Habilitieren und Reisen: Erinnerungen an Rainer Schmalz-Bruns (2/2)

Zum Gedenken an Rainer Schmalz-Bruns, der am 31. März 2020 verstorben ist und mit dem die Politische Theorie und Ideengeschichte eine ihrer  prägenden Figuren verloren hat, sind bereits im Mai anstelle einer öffentlichen Gedenkveranstaltung einige Erinnerungen von WeggefährtInnen auf diesem Blog erschienen. Mit Hubertus Buchsteins und Andreas Vasilaches untenstehenden Beiträgen setzen wir dieses digitale Gedenken nun fort.

Habilitation als intellektuelle Re-Habilitation (Hubertus Buchstein)

Wie eine Habilitationsschrift hinbekommen? Diese Frage ist für jüngere Politikwissenschaftler*innen heute vermutlich genauso schwer zu beantworten, wie vor gut 35 Jahren. Für Rainer war nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Dissertation und nach der Mitarbeit in der Vorbereitung des Antrages für das DFG-Schwerpunktprogramm ‘Theorie Politischer Institutionen’ spätestens seit 1987 klar, dass er das Vorhaben ‘Habilitation’ zumindest versuchen wollte. Das ‘Wo?’ war nach der Zusage von Udo Bermbach, ihn an der Universität Hamburg zu unterstützen, schnell klar. Das ‘Wie finanzieren?’ wurde möglich durch seine Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Damit waren die beiden wichtigsten Fragen – “Worüber?” und “Wie krieg ich das hin?” – allerdings noch nicht beantwortet. Und Rainer drückte sich auf immer kreativere Weise darum, diese beiden doch so zentralen Fragen auf eine für ihn schlüssig erscheinende Weise zu beantworten. Stattdessen mäanderte er unermüdlich zwischen immer größer werdenden Bergen an Fachliteratur herum. Ab 1989 schrieb er in seiner Arbeitszeit in der Lüneburger Wohnung im Keller mit Aussicht im ruhigen Tempo ein Vortragsmanuskript, einen Aufsatz und einen Sammelbandbeitrag nach dem anderen. Geradezu stoisch saß er, zuweilen stundenlang, an Formulierungen und einzelnen Sätzen, bis dabei am Ende ein bis in jedes Detail durchkomponierter Text herauskam, der allein schon wegen seines Schwierigkeitsgrades geradezu einschüchternd wirken konnte.

Auch wenn er damit in Sachen Habilitationsschrift nach seiner eigenen Einschätzung keinen einzigen Schritt vorankam, so machte es ihm doch geradezu diebische Entdeckerfreude, wenn er den älteren Professoren (alles Männer) und seinen gleichaltrigen Kollegen und Kolleginnen aus ihnen bislang nicht bekannten Schriften aus der anglo-amerikanischen Debatte die argumentative Butter vom Brot nehmen konnte. Gleichzeitig war Rainer aber auch enorm großzügig im Umgang mit seinen vielen Manuskripten und Texten im Stadium von ‘work in progress’. Wer immer fragte, bekam eine Photokopie zugeschickt oder eine Diskette, die man dann am heimischen Nadeldrucker in Papierschlangen verwandelte. So kursierten Texte von Rainer auch unter Personen, die er selbst gar nicht näher kannte. Nicht immer ist Rainer mit dieser Großzügigkeit gut gefahren. In einer Zeit, in der das Auffinden von einschlägiger Literatur noch eine Leistung sui generis war, wurden seine Aufsätze von anderen vielfach als Literaturtipps ausgeschlachtet und fand sich die eine und andere seiner ingeniösen Formulierungen später ohne Quellenangabe in Artikeln anderer wieder. Auch ich habe einmal nicht widerstehen können und eine steile Formulierung von ihm auf diese unschöne Weise “übernommen” – eine Kombination von vier Worten nur, aber es genügte, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Doch Rainer erwies sich, als ich ihn darauf hinwies und bei ihm um Entschuldigung bat, erneut als großzügig und nahm meine Bitte ohne späteres Nachtragen an. Anders verhielt er sich nur dann, wenn er den Eindruck hatte, dass jemand es bewusst darauf anlegte, seine Texte auszubeuten. Gegen solche Kollegen vereinbarten er und ich eine Art Negativ-Kartell: Wir “straften” sie dadurch, dass wir sie nicht etwa besonders kritisierten, sondern dass wir sie in unseren Publikationen grundsätzlich niemals zitierten oder in anderer Weise auf sie Bezug nahmen; in einem Fall hielten wir das über zwei Jahrzehnte durch.

Die andere Seite von Rainers Großzügigkeit war, dass seine kursierenden Texte zu intensiven Diskussionen außerhalb des üblichen Sektions- und Tagungsgeschehens einluden. Mehrfach habe nicht nur ich, sondern mehrere andere aus unserer Kohorte, ihn zu Hause in Lüneburg für zwei oder drei Tage besucht und mit ihm zwischen den Büchermassen im Keller seine und andere Texte diskutiert. Das konnte stundenlang so gehen und es setzte, zunächst vom Rotwein animiert und zu morgendlich frühen Stunden durch guten Whisky aktiviert, Überlegungen frei, an die dann in späteren und nüchternen Tagen in Form von längeren Briefen der argumentative Anschluss gesucht wurde. Auf diese Art und Weise hat sich nach einer Reihe von solchen Kellersitzungen mit verschiedenen Gesprächspartnern das ‘Worüber?’ und ‘Wie?’ der Habilitationsschrift fast von selbst beantwortet. Für diejenigen, die einen neugierigen Blick in unser damaliges ‘Kellerlabor’ und das whiskygetränkte und rauchgeschwängerte Diskussionsklima werfen möchten, habe ich einen solchen Brief von Ende September 1993 beigefügt. Ich war zu dieser Zeit Hochschulassistent an der FU Berlin und hatte eben erst mit ersten Forschungen für meine eigene Habilitationsschrift zum Thema geheime und öffentliche Wahlen begonnen; eine Themenwahl, zu der mich Rainer nachdrücklich ermuntert hatte. Von mir und anderen aus seinem Kreis wollte er  wissen, ob und wie sich seine bisherigen Aufsätze in Richtung einer argumentativ geschlossenen Habilitationsschrift transponieren lassen könnten. Glücklicherweise hat er nicht alles, was ich ihm daraufhin in meinem Brief vorschlug, in seine ‘Reflexive Demokratie’ aufgenommen.

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RSB Intercontinental: Reisen mit Rainer (Andreas Vasilache)

Im Jahr 2015 ließ sich Rainer davon überzeugen, der Einladung von Mathias Albert zu einem Workshop zur deutschen Außenpolitik an die Munk School der University of Toronto zu folgen. Dass es hierfür nur ein wenig guten Zuredens (wenn auch von mehreren Seiten) bedurfte, wird zwar auch an seiner Verbundenheit zum Gastgeber gelegen haben. Die Teilnahme des eigentlich reiseunlustigen politischen Theoretikers an ausgerechnet einer Außenpolitiktagung jenseits des Atlantiks spiegelt aber vor allem Rainers außerordentliche Initiative für den subdisziplinären Brückenschlag zwischen Politischer Theorie und IB wider – für den er offensichtlich auch den persönlichen Preis der Interkontinentalreise zu zahlen bereit war. Sein wissenschaftliches Nachdenken zu den Möglichkeiten – und Grenzen – einer verlässlichen Demokratisierung jenseits des Staates hatte er ja insbesondere in den letzten Jahren um ein professionspolitisches Engagement mit dem Ziel dauerhafter und struktureller Kooperationen – vor allem, aber nicht nur – zwischen PT und IB ergänzt. Er war überzeugt, dass Sprechfähigkeit zwischen den Subdisziplinen die Kenntnisnahme der Diskurse der anderen und auch die Einlassung auf ihre Fragen erfordert – um dann eigene Perspektivierungen vorzunehmen, die über den Erwartungshorizont der jeweils intradisziplinären Aussichten hinausreichen.

Diesem Ziel und diesem eigenen Anspruch folgend stellte er in Toronto seine Überlegungen zu „The Normative Basis of Foreign Policy. An Institutional Conception of Global Responsibility“ vor, die ich als Discussant zu kommentieren die Freude hatte. Zur Initiierung der Diskussion hat es eines Kommentars aber nicht bedurft: Die Adaption seines Modells reflexiver Demokratie für Fragen (und Untiefen) des außenpolitischen Handelns stellte auch für jene Tagungsgäste, die mit seiner Arbeit vertraut waren, eine praxeologische Innovation dar. Insbesondere aber für die Teilnehmenden aus Kanada – und damit aus einem akademischen Kontext, in dem die IB eher als eigenständiges Fach denn als Bereich der Politikwissenschaft verstanden wird – hat Rainers Vortrag als Plädoyer für die Einheit des Faches gewirkt. Neben seinem Vortrag hat hierzu auch beigetragen, dass er sich in den einschlägigen Diskursen der IB (beinahe) ebenso gut auskannte wie ihre anwesenden Vertreter*innen selbst. Und auch Rainers intellektuelle Großzügigkeit trat in diesem internationalen wie interdisziplinären Kontext besonders hervor. Denn grundsätzlich galt: Dem interessanten Gedanken aus einem für ihn abseitigen Theoriekontext hat Rainer jederzeit den Vorzug vor dem Gemeinplatz aus dem eigenen Paradigma gegeben – das war selbst dann der Fall, wenn der vorgestellte Ansatz „natürlich eleganter Quatsch bleibt“. Seine intellektuelle Offenheit und Großzügigkeit war nie Beliebigkeit im Urteil: So konnte man z.B. bei Ablehnung der Wehrpflicht schnell eines radikallibertären Individualismus geziehen werden, freilich mit einem ironischen Unterton.

Kurzum: Seine Teilnahme und die gemeinsamen Tage in Toronto waren ein großer Gewinn für mich. Dass er sich auf den Weg nach Toronto gemacht hat, ist ihm hoch anzurechnen – nicht nur, weil Kanada auch im internationalen Vergleich dem Tabakkonsum besonders restriktiv begegnet, sondern weil Rainer den bisweilen allzu prätentiösen Ansprüchen der Weltstadt wenig abgewinnen konnte. Die molekulare italienisch-chinesische Fusionsküche des Welcome Dinner war jedenfalls seine Sache nicht. Für die am anderen Ende der Raffinesse-Skala angesiedelte Poutine galt dies ebenso. Seine Feststellung der „kulinarischen Irritation“ war merklich nicht im wertfreien Sinne der Systemtheorie zu verstehen, sondern in der außenpolitischen Verwendung des Wortes – beziehungsweise als heiliger Zorn. Doch das die Reise begleitende Hintergrundgrummeln Rainers bestand nur ganz am Rande in Wehklagen über die ihm auferlegten Bürden, sondern letztlich in der sehr genauen Beobachtung und zugewandten Reflexion sozialer Situationen in der global city. Dass Rainer in diesem polyglotten Kontext also doch bestens aufgehoben war, hat sich denn auch in seinem Vortragsstil gezeigt: Auch in englischer Sprache war ein RSB-Satz unverwechselbar. Er wird fehlen. Er fehlt schon jetzt.

 

 

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