theorieblog.de | Widerständige Städte – Paul Sörensens ZPTh-Artikel in der Diskussion

25. Mai 2020, Frick

Das aktuelle Heft (1/2019) der Zeitschrift für Politische Theorie ist frisch erschienen und die beiden Gastherausgeber*innen Robin Celikates und Frauke Höntzsch versammeln darin Beiträge zu dem Themenschwerpunkt „Widerstand, transnational“. Christian Leonhard und Martin Nonhoff  entwickeln das Konzept der ,widerständigen Differenz‘, um die Praxis transnationaler sozialer Bewegungen widerstandstheoretisch zu erfassen; Henning Hahn entwirft den Grundriss einer normativen Theorie globalen zivilen Ungehorsams und Sebastian Berg und Thorsten Thiel untersuchen Widerstand und die Formierung von Ordnung in der digitalen Konstellation. Neben diesen Beiträgen zum Thema Widerstand enthält das Heft außerdem noch eine Abhandlung von Mario Schäbel zum Verhältnis von Marx und Adornos negativer Dialektik sowie von Karsten Schubert zur anti-anarchistischen Foucault-Lektüre.

Paul Sörensens Aufsatz zu Widerstand findet Stadt. Präfigurative Praxis als transnationale Politik ,rebellischer Städte‘ gehört ebenfalls zum aktuellen ZPTh-Schwerpunkt. Wir freuen uns, dass wir ihn im Rahmen unserer bewährten Zusammenarbeit mit der ZPTh kostenlos zum Download zur Verfügung stellen können – und dass Verena Frick den Aufschlag zur Debatte übernimmt. Wir laden zugleich alle herzlich ein, mit in die Diskussion einzusteigen und die Kommentarspalten zu füllen. Paul Sörensen wird dann auf den Kommentar und die Diskussion antworten. Los geht‘s heute mit dem Kommentar von Verena Frick:

Widerständige Städte

Im Zuge der neuzeitlichen Verstaatlichung der Politik stehen Städte nur noch selten im Fokus der Politischen Theorie. Wer sich aus politiktheoretischer Perspektive dennoch der Stadt zuwendet, setzt sich rasch dem Verdacht aus, ein ,eigentliches‘ antikes Polis-Ideal gegen die Verwirklichungsbedingungen moderner Demokratien auszuspielen. Über die meist vorschnelle Identifizierung von Stadt und Polis droht der Politischen Theorie jedoch zu entgehen, dass Städte unter den Bedingungen der Globalisierung als Orte des Politischen neue Relevanz erfahren. Unsere Nachbardisziplinen der Soziologie und Humangeographie analysieren längst, wie sich Städte im 21. Jahrhundert zu umkämpften Räumen entwickeln, in denen sich gesellschaftliche Herausforderungen wie soziale Ungleichheit, Klimawandel oder Migration verdichten, und die zugleich verstärkt politischen Gestaltungsanspruch reklamieren. Paul Sörensens bemerkenswerter Beitrag bricht das Schweigen der Politischen Theorie und lenkt am Beispiel der neuen munizipalistischen Bewegungen den politiktheoretischen Blick auf Städte als eigenständige Räume politischen Handelns. Dabei verfolgt er ein zweifaches Erkenntnisinteresse: Der Text will einen Beitrag zur politischen Theorie des Widerstands leisten, die Sörensen um das Konzept der „munizipalistischen Präfiguration“ erweitert, und zugleich vermisst er das politische Transformationspotenzial, das von den rebellischen Städten in transnationaler Perspektive ausgeht. Der Beitrag liefert wichtige Argumente, warum sich die politische Theorie stärker als bislang der Stadt zuwenden sollte, gleichwohl bin ich skeptisch, dass die Widerstandstheorie dafür den geeigneten Weg weist. Ihr anti-staatlicher, auf Kritik und Kontestation gerichteter Fokus ist schwerlich geeignet, normative Leitbilder für die propagierte gesellschaftliche Transformation zu entwickeln.

Die Praxis des städtischen Widerstands

Unter dem Begriff des ,Neuen Munizipalismus‘ firmieren eine Reihe unterschiedlicher politischer Bewegungen weltweit, denen Sörensen zufolge gemeinsam ist, dass sie ihre Programmatik und Forderungen auf die Stadt ausrichten und den städtischen Raum als transformativ-widerständigen Ort verstehen. Dazu zählen etwa das sanctuary city movement, zu dem sich seit den 1980er Jahren vorwiegend US-amerikanische Städte als Opposition gegen die nationale Migrationspolitik formiert haben, die zahllosen Recht-auf-Stadt-Initiativen oder die Bewegung Barcelona en Comú (vormals Guanyem Barcelona), die nach der Finanzkrise mit dem Versprechen einer partizipativen und redistributiven Stadtpolitik angetreten ist und seit 2015 die Bürgermeister*in stellt. Sörensen erkennt in den Aktivitäten dieser Bewegungen die gemeinsame Strategie, autonome Selbstorganisation mit institutionellem Handeln zu verbinden. Widerstand erscheint hier nicht als primär weltentziehende Praxis, die sich der Zusammenarbeit mit bestehenden städtischen Institutionen verweigert, sondern beabsichtigt ganz im Gegenteil ,den Marsch durch die Institutionen‘, um sie im Sinne der eigenen politischen Ziele anzueignen und umzubilden.

Mit den gängigen Theorien des Widerstands lässt sich diese Doppelstrategie aus autonomer Selbstorganisation und institutionellem Handeln, wie Sörensen überzeugend argumentiert, indes nur schwer erfassen: Vertreter*innen der Hardt/Negri-Tradition kennzeichnen Widerstand durch die Ablehnung klassischer Institutionen und propagieren vielmehr die Etablierung autonomer Räume, Vertreter*innen der Laclau/Mouffe-Tradition wiederum verorten Widerstand im Kampf um Hegemonie und votieren für die parteiförmig-parlamentarische Machtübernahme explizit staatlicher Institutionen. Um diese Leerstelle zu füllen und das Transformationspotenzial der munizipalistischen Bewegungen zu erfassen, entwickelt der Beitrag den vielversprechenden Vorschlag, die Praxis der städtischen Bewegungen mit dem Konzept der „munizipalistischen Präfiguration“ zu erfassen.

Neue Institutionalität durch Widerstand

Es mag zunächst überraschen, dass Sörensen – gerade um die institutionenbildende und ‑transformierende Seite der Munizipalismen abzubilden – auf das Konzept der präfigurativen Politik zurückgreift, wie es im Umfeld des deutschen Anarchismus, namentlich von Gustav Landauer, entwickelt wurde. Doch Sörensen löst es von den anarchistischen Wurzeln Landauers, der noch den weltabgewandten Rückzug in den ländlichen Sozialismus propagierte und damit die Hoffnung verband, die herrschenden Verhältnisse würden durch „den zwanglosen Zwang der experimentell vorgelebten Alternative“ (S. 35) irgendwann einfach absterben. Stattdessen reduziert Sörensen das Konzept auf seinen semantischen Kern: Präfiguration bezeichnet demnach erstens ethisches Handeln, das die Kongruenz zwischen ethischen Normen und nötigen Mitteln wahrt, und zweitens die Praxis des Aufbaus von Gegeninstitutionen und sozialen Strukturen, die die Realisierbarkeit der ethischen Maxime demonstrieren. Damit kommen nun die kommunalen Institutionen selbst, wie Sörensen schreibt, „als Orte (transformatorischer) präfigurativer Praxis in den Blick“ (S. 37), mit deren Übernahme durch die munizipalistischen Bewegungen eine neue Institutionalität hergestellt werden könne.

Eine analytische Stärke dieses Ansatzes scheint mir, dass der Blick geschärft wird für das präfigurative Potenzial institutioneller Innovationen wie wir sie im Kleinen in vielen Städten bereits heute beobachten können, die sich gegen die Auswüchse der neoliberalen Stadtentwicklung stemmen (der Beitrag verweist etwa auf Reformen des Liegenschaftsvergabesystems in Leipzig) – ohne das Ziel umfassender gesellschaftlicher Transformation aufzugeben. Zugleich ist der Ansatz auch in systematischer Hinsicht fruchtbar, da er eine Dialektik von Destitution und Konstitution der Praxis städtischen Widerstands erhellt, die die vorwiegend auf Konflikt konzentrierte politische Theorie des Widerstands um Konstellationen der Institutionalisierung bereichert. Damit geraten Institutionen als Verwirklichungschance widerständiger Politik in den Blick.

Auf diese Weise reicht das Konzept der munizipalistischen Präfiguration – ob vom Autor auch tatsächlich intendiert, sei dahingestellt – auch stärker assoziativ grundierten Politikvorstellungen gewissermaßen die Hand. Institutionelle und bürgerschaftliche Transformation als Voraussetzung für die Demokratisierung der Demokratie stehen etwa im Zentrum partizipativer Demokratietheorien. Sie setzen nicht zufällig, wie Benjamin Barbers Idee der new cosmopolis zeigt, auf das spezifische Integrationspotenzial städtischer Politik. Und was die in Aussicht gestellte neue Institutionalität anbelangt, ergeben sich Anknüpfungspunkte an die Forschung zu demokratischen Innovationen, deren Erprobung eines der Kernanliegen vieler munizipalistischer Bewegungen ist.

Zugleich zeigen sich mit Blick auf die konstituierende Dimension präfigurativer Politik auch die Grenzen einer widerstandstheoretischen Perspektive auf die rebellischen Städte. Denn anders als in den vorgenannten assoziativen Demokratietheorien, bleiben normative Anforderungen an die präfigurativ zu schaffenden Institutionen offen. Dem von Sörensen favorisierten „produktiven Widerstandsverständnis“ (S. 40) fehlen demokratietheoretische Leitbilder für die alternative städtische Ordnung oder zumindest Hinweise, wie eine solche aussehen könnte. Unbestrittenermaßen ist eine politische Theorie der Stadt – abgesehen von einzelnen Ansätzen wie Margaret Kohns urban commonwealth – derzeit noch ein Desideratum. Inwiefern dazu aber von einer widerstandstheoretischen Perspektive Impulse ausgehen können, bleibt nach der Lektüre des Beitrags unklar. Auch Sörensens Konzept der munizipalistischen Präfiguration ist mit seinem Fokus auf Kontestation und Kritik letztlich doch in einer gewissen Selbstbezüglichkeit der Widerstandstheorie verhaftet.

Zum Transformationspotenzial rebellischer Städte

Aber lohnt es sich für die Politische Theorie überhaupt, Energie auf eine solche politische Theorie der Stadt zu verwenden?  Und kann in den rebellischen Städten eine verallgemeinerungsfähige politische Praxis entstehen, die zur gesamtgesellschaftlichen Transformation taugt? Sörensen bejaht diese Fragen und will die munizipalistischen Bewegungen so vor der normativen Irrelevanz retten, die Michael Walzer ihnen kürzlich noch attestiert hat. Dem ist im Ergebnis nur zuzustimmen, Skepsis ist allerdings gegenüber der von Sörensen eingeschlagenen widerstandstheoretischen Route angebracht, die im Nationalstaat traditionell nur ihren bevorzugten Gegner erblickt.

Sörensen zufolge ist es gerade die Kopplung von Widerstand und Transformation gepaart mit einer dezidiert transnational ausgerichteten Strategie der Vernetzung zwischen den munizipalistischen Bewegungen, die einer transnationalen Widerstandspraxis mit „Ansteckungseffekten“ den Weg bahnt. Am Ende könnte nichts weniger stehen als die „Aufhebung einer nationalstaatlich verfassten Weltordnung von unten“ (S. 42) und die Infragestellung des staatlichen Monopols auf territoriale Souveränität. An ihre Stelle würde ein postnationales urban citizenship treten, das „die (national)staatlich-herrschaftsförmige Einteilung von Citizens und Non-Citizens“ (S. 43) zu unterlaufen in der Lage sei. Mit seiner Schlussfolgerung liegt Sörensen dann wieder ganz bei Gustav Landauer, der inzwischen gewissermaßen vom Land in die Stadt gezogen ist: Der zwanglose Zwang der nunmehr urban gelebten Alternative soll der nationalstaatlichen Logik ihre Selbstverständlichkeit nehmen und sie entkräften.

Offen bleibt dabei, wodurch die partikularen rebellischen Städte eigentlich das Mandat für die gesamtgesellschaftliche Transformation erhalten. Sörensen will die Stadt zwar nicht lediglich als Bühne verstehen, bietet aber über das klassische Kriterium der Dichte hinaus wenig Argumente, die für eine besondere Relevanz des Städtischen für demokratische Ordnungen sprechen. Dabei droht insbesondere der antistaatliche Affekt den relationalen Charakter der Stadt zu verkennen. Zwar konstituieren Städte eigene Räume des Politischen, als politische Einheiten sind sie gleichwohl nur in Beziehungen denkbar. Historisch betrachtet war es vor allem der soziale und politische Gegensatz von Stadt und Land, der dem Begriff der Stadt Kontur verlieh. Bis heute ist in den Stadtbegriff das emanzipatorische Versprechen auf individuelle und kollektive Handlungsfreiheit eingeschrieben, das von der urbanen Lebensweise und entsprechenden Autonomierechten gestützt wird. Die Realisierungschancen dieses Versprechens sind wiederum abhängig von den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen städtischen Handelns und damit besonders durch das Verhältnis von Stadt und Staat präformiert. Das demokratische und transformatorische Potenzial der Städte hängt davon ab, wie das Verhältnis zwischen den beiden ausgestaltet ist.

Damit die rebellischen Städte langfristigen Erfolg haben und transformative Kraft entfalten können, müssen wir also vielmehr, wie etwa Ran Hirschl in seinem dieser Tage erscheinenden Buch argumentiert, bei diesem Verhältnis ansetzen. Den Staat dabei ausschließlich als Gegner zu betrachten oder die staatliche Ebene ganz zu umgehen, blendet nicht nur das Ausmaß der Verbindung zwischen Stadt und Staat aus, sondern auch die Rolle des Staates als potentieller Garant einer erkämpften neuen Institutionalität. Denn eine verallgemeinerungsfähige politische Praxis kann in den rebellischen Städten nur entstehen, wenn sie mit dem Gleichheitsversprechen der Demokratie in Einklang gebracht und in egalitarisierender Weise allen substaatlichen Einheiten eröffnet wird – für zahme Dörfer wie für rebellische Städte. Ohne ,den Staat‘ als vermittelnde Instanz dafür drohen die munizipalistischen Bewegungen tatsächlich entweder in die Falle der Irrelevanz zu tappen oder aber den Weg in ein neues Mittelalter zu weisen, in dem irgendwann womöglich reale und virtuelle Mauern die rebellischen Städte als Inseln der Demokratie umgeben.

Verena Frick ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Georg-August-Universität Göttingen, Mitglied des Redaktionsteams dieses blogs und spezialisiert auf das Verhältnis von Politik und Recht, den demokratischen Konstitutionalismus sowie die politische Theorie der Stadt.


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