich interessiert die epistemische Konsequenz, die aus den historischen Erfahrungen einer solchen intentionalen Gestaltungsoffenheit gezogen wird. Denn aus historischen Erfahrungen wie der Französischen Revolution beziehen die radikalen Demokratietheorien nicht nur ihren selbstgewählten Namen unter Verweis auf die prinzipielle „Grundlosigkeit politisch-sozialer Ordnungen“ (S. 74), sondern sie wirken sich auch auf die begriffliche Fassung ihres Demokratieverständnisses aus. Sehr schön zeigt Flügel-Martinsen diesen Zusammenhang im Zuge seiner Betonung der „Möglichkeit eines Andersseinkönnens und einer Nichtberechenbarkeit“ (S. 74) von zukünftigen politischen Zuständen in den Überlegungen von Jean-Luc Nancy, James Tully und Jacques Derrida. Da wir die Form der demokratischen (oder auch nicht-demokratischen) Zukunft nicht kennen, folgt für die  radikalen Demokratietheoretiker*innen „aus prinzipiellen Gründen […], dass sich keine theoretische Essenz der Demokratie auf den Begriff bringen lässt“ (S. 75). Nun ist vielleicht das Beste, was sich über einen solchen logischen Schluss sagen lässt, dass er von Mut zeugt – ließe sich mit gleicher Inbrunst nicht auch das genaue Gegenteil behaupten?

Flügel-Martinsen referiert mit dieser Betonung der radikalen Offenheit und Essenzlosigkeit des Demokratiebegriffes eine starke These. Um nicht lange um den heißen Brei herumzureden: Ich vertrete die Auffassung, dass Demokratie kein völlig offener Begriff im Sinne von „essentially contested“ ist, sondern ein Begriff, dessen Semantik sich über diverse ideengeschichtliche Transformationsprozesse zu einem „boundedly contested concept“ entwickelt hat. ‚Demokratie‘ verfügt über einen (sich in diachronischer Perspektive verändernden, in den verschiedenen diachronischen Betrachtungen aber jeweils identifizierbaren) theoretischen Bedeutungskern, über den ein weitgehender Konsens besteht und über Außenbereiche in der Theoriebildung, in denen sich eine Reihe unterschiedlicher Positionierungen finden.

Ich möchte die starke Nicht-Essenz-These der radikalen Demokratietheorien mit einer ins Grundsätzliche zielenden Frage konfrontieren (Flügel-Martinsen wird darin vermutlich eine Art Habermas-Reflex sehen). Die Frage lautet: Wie kann mit dem Vokabular der radikalen Demokratietheorien sinnvoll zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien unterschieden werden? Konkreter: Wie soll ohne jegliche „theoretische Essenz“ des Demokratiebegriffs auf den offiziellen Anspruch des Regimes in Nordkorea, eine (wahre) Demokratie zu sein, reagiert werden? Unter manchen Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorie herrscht diesbezüglich offenbar bis heute eine gewisse Verwirrung. Wie sonst ist zu erklären, dass Alan Badiou in einer seiner jüngsten Schriften im Namen der Demokratie den bolschewistischen Terrorismus in der Sowjetunion und die Massenmorde während der chinesischen Kulturrevolution rechtfertigt?

Bei Flügel-Martinsen gibt es diesbezüglich keine solchen Zweideutigkeiten. Er spricht sich ohne Zwischentöne gegen die „Gefahr einer demokratischen Selbstabschaffung“ und gegen die „totalitären Versuchungen“ (S. 75) der Demokratie aus. Überdies belegt sein Buch in seiner ganzen Anlage und in der immer wieder gesuchten Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, wie ernst es ihm mit diesem antitotalitären Ansinnen ist. Ihm geht es ganz entschieden darum, zu entlarven, dass rechtsgerichtete Bewegungen die Semantik der Demokratie bloß instrumentell verwenden, tatsächlich aber Gegner der Demokratie sind. Doch wie kann die Zurückweisung von solchen Versuchen, den Demokratiebegriff zu okkupieren gelingen, wenn man dem Demokratiebegriff zuvor nicht die Spur einer Essenz zuzubilligen vermag und sich sogar mehrfach ausdrücklich zur „postessentialistischen Grundlage“ (S. 116) der radikalen Demokratietheorie bekennt?

Der Ausweg aus diesem Dilemma, den Flügel-Martinsen in den Schriften von radikalen Demokratietheoretiker*innen gefunden hat, schließt an die Beschreibung des „Subjektes der Demokratie“ (S. 129-136) von Judith Butler an. Mit Butler beschreibt Flügel-Martinsen das Volk der Demokratie als keine vorgängig festgelegte oder festlegbare Kategorie. Stattdessen konstituiert sich das Subjekt der Demokratie in einem deutungsoffenen und pluralistischen Prozess zwischen Menschen, die sich gleiche Rechte zubilligen und der gewaltfrei und inklusiv ist, immer wieder neu. Daraus leitet er als Ergebnis dieser „Praxis der demokratischen Infragestellung“ (S. 121) ab, dass die Rechtsextremen sich nicht auf die Demokratie berufen dürften, weil sie dem Phantasma einer substantiellen, xenophoben Vorstellung von Volk anhängen und dies in einer die Gewalt verherrlichenden Sprache verfechten (S. 134).

Gern und ausdrücklich stimme ich Flügel-Martinsen in der Zurückweisung der rechtsextremen Demokratieanmaßung zu. Aber: Hat er in seiner Argumentation nicht klammheimlich von einer „Essenz“ seines Demokratieverständnisses Gebrauch gemacht? Oder als was sonst soll man die von ihm in Anschlag gebrachten Kriterien ‚deutungsoffen‘, ‚pluralistisch‘, ‚inklusiv‘, ‚gleiche Rechte‘ und ‚gewaltfrei‘ bezeichnen? Es sind eindeutig normative Kriterien, anhand derer er in seiner demokratischen Befragung die Unterscheidung zwischen Töpfchen und Kröpfchen vornimmt. Es sind Kriterien, die überdies unbedingt der Spezifizierung bedürfen. Denn es ist nicht selbstevident, wann etwas z.B. als ‚pluralistisch‘ gelten kann und wann nicht. Auch die Frage, ob die Auslegung von ‚gleichen Rechten‘ in ihrer partizipativen Dimension schon mit der Geburt eines Menschen oder erst ab einer gewissen Altersgrenze gilt, bedarf klärender Worte.

Warum beharren die Verfechter*innen radikaler Demokratietheorien so sehr darauf, keinen präziser beschreibbaren normativen Demokratiebegriff zur Verfügung zu haben? Möglicherweise ist dies durch die Sorge motiviert, allzu eilig von gewissen normativen Prinzipien auf ein enges Demokratiekonzept zu schließen, das allein auf Entscheidungsverfahren abzielt, und Fragen der demokratischen Kultur außer Acht lässt; diese Sorge halte ich jedoch für unbegründet.

Eine andere Erklärung lässt sich vielleicht finden, wenn man noch einmal zur Auseinandersetzung der radikalen Demokratietheoretiker*innen mit Habermas in Flügel-Martinsens Buch zurückkehrt. Letztlich besteht der einzige von ihm als tragfähig akzeptierte Einwand gegen die Habermas’sche Begründung demokratischer Normen darin, dass dadurch die „Offenheit“ (S. 58) demokratischen Denkens eingegrenzt würde. Diese Argumentationsfigur wiederholt er bei der Diskussion von Cornelius Castoriadis‘ Verständnis des Politischen, bei der er jede „theoretisch bereits antizipierbare Form der Emanzipation“ (S. 45) ablehnt. Als methodisches Vorbild soll dabei Michel Foucaults „Nadelstichpraktik der unablässigen Befragungen“ (S. 67) dienen.

‚Emanzipation‘ wie auch ‚Demokratie‘ werden auf konzeptioneller Ebene als inhaltlich nicht gefüllte Begriffe präsentiert. Sie verwandeln sich in dem Buch allerdings im Verlauf konkreterer Argumentationen in Termini mit normativen Gehalten. Könnte es sein, so möchte ich meine erste Frage zuspitzen, dass es sich bei der Behauptung von der fehlenden Essenz des radikaldemokratischen Demokratieverständnisses um ein Selbstmissverständnis handelt?

(2) Meine zweite Frage schließt an einige Beobachtungen von Flügel-Martinsen über das Verhältnis der radikalen Demokratietheorien zum sogenannten „Mainstream“ der akademischen Politikwissenschaft an. Er skizziert unter Rekurs auf Arbeiten von Claude Lefort, dass radikale Demokratietheorien reklamieren, sich von sämtlichen Spielarten der normativen Demokratietheorie aus der Politischen Philosophie als auch von sozialwissenschaftlichen Forschungen der empirisch orientierten Demokratieforschung emanzipiert zu haben (S. 19-26, S. 71-73). Im Hinblick auf die empirische politikwissenschaftliche Forschung macht Flügel-Martinsen eine gewisse Konzession unter Hinweis auf die Rezeption des Ansatzes von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe im deutschsprachigen Raum durch Martin Nonhoff, schiebt aber sogleich hinterher, dass es sich dabei selbstverständlich um „methodisch und konzeptionell völlig anders angelegte Untersuchungen“ (S. 22) handelt.

Die Klarheit, mit der Flügel-Martinsen die Frontstellung gegen das „szientistische Selbstverständnis“ (S. 22) der Politikwissenschaft kundtut, ist erfrischend. Gleichsam als Parallelaktion dazu erfolgt die Abgrenzung gegen die normative Demokratietheorie, die mich hier jedoch nur am Rande interessiert.

Die doppelte Abgrenzung sowohl gegen die normative Demokratietheorie als auch die empirische Demokratieforschung signalisiert einen bemerkenswerten Bruch mit der disziplinären Tradition des Faches Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Seit Beginn der umkämpften Etablierung der Politikwissenschaft ab 1949 gehört es zum festen disziplinären Selbstverständnis, die drei Facetten der normativen Demokratiebegründung, der empirischen Demokratieforschung und der praktischen Demokratiepolitik nicht voneinander abzuschotten, sondern sie in einem – selbstverständlich notorisch prekär bleibenden – Ergänzungsverhältnis zueinander zu sehen. Wann immer ein Ansatz oder eine Richtung für sich beanspruchte, dieses Ergänzungsverhältnis partout ignorieren zu müssen, setzte ein verstärktes argumentatives Trommelfeuer (z.B. beim Nachweis der impliziten Normativität von Rational Choice und Luhmann’scher Systemtheorie oder der Empiriearmut mancher partizipativer Demokratietheorien) ein.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich behaupte nicht, dass das Ergänzungsverhältnis zwischen den drei Facetten in der Vergangenheit und Gegenwart immer gut funktioniert hat. Aber sämtliche politikwissenschaftlichen Überblicks- und Einführungsbücher sind sich ungeachtet ihrer Ausrichtungen darin einig, dass erst aus dem Zusammenwirken aller drei genannten Facetten vollständige Demokratietheorien entstehen können. Ich behaupte aber auch, dass es für normative Theorien hilfreich gewesen ist, die von ihnen schon immer und notwendigerweise vorzunehmenden Bezugnahmen auf empirische Fakten nicht lediglich im Modus des erläuternden Sammelns von anekdotischem Illustrationswissen vorzunehmen; oder dass es für empirische Demokratietheorien unabdingbar ist, sich der normativen Grundlagen ihrer eigenen Begrifflichkeiten zu versichern. Beides gilt erst recht dann, wenn Politikwissenschaftler*innen sich mit tagespolitischen Äußerungen in das offene Meer der Demokratiepolitik wagen, so wie es auch viele Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorie tun.

Flügel-Martinsen ruft also mit der Rekonstruktion der beiden Abgrenzungen die Grundsatzfrage nach den Qualitätskriterien von guter Demokratietheorie auf den Plan. Woran erkenne ich als radikale*r Demokratietheoretiker*in eine ‚gute‘ oder eine ‚schlechte‘ Demokratietheorie? Wenn ich solche Kriterien weder aus anerkennungswürdigen Standards für gelingende normative Reflektionen noch aus den geläufigen Standards für qualitative und quantitative empirische Forschungen gewinnen kann, woher stammen sie dann?

Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang lautet, wie sich die notorisch anmutende Aversion gegenüber der empirischen Sozialwissenschaft erklärt. Trotz aller verbalen Bezugnahmen auf soziale Bewegungen und einzelne Events wie Occupy Wallstreet handelt es sich bei den Protagonist*innen der radikalen Demokratietheorie in erster Linie um Akademiker*innen und Teilnehmer*innen in akademischen Diskursen. Zu den internen Produktionsfaktoren des akademischen Demokratietheoretisierens gehören bekanntlich die Programmierung auf eine immer weitere Ausdifferenzierung und die ständige Suche nach originellen Gedanken (oder wenigstens Formulierungen). Könnte es sein, dass die radikalen Demokratietheorien zu ungewollten Opfern solcher Ausdifferenzierungsprozesse geworden sind und sich entgegen ihrer ständig vor sich hergetragenen gesellschaftspolitischen Relevanzbehauptung mit den Abgrenzungen gegen die sozialwissenschaftliche Demokratieforschung und die normative Demokratietheorie schlicht „verdifferenziert“ haben? Falls ja, dann hätten wir es bei dem Diskurs der radikalen Demokratietheorien mit einem wissenschaftssoziologisch nicht uninteressanten Fall von Auto-Marginalisierung zu tun.

Denn so ganz scheinen auch Flügel-Martinsen die von ihm geschilderten Abgrenzungen bei den Vordenker*innen der radikalen Demokratietheorien nicht geheuer zu sein, wenn er zum Beispiel an einer Stelle die leicht distanzierende Formulierung verwendet, „wie es nach dem Eindruck radikaler Demokratietheorien der Mainstream der empirischen Politikwissenschaft nahelegt“ (S. 27). In der kritischen Gesellschaftstheorie, die die Basis für die Überlegungen zur radikalen Kontingenz des demokratischen Zeitalters bildet, wie auch in radikaldemokratischen Zeitdiagnostiken wimmelt es von empirischen Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen und Zustände; das gilt in besonderem Maße für die Thesen zum Neoliberalismus und dessen post-demokratischer Imprägnierung. So beispielsweise in den Behauptungen zu den de-politisierenden Effekten einer sogenannten neoliberalen Hegemonie, zu den Ursachen für das Aufkommen rechter Protestbewegungen oder zu Verschiebungen im Wähler*innenverhalten (S. 110-114). Das gilt erst recht für die völlig unbelegt im Raum stehenden Behauptungen von Chantal Mouffe über die heilsamen psychologischen Effekte einer starken Führungsfigur für den von ihr propagierten Linkspopulismus (S. 114). Zu vielen dieser Themen gibt es gute empirische Forschung, die weniger apodiktisch und grobkörnig argumentiert, als dies Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorien in der Regel tun. Zu Recht rekurriert Flügel-Martinsen an einer anderen Stelle seines Buches gegen das Plädoyer für einen linken Populismus auf eine Aussage von rein empirischem Status, wonach die populistische Konstitution eines neuen Kollektivsubjekts rechten politischen Bewegungen weitaus besser gelingt als linken Gruppen oder Parteien (S. 150).

Wie kann man an dieser Stelle miteinander ins Gespräch kommen? Meines Erachtens ist es nicht ausreichend, aufgrund einer grundsätzlichen Ablehnung von jeglichen Kausalitätsannahmen und dem Wissen darum, dass jederzeit völlig überraschende Dinge geschehen können, empirisches Erfahrungswissen im Namen der Kontingenz für mehr oder weniger obsolet zu erklären. Woher stammt die fast schon zwanghaft anmutende Intuition, sich von den Qualitätserwartungen der professionellen akademischen Demokratietheorie für frei zu erklären, anstatt in deren Beiträgen eine Einladung zum Lernen für das radikaldemokratische Denken zu erkennen? Was soll falsch daran sein, die Erfahrungen mit bisherigen rätedemokratischen Experimenten genauer zu kennen? Was waren die Gründe dafür, dass Occupy Wallstreet und die Versammlungen von Podemos mit ihren ambitionierten Ideen gescheitert sind?

Es erstaunt daher nicht, wenn Vertreter*innen der stärker empirisch orientierten Politikwissenschaft den Ambitionen der radikalen Demokratietheorie zuweilen mit Spott begegnen. Um meiner zweiten Frage eine etwas andere Wendung zu geben: Wie lassen sich diese gegenseitigen Blockaden überwinden? Was müsste geschehen, damit die Anhänger*innen radikaler Demokratietheorien in Beiträgen der empirischen Demokratieforschung eine Einladung für ihr eigenes radikaldemokratisches Theorieprojekt wahrnehmen?

(3) Eine dritte Frage, die ich im Anschluss an Flügel-Martinsens Buch aufwerfen möchte, betrifft das Thema Demokratie und ihre Prozeduren und Institutionen. Zum Kern radikaldemokratischen Denkens gehört es, dass es über eine „enge institutionalistische Vorstellung von Demokratie als Regierungssystem hinausgeht“ (S. 14). Zu den Merkmalen dieses Denkens gehöre auch die Überzeugung, dass es „nicht die Aufgabe radikaler Demokratietheorie ist, institutionelle Arrangements zu begründen“ (S. 15). Und zur „radikaldemokratische(n) Dynamik“ gehört es schließlich auch, dass sie sich „gegen eine institutionalisierte Ordnung der Politik“ (S. 108) positioniert und stattdessen in Protest- und Widerstandsaktionen ihren adäquaten Ausdruck findet.

Hieraus speist sich die verbreitete Ansicht unter Kritiker*innen, dass die Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorie zum Thema demokratischer Institutionen wenig Hilfreiches zu sagen und bestenfalls einigen Protestforscher*innen Interessantes zu bieten haben. Flügel-Martinsen bemüht sich auf bemerkenswerte Weise um eine Korrektur dieses Vorurteils. Gleich zu Beginn des Buches stellt er neben dem „subversiven“ den „instituierenden … Charakter“ (S. 14) der radikalen Demokratietheorie als mindestens gleichrangig heraus. Er geht dann noch einen Schritt weiter, indem er die These aufstellt, dass es innerhalb des Ansatzes „durchaus auch starke Argumente für das Festhalten an Institutionalisierungsperspektiven“ (S. 15) gibt. Das lässt aufhorchen und sofort die Frage entstehen, ob und wie sich radikaldemokratisches Denken im Hinblick auf die Frage nach den Prozeduren und Institutionen der Demokratie auf eine weiterführende Weise von anderen Ansätzen der Demokratietheorie abhebt.

Zunächst wird man in dem Buch allerdings enttäuscht. Denn es finden sich lediglich die schon seit Jahren bekannten und gebetsmühlenartig wiederholten Unterscheidungen zwischen der ‚Politik‘ (als dem Agieren innerhalb eines spezifischen politischen Institutionengefüges einer bestimmten Gesellschaft) und dem ‚Politischen‘ (als der politischen Formgebung, also dem Vorgang der Institutionalisierung selbst), woraus dann im nächsten Schritt als Besonderheit der Demokratie hervorgehoben wird, dass sie die Kontingenz der institutionellen Ordnung selbst institutionalisiert (S. 77-82). Nun ist die Einsicht, dass die Demokratie über interne Optionen ihrer institutionellen Revision verfügt, kein Erkenntnisprivileg der radikalen Demokratietheorie, sondern sie gehört zum ehernen Bestand diverser auf Veränderung drängender demokratietheoretischer Ansätze. Worin also könnte der spezifische Beitrag des Ansatzes der radikalen Demokratietheorie in solchen Revisionsdiskursen bestehen? Flügel-Martinsen sieht zwei Richtungen miteinander konkurrieren. Zum einen ein „Revolutionsparadigma“ (S. 99) im Anschluss an Jacques Rancière und zum anderen Oliver Marcharts Idee der „minimalen Politik“ (S. 100) im Sinne einer Politik der kleinen Schritte. Nun ist auch diese Unterscheidung nicht besonders originell, sondern steht in einer mittlerweile mehr als 150 Jahre alten Tradition der Debatten zwischen Revolutionär*innen und Reformist*innen auf Seiten der politischen Linken. Zudem erfahren wir kein Wort darüber, in welche konkrete institutionelle Richtung die Politiken der großen revolutionären oder der kleinen reformistischen Schritte gehen solle. Die Geschichte der Linken kennt viele Irrläufe.

An einer anderen Stelle seines Buches greift Flügel-Martinsen das Thema Institutionen dann noch einmal explizit auf (S. 123-128). Er unterscheidet zwischen drei institutionentheoretischen Ansätzen innerhalb der radikalen Demokratietheorie, der rebellischen Demokratie von Miguel Abensour, der anarchischen Theorie von Rancière sowie Chantal Mouffes Konzept der Hegemonie. Bei Mouffe wird er noch am ehesten fündig, da sie es für den Erfolg radikaler Politik für unabdingbar erachtet, starke Gegen-Institutionen zum staatlichen Establishment zu organisieren. Aber auch bei ihr finden wir nicht einmal wenigstens vage Richtungshinweise zu den institutionellen Strukturen einer zukünftigen, besseren Demokratie, sondern lediglich einige taktisch anmutende Überlegungen zur effektiven Organisation von Gegen-Hegemonie. Dabei wäre doch vor allem das politische Denken von Chantal Mouffe dafür prädestiniert, sich darüber Gedanken zu machen, welche Art von institutionellen Arrangements der Überführung von antagonistischen Verhältnissen der Feindschaft in agonistische Auseinandersetzungen zwischen Gegner*innen dienlich sein könnten. Die Sorge, unbeabsichtigt dazu beizutragen, eine bestimmte institutionelle Formation der modernen Demokratie konzeptionell zu fixieren, scheint übergroß zu sein.

Das enthebt demokratisches Denken freilich nicht von der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Richtungen für das proklamierte Ringen um das ‚Politische’ sinnvoll sind. Ist es die Richtung hin zu einer neuen Form der repräsentativen Demokratie mit oder ohne Parlament? Oder als – digital oder analog – organisierte plebiszitäre Basisdemokratie? Benötigen wir politische Parteien? Sollten umstrittene politische Entscheidungen zukünftig ausgelost werden? Auf welche Weise soll die Sphäre der Marktökonomie demokratisch organisiert sein? – Wobei ich bei all diesen Fragen den anti-perfektionistischen Impetus der radikalen Demokratietheorien teile, wonach die Errichtung einer wahren Ordnung oder einer endgültigen Auflösung von Herrschaftsverhältnissen „nicht erreichbar“ (S. 62) ist.

Dies sind nur einige von vielen und sehr konkrete Fragen zum Thema Demokratie und Institutionen, zu denen in der Vergangenheit viel Kluges (und auch weniger Kluges) geschrieben worden ist. In den wortreichen Erörterungen der radikalen Demokratietheorie kann ich viele Beschwörungslaute und Pathosformeln vom Schlage der „Empörung“, dem „Widerstand“, dem „Ereignis“, dem „Protest“ oder der „Unterbrechung“ finden, jedoch nicht die leiseste Andeutung einer Orientierungshilfe zur Beantwortung der aufgelisteten Fragen.

Flügel-Martinsen erwähnt in seinem Buch, dass nach Ansicht von Cornelius Castoriadis bereits in der griechischen Antike eine „reflexive Distanznahme von gegebenen Institutionenordnungen und die offene Thematisierung ihrer Umgestaltung“ (S. 33) zu beobachten sind. So viel hat sich demnach möglicherweise seitdem doch nicht geändert. Denn auch in der heutigen Politikwissenschaft haben wir es permanent mit solchen reflexiven Distanznahmen zu tun. Doch Hilfe zur Beantwortung der oben aufgelisteten Fragen findet man eher in der reichhaltigen Literatur der vergangenen beiden Jahrzehnte zu ‚democratic innovations‘. Aber selbst die Lektüre von Schriften wichtiger demokratietheoretischer Klassiker zu Fragen von Institutionen und Prozeduren scheint in Kreisen der radikalen Demokratietheorie geradezu verpönt zu sein. Ich nenne für den angloamerikanischen Sprachraum nur Robert A. Dahl oder aus der Bundesrepublik Ernst Fraenkel oder Peter Graf Kielmannsegg. Dieses Maß an demokratietheoretischer Ignoranz ist ausgesprochen ärgerlich. Denn in der Sache findet sich zum Beispiel alles, was Chantal Mouffe aus ihrer weichgespülten Carl-Schmitt-Rezeption in systematischer Hinsicht zum Thema Konfliktaustragung in der Demokratie zu sagen hat (S. 116-120), in einer klarer formulierten Diktion bei Fraenkel und dessen Unterscheidung zwischen einem kontroversen und einem nicht-kontroversen Sektor in der Gesellschaft.

Nun ist auf verschiedenen Tagungen von radikalen Demokratietheoretiker*innen mehrfach selbstkritisch moniert worden, dass der eigene Ansatz gravierende institutionentheoretische Lücken aufweist. Warum tun sich ihre Autor*innen bis heute so schwer damit, sich – und sei es im Modus des nur verspielten, utopischen Nachdenkens – auf konkrete institutionelle Fragen einzulassen? Es kann nicht daran liegen, dass sie sich wie Niklas Luhmann auf die epistemische Position zurückziehen, sie würden lediglich ihre Beobachtungen artikulieren. Denn für einen solchen epistemischen Attentismus sind die meisten Autor*innen der radikalen Demokratietheorien politisch zu engagiert und in einzelne politische Bewegungen verstrickt.

Könnte es daran liegen, dass die Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorien argwöhnen, mit derartigen Überlegungen zu ultimativen Festlegungen und zu Sakralisierungen beizutragen? Oder, dass es müßig ist, sich über institutionelle Fragen zu sehr den Kopf zu zerbrechen, da es danach sowieso bald wieder ein anderes demokratisches Setting gibt? Oder könnte es daran liegen, dass Verfechter*innen radikaler Demokratietheorien eine klammheimliche Verachtung für politische Institutionen und Prozeduren hegen, sofern diese nicht das frische Ergebnis eines radikalen Neubeginns sind, da sie ja nur die fade ‚Politik‘ und nicht das von ihnen fast schon libidinös besetzte ‚Politische‘ repräsentieren? Dann allerdings wären die radikalen Demokratietheorien gleichsam politische Theorien des Ausnahmezustandes, welche in den langen Phasen, in denen das politische Handeln in etablierten und routinierten Modi erfolgt, die Rolle einer Art kritischer Schlafbegleitung übernehmen – zuständig für die wilden Träume aber nicht für die kleinteiligen Fragen der Gesundheits-, Klima-, Flüchtlings- oder Steuerpolitik.

(4) Radikal – so werden die Vertreter*innen der radikalen Demokratie nimmer müde, gebetsmühlenartig zu wiederholen – bedeutet, bis an die „Wurzel“ einer Sache zu gehen. Doch warum muss aus der Wahl einer solchen Selbstbezeichnung der Zwang entstehen, das eigene theoretische Trachten primär auf das Bestaunen von Wurzelwerk zu beschränken?

Mittlerweile erzählt man niemandem etwas Neues, wenn man auf die prekäre Existenz und Kontingenz der Demokratie hinweist. Um aus dem Modus der Selbstreferentialität herauszukommen, der einem Ansatz leicht den falschen Eindruck einer wachsenden theoretischen Bedeutung vorgaukeln kann, würde ich mir wünschen, dass das radikaldemokratische Demokratietheoretisieren einen offeneren Umgang mit anderen Demokratietheorien pflegte.

Kurzum: Ich warte gespannt darauf, dass die Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorien endlich aus dem philosophischen Humusboden ihrer wohligen Wurzelbeschau herauskriechen und ihre Blicke entschiedener auf die sich über dem Wurzelwerk erhebenden Stämme, Äste und Blätter des demokratietheoretischen Denkens werfen.

 

Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald und forscht neuerdings über Menschen, die zwischen 1961 und 1989 die DDR über die Ostsee verlassen wollten und dabei ihr Leben verloren.


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