Offener Brief an den Deutschen Ethikrat anlässlich seiner Stellungnahme zur „Achtung des Tierwohls in der Nutztierhaltung“

Kürzlich veröffentlichte der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zur Nutztierhaltung in Deutschland. Während die meisten Medien die scharfe Kritik an der aktuellen Agrarpolitik in den Vordergrund stellten, die der Ethikrat vorbringt, sind viele Tierethikerinnen und Tierethiker enttäuscht von dem Papier, weil es insgesamt viel zu schwache praktische Forderungen enthalte. 16 Philosoph*innen, die zur Tierethik arbeiten, haben darum einen offenen Brief an den Ethikrat verfasst, den theorieblog.de im Folgenden auch deshalb vollständig widergibt, weil damit die Relevanz politiktheoretischer und politikphilosophischer Diskussionen über Animal Politics unterstrichen wird, die jüngst beispielsweise von Bernd Ladwig nochmals vertieft wurden.

 

„Sehr geehrte (ehemalige) Mitglieder des Deutschen Ethikrates,

in Ihrer jüngsten Stellungnahme betrachten und bewerten Sie den aktuell üblichen Umgang mit Tieren in der Nutztierhaltung. Wir, die als Philosophinnen und Philosophen zur Tierethik arbeiten, begrüßen es sehr, dass dieses ethisch und politisch so wichtige Thema endlich auch vom Deutschen Ethikrat aufgegriffen wird. Die moralischen Grundvorgaben, auf die Sie sich im Rat einigen konnten, werden von uns zwar nicht uneingeschränkt geteilt, sind aber nachvollziehbar und sicher gesellschaftlich weitgehend anschlussfähig.

Die von Ihnen aufgestellten Prinzipien haben allerdings in der Praxis sehr viel weiterreichende Konsequenzen als diejenigen, die Sie formulieren. Ihre Stellungnahme weist in dieser Hinsicht einen Widerspruch auf zwischen Prinzipien und Anwendung, der auch den öffentlichen Tierschutzdiskurs kennzeichnet. Die Stellungnahme bleibt bei der Bewertung der heutigen Nutztierhaltung weitgehend übervorsichtig und vage. In der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts sagten Sie gar, es ginge nicht darum, „das Schnitzel zu verteufeln oder die Nutztierhaltung insgesamt zu verdammen“. Stattdessen müsse die bestehende Praxis besser reguliert werden.

Dabei ist die Weise, wie Tiere heute genutzt werden, in der konventionellen wie auch in der ökologischen Tierhaltung, nicht mit den ethischen Prinzipien vereinbar, die Sie selbst formulieren. Das gilt auch dann, wenn wir die grundsätzlichen Fragen danach ausklammern, ob wir Tiere für die Ernährung in ihrer Freiheit einschränken oder töten dürfen. Zum Thema „Schutz und Förderung des Tierwohls“ heißt es beispielsweise: „Allen Nutztieren ist während ihres ganzen Lebens ein möglichst gutes Gedeihen und Befinden zu ermöglichen, das ihren artspezifischen Verhaltensformen und Erlebnismöglichkeiten entspricht.“ Obwohl sich ein ähnlicher Passus bereits im Tierschutzgesetz findet, ist dieses Prinzip typischerweise weder in konventionellen noch in Biobetrieben erfüllt.

Zum artspezifischen Verhalten von Schweinen gehört es, in Gruppen und Familienverbänden zu leben, zu laufen, in der Erde zu wühlen und Nester zu bauen. Alles das können sie in den üblichen Haltungssystemen nicht ausleben. Selbst in Biohaltung bedeutet Auslauf fast immer nur eine Außenbucht mit Betonboden und einem Quadratmeter Platz pro Schwein. Beinahe alle Hühner werden in Gruppen von mehreren tausenden bis zehntausenden Tieren gehalten. Sie können keine soziale Rangordnung aufbauen, die allermeisten können nicht sandbaden oder angemessen ruhen. Praktisch alle kommerziell genutzten Tiere wachsen mutterlos auf, was ebenfalls nicht ihren „artspezifischen Verhaltensformen“ entspricht. In der Stellungnahme betonen Sie selbst, dass die Trennung von Mutter- und Jungtieren nicht akzeptabel sei. Sie wird jedoch überall praktiziert, auch in der ökologischen Tierhaltung. Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen. Es ist schlicht nicht möglich, Tiere unter wirtschaftlichen Bedingungen zur Erzeugung von Fleisch, Milch und Eiern zu nutzen, ohne sie empfindlich einzuschränken und ihnen vermeidbare Leiden zuzufügen.

Wenn Sie die Prinzipien tatsächlich akzeptieren, die Sie formulieren, dann müssen Sie zwangsläufig eine grundlegende Agrar- und Ernährungswende einfordern. Denn so gut wie alle heute praktizierten Formen der Nutztierhaltung müssten aufgegeben oder umfänglich modifiziert werden, damit müsste auch die Menge der verzehrten Produkte tierlichen Ursprungs mindestens drastisch sinken. In Ihrer Stellungnahme ist davon aber keine Rede. Im Gegenteil: An den Stellen, an denen Sie konkret werden, sind die Änderungen, die Sie anmahnen, zumeist erschreckend klein: So kritisieren Sie Spaltenboden, Kastenstand oder betäubungslose Kastration und legen damit nahe, dass eine Abschaffung derselben das Problem lösen würde. Sie scheinen noch nicht einmal eine allgemeine Anhebung auf Bio-Standard im Auge zu haben.

Im Hinblick auf Ernährung fordern Sie gar, Kantinen sollten verpflichtet werden, „immer auch eine fleischfreie Option anzubieten“. Das ist heute schon verbreitete Praxis und wird offensichtlich nicht die drastische Reduktion des Konsums bewirken, die angesichts Ihrer ethischen Forderungen nötig wäre. Sie sprechen zwar von „erheblichen Umstellungen, Anpassungen und Kostensteigerungen“, aber nichts im Papier lässt darauf schließen, dass Sie damit mehr meinen als überschaubare Reformen von Tierschutzgesetz und Umsetzungspraxis, wie sie etwa auch die Borchert-Kommission vorschlägt. Das ist aber in Anbetracht der Prinzipien bei weitem nicht genug.

Es ist ein Grundproblem des Tierschutzdiskurses, dass immer wieder hehre Ideale formuliert werden, die sich jedoch nicht in einer veränderten Praxis niederschlagen. Natürlich ist uns bewusst, dass Änderungsprozesse in der Regel in einzelnen, oft kleinen Schritten passieren, und dass mächtige Interessengruppen wie auch viele Bürgerinnen und Bürger hinter der Nutztierhaltung und dem Tierkonsum stehen. Aber es ist nicht die Aufgabe des Ethikrates, die unvermeidlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse und Kompromisse gleichsam schon vorwegzunehmen und in die eigene Position zu integrieren. Im Gegenteil hat gerade eine Institution wie der Ethikrat die Chance und damit aus unserer Sicht auch die Pflicht, auch unbequeme Folgen der eigenen Annahmen anzuerkennen und auszusprechen. Darin bestünde ein wichtiger Beitrag zu einer ehrlich geführten gesellschaftlichen Debatte. Anstatt über Anpassungen im Detail zu diskutieren, müssen wir die Grundbedingungen der kommerziellen Nutzung von Tieren thematisieren. Wir müssen die Strukturen angehen, die die staatlichen Entscheidungsprozesse prägen und für den weitgehenden Stillstand mitverantwortlich sind. Und wir müssen endlich konkrete Pläne erarbeiten, wie die dringend nötige grundlegende Agrar- und Ernährungswende praktisch und sozial gerecht umgesetzt werden kann.

 

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Dr. Johann S. Ach, Universität Münster

Dr. Norbert Alzmann, Neu-Ulm/Tübingen

Prof. Dr. Birgit Beck, Technische Universität Berlin

Prof. Dr. Dagmar Borchers, Universität Bremen

Leonie Bossert, Universität Tübingen

Prof. Dr. Anne Burkard, Universität Göttingen

Dr. Mara-Daria Cojocaru, Hochschule für Philosophie München

Dr. Arianna Ferrari, Berlin

Dr. Philipp von Gall, Berlin

Prof. Dr. Bernd Ladwig, Freie Universität Berlin

Dr. Friederike Schmitz, Berlin

Hilal Sezgin, Lüneburg

Jens Tuider, Berlin

Dr. Tatjana Višak, Universität Bayreuth

Prof. Dr. Markus Wild, Universität Basel

Prof. Dr. Ursula Wolf, Universität Mannheim

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