Buchforum: Radikale Demokratietheorien zur Einführung

Wer kann einer so freundlich-polemischen Gesprächseinladung schon widerstehen?

Eine Replik auf Hubertus Buchsteins Kritik radikaler Demokratietheorien

Hubertus Buchstein hat meine kleine Einführung in die radikalen Demokratietheorien zum Anlass einer kritischen Auseinandersetzung mit dem radikaldemokratischen Denken genommen, die er als freundliche Polemik untertitelt – und tatsächlich ist sein Text durchgängig wertschätzend und dialogorientiert im Tonfall. Buchstein wäre aber nicht der mit allen argumentativen Wassern gewaschene Autor, als der er sich in einer Vielzahl an maßgeblichen Beiträgen zur Demokratietheorie der Gegenwart in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erwiesen hat, wenn er nicht wüsste, dass so freundlich vorgetragen die inhaltliche Härte der Einwände umso nachhaltiger wirkt. 

Nun ist Buchsteins Text nicht nur freundlich, sondern in mindestens einer entscheidenden Hinsicht trotz aller Schärfe der vorgetragenen Argumente auch großzügig: Die Polemik ist nämlich beinahe durchgängig als Einladung zu einem gemeinsamen Nachdenken über die Aufgaben der (kritischen) Demokratietheorie angelegt, und diese Einladung möchte ich gerne annehmen. Allerdings deute ich das als eine Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über ungeklärte Aufgaben, Herausforderungen und, ja, auch Defizite, aber eben nicht nur der radikalen Demokratietheorie, sondern von Demokratietheorie und politikwissenschaftlicher Demokratieforschung im weiteren Sinne. Gegen den von Buchsteins scharfsinniger Argumentation nahelegten Eindruck, dass das radikale Demokratiedenken zu viele Fragen offenlasse, mache ich dabei aber geltend, dass sich unter Rückgriff auf radikaldemokratische Überlegungen eine ganze Reihe fruchtbarer Denkperspektiven eröffnen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben (auch das macht Buchstein dankenswerterweise durchgängig deutlich), dass radikale Demokratietheorien keineswegs eine einheitliche Denkschule darstellen. Ich werde im Folgenden immer versuchen, kenntlich zu machen, auf welches Argument ich jeweils zurückgreife, kann aber meine eigene Positionierung im radikaldemokratischen Diskurs in der hier gebotenen Kürze nicht umfangreich entfalten. In der Kritik einiger Positionen innerhalb des radikaldemokratischen Diskurses stimme ich übrigens mit Buchstein überein und konfrontiere sie u.a. in meiner Einführung selbst mit kritischen Einwänden – da Buchstein dies in seinem Text aber selbst kenntlich macht, werde ich diese Punkte nicht nochmals behandeln.

Wichtig für die radikaldemokratische Position, der ich selbst zuneige, ist dabei allerdings ein Verständnis von Demokratietheorie, das von dem in der Politischen Theorie üblichen – und nach meinem Eindruck auch bei Buchstein implizit vorausgesetzten – deutlich abweicht: Unter Demokratietheorie verstehe ich nämlich keineswegs den Entwurf oder gar die Begründung von Modellen von Demokratie, sondern, wie auch unter Demokratie selbst, in erster Linie eine kritische Befragungsaktivität.

Dieses abweichende Verständnis von Demokratietheorie lässt sich aber viel leichter vor dem Hintergrund von Buchsteins konkreten Einwänden verdeutlichen. Dabei handelt es sich nach meinem Eindruck vor allem um drei Gruppen kritischer Nachfragen an radikale Demokratietheorien: Ein erster Bereich betrifft die Stellung und Deutung von Kontingenz, sowie deren Beziehung zur Normativität und zu etwas, das er als den „theoretischen Bedeutungskern“ von Demokratie bezeichnet (1); in einem zweiten Bereich wendet er sich dem radikaldemokratischen Denken in seiner Eigenschaft als Demokratietheorie zu und fragt sich in diesem Zusammenhang vor allem auch, warum dieses, so sein Eindruck, eine ablehnende Haltung zu empirischen sozialwissenschaftlichen Forschungen einnehme (2); der dritte Bereich greift mit der Frage nach dem Verhältnis von radikalen Demokratietheorien und Institutionentheorie ein Thema auf, das mittlerweile auch zu einer verstärkten Aufmerksamkeit im radikaldemokratischen Diskurs selbst geführt hat (3).

(1) Buchstein diagnostiziert völlig zutreffend einen engen Zusammenhang zwischen der zentralen konzeptionellen Stellung von Kontingenz in radikalen Demokratietheorien und ihrer Zurückweisung eines normativen Kerns von Demokratie. Nach seiner Überzeugung tun sich radikale Demokratietheorien damit allerdings keinen Gefallen, da sie Gefahr laufen, sich der Möglichkeit zu begeben, „sinnvoll zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien“ unterscheiden zu können oder, wenn einige ihrer Vertreter*innen dies dann doch tun, letztlich auf konzeptionell nicht abgesicherte normative Begrifflichkeiten wie „‚pluralistisch‘, ‚inklusiv‘, ‚gleiche Rechte‘ und ‚gewaltfrei‘“ zurückgreifen zu müssen.

Auf diesen kritischen Einwand möchte ich eine dreiteilige Antwort skizzieren: Erstens spielt hier der andere Theorieanspruch radikaler Demokratietheorien eine Rolle, der sich übrigens großteils aus der zentralen Stellung der Kontingenzdiagnose für das Demokratieverständnis ergibt. Während normative Demokratietheorien in der Regel auf die Begründung eines Modells von Demokratie und seiner normativen Referenzkategorien zielen, verstehen diejenigen radikaldemokratischen Ansätze, denen ich zuneige (etwa derjenige Rancières), unter Demokratie eher eine Form kritischer Intervention gegenüber bestehenden politischen Ordnungen und verwerfen daher die Aufgabe der Begründung als zentrale Dimension von Demokratietheorie (auf die damit verbundenen Fragen zum Verhältnis von radikaler Demokratietheorie und Institutionentheorie komme ich unter 3. zurück). Das ist keine willkürliche Entscheidung, sondern dem Umstand geschuldet, dass die Emanzipationsbewegungen von heute – haben sie die politischen und sozialen Gefüge durch Kritik einmal umgestaltet – rasch zu den Privilegierten der ebenfalls, nur in anderen Hinsichten exkludierenden oder diskriminierenden politisch-institutionellen und normativen Ordnung von morgen werden können, die dann wiederum in Frage gestellt werden muss. Kurz, radikale Demokratietheorien wenden sich von der begründungstheoretischen Forderung nach einem normativen Kern von Demokratie ab, weil er ihnen selbst aus demokratischen Gründen problematisch zu sein scheint, kann er doch rasch zu einer Fixierung von Ausschließungs- und Unterdrückungsverhältnissen werden. Buchstein würde das vermutlich als verfehlte libidinöse Bindung an das Aufbrechen bestehender Ordnungen erscheinen, durch die deren normative Leistungen und Vorzüge aus dem Blick geraten und die es überdies unmöglich macht, selbst normativ Position zu beziehen, was die fortwährend angemahnten Infragestellungen rasch richtungslos machen könnte.

Hierauf kann man aus radikaldemokratischer Perspektive meines Erachtens zweitens mit einer Unterscheidung zwischen normativ im Sinne von begründetem normativem Gehalt und normativ folgenreich oder normativ wirksam antworten. Zwar können radikale Demokratietheorien nach meinem Dafürhalten tatsächlich keine normativen Kategorien begründen. Sie bleiben aber dadurch nicht zwangsläufig normativ sprachlos, denn die Kontingenz, auf die sie hinweisen, ermöglicht eine Öffnungsbewegung, die emanzipatorische Interventionen möglich macht. Normativ wirksam ist dann beispielsweise die durch kritische Infragestellungen erstrittene Transformation einer hegemonialen normativen Ordnung und ihrer repressiven und exkludierenden Praktiken und Institutionen.

Bleiben radikale Demokratietheorien damit aber nicht letztlich dennoch, wie es Buchstein nahezulegen scheint, normativ haltlos und verwenden normative Bezugspunkte (wie ‚emanzipatorisch‘), ohne sie ausweisen zu können? Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt meiner Antwort auf die Normativitätsfrage, die, hier stimme ich Buchstein nachdrücklich zu, berechtigt und wichtig bleibt. Aber an diesem Punkt sind radikale Demokratietheorien gegenüber erklärtermaßen normativen Demokratietheorien nicht in der Defensive, sondern beide teilen das Problem, wie man auf normative Unterscheidungen – z.B. solche zwischen einer emanzipatorischen und einer repressiven Politik – zurückgreifen kann. Meine These ist nun, dass sich radikale Demokratietheorien über die damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen umfassender Rechenschaft ablegen als normative Demokratietheorien, weil sie sich nicht in die Illusion einer begründeten oder begründbaren Normativität flüchten, die auf fragwürdigen Gründen ruht und die selbst leicht einen repressiven, exkludierenden oder abwertenden Charakter annehmen kann. Zu denken ist hier nur an die Kritik an der vermeintlich universalistischen Moderne und ihres Fortschrittsdenkens aus gendertheoretischen und postkolonialen Perspektiven, in deren Lichte es spätestens heute hochgradig fragwürdig erscheinen muss, so etwas wie einen normativen Kern der Demokratie zu begründen. Dieser wird beispielsweise in der Habermasʼschen Denktradition – auf die Buchstein hier und da anspielt – als Ergebnis eines universalistisch gedeuteten Projekts der Moderne präsentiert und gerät dadurch zu Recht in den Fokus postkolonialer Fortschrittskritik, wie es etwa bei Amy Allen der Fall ist.

Buchsteins Normativitätsfrage stellt sich demnach nicht nur radikalen Demokratietheorien im Besonderen, sondern Demokratietheorie im Allgemeinen. Das radikale Demokratiedenken ist hier sogar eher bereit, diese Frage selbstkritisch offen zu reflektieren, indem es als konzeptionellen Kern – wenn man das dann noch so nennen will – eines emanzipatorischen Demokratieverständnisses die postessentialistische Forderung nach einer steten Revisionsbereitschaft im Lichte der Forderungen sozialer Bewegungen herausstellt. Will man die skizzierten Probleme normativer Kategorien vermeiden, sehe ich nicht, wie man an so einer Deutungsoffenheit vorbeikommt – betreibt man das ernsthaft, ist man aber bereits auf der Seite der radikalen Demokratietheorie.

(2) Buchstein macht auf Seiten der radikalen Demokratietheorie eine „notorisch anmutende Aversion gegenüber der empirischen Sozialwissenschaft“ aus. Mir scheinen hier vor allem zwei Punkte wichtig zu sein:

Erstens ist nach meinem Dafürhalten nachdrücklich zu unterstreichen, dass radikale Demokratietheorien im Unterschied zur normativen Politischen Theorie und vor allem zur politischen Philosophie Rawlsʼscher Prägung ja eine geradezu soziologische Sicht auf politische Fragen einnehmen, indem sie die Theorie des Politischen von vornherein gesellschaftstheoretisch anlegen. Empirische Gesichtspunkte erhalten demnach, wenn man darunter die Bezugnahme auf soziale und kulturelle Ordnungen, deren Gestaltung und deren historischen Kontext versteht, in radikalen Demokratietheorien geradezu konstitutiv große Aufmerksamkeit. Das sieht Buchstein natürlich selbst, fragt sich dann aber, wieso empirischen Phänomenen eine solche Aufmerksamkeit zukommt, ohne dass das Erfahrungswissen der empirischen Sozialwissenschaften hierbei systematisch herangezogen wird.

Das ist eine berechtigte Frage. Buchstein ist hier, wie auch im übrigen Text, ausgewogen in seiner Kritik, indem er von „gegenseitigen Blockaden“ spricht, also konzediert, dass nicht nur radikale Demokratietheorien kaum Bezug auf die empirischen Zweige der Sozialwissenschaften nehmen, sondern dass diese umgekehrt von der empirischen Politikwissenschaft wenn überhaupt, dann eher spottend zur Kenntnis genommen werden.

Damit ist viel gesagt und das führt mich zu meinem zweiten Punkt. Das Problem des Verhältnisses zwischen radikaler Demokratietheorie und empirischer Sozial- bzw. Politikwissenschaft ist meines Erachtens nicht zuletzt auf massive wissenschaftstheoretische und methodologische Differenzen zurückzuführen. Leforts Anfang der 1980er Jahre formulierte Kritik der empirischen Politikwissenschaft, die im Kern darin bestand, dass diese sich in einem positivistischen Objektivismus der Untersuchung von Partialphänomenen einer theoretischen Reflexion der Konstitutionsbedingungen politisch-normativer Ordnungen und ihrer Referenzkategorien verweigere, ist heute eher noch triftiger geworden. Sie wird dadurch verschärft, dass sich große Teile der Politischen Philosophie dieser Aufgabe ebenfalls entziehen, weil sie über normative Ordnungen abstrakt auf der Ebene von ideal theory nachdenken, der sie eine weitgehend unverbundene non-ideal theory gegenüberstellen, so dass die Beziehung zwischen historischen Kontexten und der in ihnen stattfindenden Konstitution normativer und institutioneller Ordnungen ausgespart wird.

Aufseiten der empirisch orientieren Politikwissenschaft lässt sich umgekehrt teils eine völlige Abkehr von theoretischen Fragestellungen konstatieren. Das betrifft nicht nur die radikale Demokratietheorie. Auch das Verhältnis zwischen Politischer Theorie in einem weiteren Sinn und empirischer Politikwissenschaft ist etwas zerrüttet. Die Frage ist, wie man damit umgehen soll. Die regelmäßig wiederholte Frage, wie die Politische Theorie an die empirische Politikwissenschaft Anschluss finden kann – mit der oft ein Defizit der theoretisch orientierten Forschung impliziert wird (in der deutschen politikwissenschaftlichen Debatte beliebte Stichworte: mangelnde Professionalisierung und Internationalisierung) – hilft hier nach meinem Dafürhalten nur bedingt. Man muss an dieser Stelle auch selbstbewusst darauf hinweisen, dass die empirische Politikwissenschaft mit dieser notorisch zur Schau gestellten Theorieaversion auf dem Holzweg ist, weil sie so an der Oberfläche der Phänomene bleibt und deren Genese kaum zu erfassen vermag: Als Beispiel mag der mittlerweile breit beforschte Rechtspopulismus dienen, dessen Erstarken radikaldemokratische Autor*innen wie Rancière und Mouffe schon in den 1990er und frühen 2000er Jahren prognostiziert und theoretisch einleuchtend mit den Folgen neoliberaler Konsenspolitiken in Verbindung gebracht haben, während sich die empirische Wahlforschung noch in den 2010er Jahren Wahl um Wahl in ihren Prognosen „verrechnet“ hat. Deshalb sind radikale Demokratietheorien nicht als Abstraktion von empirischen Einsichten, sondern als Kritik am theorie-aversen Zustand der empirischen Politikwissenschaft zu verstehen. Mit diskursanalytischen Studien, auf die ich, wie auch Buchstein erwähnt, am Beispiel der Arbeiten Martin Nonhoffs hinweise, entwickelt sich seit einiger Zeit übrigens eine ausgesprochen theorieaffine Variante empirischer Sozialforschung, die zu einem Gutteil selbst aus der (Politischen) Theorie erwächst.

Vielleicht helfen ja solche Entwicklungen auch dabei, wechselseitige Blockaden zu überwinden – eine Aufgabe, die Buchstein zu Recht unterstreicht, hängt an ihr schließlich nicht weniger als die Zukunft der Politikwissenschaft als einer kritischen, zugleich theoriegeleiteten und empirisch informierten Disziplin. Die Hegemonie einer vielfach brachialen positivistischen Methodologie und Wissenschaftstheorie auf Seiten der drittmittelmächtigen empirischen Zweige der Politikwissenschaft steht einer solchen Blockadenauflösung aber nach meinem Eindruck stärker im Weg als eine vermeintliche Empirie-Aversion der radikalen Demokratietheorie – denn, Hand aufs Herz, nicht nur radikale Demokratietheorien werden in der empirischen Politikwissenschaft kaum zur Kenntnis genommen, sondern (Politische) Theorie insgesamt. Das ist übrigens in Nachbardisziplinen wie der Soziologie durchaus anders, in der zwar auch die quantitativen Teile des Fachs nicht gerade theorieaffin sein mögen, wohingegen aber in den qualitativen empirischen Strängen der Soziologie eine umfangreiche Theorierezeption an der Tagesordnung ist. Dort findet übrigens, ebenso wie in kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, eine intensive und spottfreie Rezeption radikaldemokratischer Theorien statt.

(3) Eine dritte kritische Rückfrage richtet Buchstein schließlich an das Verhältnis von radikaler Demokratie und Institutionen. Hier bleibt der Beitrag radikaldemokratischen Denkens nach seinem Eindruck deutlich hinter den Erwartungen zurück, die eine ernstzunehmende Demokratietheorie an sich richten muss. Buchsteins Polemik bleibt auch bei diesem letzten Punkt freundlich, denn er lässt nicht unerwähnt, dass sich radikale Demokratietheorien in jüngerer Zeit durchaus mit institutionentheoretischen Fragestellungen beschäftigt haben, und er scheint sie ermuntern zu wollen, sich noch stärker auf solche Fragen einzulassen. Völlig berechtigt scheint mir übrigens sein Hinweis, dass im radikaldemokratischen Theoriediskurs viele klassische Positionen der Demokratie- und Institutionentheorie einer Rezeption harren – gerade auch der Hinweis auf Fraenkels pluralistische Institutionentheorie ist in der Tat überfällig.

Am Verhältnis von radikalen Demokratietheorien und Institutionen zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass nicht von radikaler Demokratietheorie im Singular, sondern von radikalen Demokratietheorien die Rede sein muss. In meinem Einführungsbuch unterscheide ich in institutionentheoretischer Perspektive grob zwischen drei Ansätzen: Erstens solchen, denen zufolge Demokratie tatsächlich über staatliche Institutionen hinausweisen muss (dafür mag Abensour ein Beispiel sein); zweitens Ansätzen, die die Kritik von Institutionenordnungen zwar für die eigentliche Aufgabe von Demokratie und Demokratietheorie halten, denen es aber nicht um eine Überwindung von Institutionen geht (das ist meines Erachtens bei Rancière der Fall); und drittens schließlich Ansätze, für die die Gestaltung von Institutionen ein zentrale demokratische und auch demokratietheoretische Aufgabe darstellt (hier ist etwa an Mouffes Arbeiten zu denken).

Es ist hier nicht der Raum, diese komplexe Diskussionslage in einer differenzierten Form prüfend mit Buchsteins Einwänden zu konfrontieren. Ich nehme stattdessen einen shortcut und werde lediglich kurz darlegen, warum ich der mittleren Position zuneige und denke, dass radikale Demokratietheorien gut beraten sind, sich auf diese Position zu beschränken. Ich gebe ohne weitere Umschweife zu, dass ein solches Verständnis von radikaler Demokratietheorie auf viele der von Buchstein aufgeworfenen Fragen keine Antwort bereithält – worin ich aber nicht zwangsläufig ein Defizit, sondern eher, wie eingangs schon angedeutet, ein anderes Verständnis von Demokratietheorie sehe.

Für die mittlere Position sprechen aus meiner Sicht vor allem zwei Gründe:

Erstens ist es für radikaldemokratische Demokratieverständnisse zweifelsohne wichtig, die institutionenbefragende und gegebenenfalls auch -aufbrechende Dimension von Demokratie zu betonen, um denjenigen Gruppen emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen, die an den bestehenden institutionellen und normativen Ordnungen keinen oder nur einen marginalisierten Anteil haben. Gleichzeitig müssten solche emanzipatorischen Kämpfe aber auch eigentümlich ergebnislos bleiben, wenn sie nicht selbst wiederum auf Institutionalisierungsperspektiven dringen würden – und zwar die Institutionalisierung dessen, was bereits erkämpft wurde. Deshalb bleiben Institutionen nach meiner Überzeugung gerade für eine radikale Demokratietheorie ein wichtiger Bezugspunkt. Dabei widerspreche ich übrigens ausdrücklich der zuweilen von Rancière nahegelegten Auffassung, dass demokratische Politik in diesem Sinne selten ist, weil sie meines Erachtens eben nicht nur dann stattfinden kann, wenn es große Aufbrüche und Umwälzungen gibt, sondern sie sich auch auf der Zeitachse gestreckt in vielen kleinen Schritten manifestieren kann. Das geht nach meinem Dafürhalten übrigens auch noch einmal über die sozialistisch-sozialdemokratische Revolution- vs. Reformdebatte hinaus, auf die Buchstein in diesem Zusammenhang verweist. Denn im Unterschied zu Reformideen betont auch die radikaldemokratische Politik der kleinen Schritte das Moment des Hinausgehens über eine bestehende institutionelle Ordnung und sieht darum nicht politische Institutionen wie Parlamente als primäre oder gar exklusive Orte des politischen Geschehens an. Den Gegensatz zwischen Reform und Revolution gibt es so gesehen gar nicht.

Zweitens: So wichtig Institutionen aus radikaldemokratischer Perspektive sein mögen, so wenig kann es die Aufgabe radikaler Demokratietheorien sein, so etwas wie Institutionenmodelle zu formulieren, die für diese oder jene Aufgabe besser geeignet sein sollen als andere. Nehmen sie ihre eigenen kontingenztheoretischen Annahmen auch nur halbwegs ernst, sind radikale Demokratietheorien sind nach meinem Dafürhalten tatsächlich gut beraten, solche Fragen der Gestaltung von Institutionen einer demokratischen Praxis zu überlassen. Zu dieser Praxis tragen sie freilich bei, indem sie Teil der demokratisch-reflexiven Selbstkritikaktivitäten unserer Gegenwartsgesellschaften sind. Damit ist zugleich aber auch gesagt, dass ich Buchsteins Mahnung, sich auch aus radikaldemokratischer Perspektive mit konkreten institutionellen und institutionentheoretischen Fragen zu beschäftigen, keineswegs zurückweisen, sondern eher unterstreichen möchte. Allerdings schlage ich eine Akzentverschiebung gegenüber Buchsteins Ansinnen vor: Während er radikalen Demokratietheorien nachdrücklich die Aufgabe ins Stammbuch schreiben möchte, dass sie sich nicht „von der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Richtungen für das proklamierte Ringen um das ‚Politische‘ sinnvoll sind“ dispensieren können, und dann konkrete institutionelle Vorschläge erwartet, würde ich demgegenüber geltend machen, dass es radikalen Demokratietheorien weniger um die Antworten als um die Beteiligung an einer demokratischen Praxis der kritischen Befragung gehen muss. Kleinteilige Beschäftigungen mit konkreten Fragen schließt das ausdrücklich mit ein und ich gestehe gerne ein, dass radikale Demokratietheorien in dieser Hinsicht durchaus noch Defizite aufweisen. Die Aufgabe einer Suche nach Antworten müssen sie sich deshalb jedoch keineswegs zu eigen machen, wie ich diese auch insgesamt nicht für das Kernanliegen von Demokratietheorie halte.

 

Oliver Flügel-Martinsen ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bielefeld. Zu seinen aktuellen Forschungsinteressen gehören: Theorien des Politischen, kritische Demokratietheorie und postmarxistische Gesellschaftskritik.

Ein Kommentar zu “Buchforum: Radikale Demokratietheorien zur Einführung

  1. Ich habe Fragen zu den beiden folgenden Passagen zur ersten Gruppe der kritischen Nachfragen von Buchstein:
    „Meine These ist nun, dass sich radikale Demokratietheorien über die damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen umfassender Rechenschaft ablegen als normative Demokratietheorien, weil sie sich nicht in die Illusion einer begründeten oder begründbaren Normativität flüchten, die auf fragwürdigen Gründen ruht und die selbst leicht einen repressiven, exkludierenden oder abwertenden Charakter annehmen kann.“
    „Das radikale Demokratiedenken ist hier sogar eher bereit, diese Frage selbstkritisch offen zu reflektieren, indem es als konzeptionellen Kern – wenn man das dann noch so nennen will – eines emanzipatorischen Demokratieverständnisses die postessentialistische Forderung nach einer steten Revisionsbereitschaft im Lichte der Forderungen sozialer Bewegungen herausstellt. Will man die skizzierten Probleme normativer Kategorien vermeiden, sehe ich nicht, wie man an so einer Deutungsoffenheit vorbeikommt – betreibt man das ernsthaft, ist man aber bereits auf der Seite der radikalen Demokratietheorie.“
    Ist es für normative Demokratietheorien unvermeidbar sich in die Illusion (letztendlich) begründbarer Normativität zu flüchten? Oder hängt das von der konkreten wissenschaftlichen Praxis normativer Demokratietheoretiker*innen ab? Selbst der Diskursethik von Habermas (, zu dessen Vertreter ich mich aber nicht machen will,) ist ja die fundamentale Notwendigkeit von Revisionsbereitschaft im Lichte von Kritiken auch unterhalb der Schwelle sozialer Bewegungen eingeschrieben. Bedarf es dementsprechend nur einer konsequenten Umsetzung dieser Deutungsoffenheit, um derart fundierte normative Demokratietheorien auf die Seite der radikalen Demokratietheorie sozusagen zu ‚importieren‘ und urbar zu machen? Wird diesem Anspruch in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Praxis nicht ausreichend nachgekommen oder gibt es weitere, theorieinterne Hindernisse?

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