theorieblog.de | „Es ging nie darum, zu gewinnen, sondern ums Ganze.“ – Erinnerungen an Rainer Schmalz-Bruns
5. Mai 2020, Flügel-Martinsen, Gaus, Kreide, Jörke, Landwehr & Albert
Am 31. März 2020 ist Rainer Schmalz-Bruns nach schwerer Krankheit in Lüneburg gestorben. Sein Tod hat weit über den Kreis Politischer Theoretikerinnen und Theoretiker hinaus Bestürzung und große Anteilnahme ausgelöst. Schon verschiedene erste Nachrufe – auch auf diesem blog – zeugen von großer Bewunderung, Freundschaft und Dankbarkeit für die Persönlichkeit und wissenschaftliche Kraft von Rainer Schmalz-Bruns. Auch weil die aktuelle öffentliche Lage gemeinsame Gedenkveranstaltungen vorerst nicht zulässt, haben viele Freund_innen, Wegbegleiter_innen und Kolleg_innen beschlossen, einige Impressionen und Erinnerungen zunächst hier zu versammeln. Im folgenden Teil erinnern zunächst Oliver Flügel-Martinsen und Daniel Gaus (die dieses Format auch initiierten und organisierten) sowie Regina Kreide, Dirk Jörke, Claudia Landwehr und Mathias Albert an Rainer Schmalz-Bruns (Anm. d. theorieblog.de-Redaktion).
Es ging um nicht weniger als ums Ganze – Erinnerungen an Rainer Schmalz-Bruns’ Darmstädter Theoriekolloquium (Oliver Flügel-Martinsen & Daniel Gaus)
Diejenigen, die Ende der 1990er Jahren mit Theorieinteressen in Darmstadt studierten oder im akademischen Mittelbau des Instituts für Politikwissenschaft beschäftigt waren, hatten die Chance, an einem Kolloquium teilzunehmen, das nur etwas mehr als zwei Dekaden später wie eine Erinnerung an eine Universität erscheinen muss, von der heute zuweilen nur noch ein blasser Abglanz zu existieren scheint. Hier wurde akademische Freiheit gelebt. Dies begann schon bei der Themenauswahl, zu der sich alle Interessierten zu Beginn jedes Semesters versammelten. Obgleich sich auf Rainers Schreibtisch so viele Neuerscheinungen stapelten, um das Kolloquium drei oder mehr Semester zu füllen, wurden die Lektürevorschläge und Diskussionsinteressen aller Anwesenden gleichermaßen berücksichtigt. Eine professorale Prärogative gab es, ganz im Sinne der Diskursgemeinschaft, nicht. Dementsprechend war die thematische Bandbreite der Diskussionen enorm.
Rainer, großzügiger und anspruchsvoller Weinliebhaber, spendierte der Runde, die in seinem Büro im Darmstädter Schloss mittwochabends zusammenkam, regelmäßig einige Flaschen Wein, die sich die meisten Teilnehmenden sonst kaum hätten leisten können. Kaum waren sie entkorkt, setzte eine intensive Diskussion ein, die nur vom gelegentlichen Fensteröffnen unterbrochen wurde, um den Pfeifenrauch entweichen zu lassen. Mögen auch manchmal konkrete Projekte (Magisterarbeiten, Promotionsprojekte, Drittmittelanträge, Forschungsvorhaben) den Anlass zur Diskussion gegeben haben, so ging es doch nie allein darum, diese unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten voran zu bringen. Mit Rainer zu diskutieren hieß stets, ums Ganze zu streiten.
Ein Vergleich mit dem Fußball wäre vermutlich nach Rainers Geschmack. Den Anstoß zur Diskussion stets mit gespannter Erwartung beobachtend, hielt sich Rainer meist, unter gelegentlichem Stirnrunzeln, mit eigenen Kommentaren so lange zurück, bis sich die Mannschaften sortiert und klare Argumentationsstrategien herauskristallisiert hatten. Früher oder später kam dann der Moment, in dem sich der Spielmacher, die Luft scharf einziehend, einwechselte und mit einer bewundernswerten intellektuellen Verve eine Dynamik in das Spiel brachte, die nicht selten den bisherigen Spielverlauf auf den Kopf stellte. Das war es, was Rainer wie kaum ein Anderer vermochte, und uns im Kolloquium vorlebte: mit aller Ernsthaftigkeit in jedem Text das Spielsystem der vorgelegten Argumentation zu erfassen und darauf mit einer Theoriediskussion zu antworten, die in die Tiefe des Raumes zielte. Seine Theoriewelt war dabei zumeist relativ klar in Teams der eigenen und solche der gegnerischen Seite sortiert. Gleichwohl war Schulpolitik im Kolloquium abwesend, gar in jeder Hinsicht unerwünscht. Es drehte sich vielmehr darum, auf jede, selbst die unausgereifteste Angriffsbemühung der Gegenseite wie des eigenen Teams mit Spielzügen zu kontern, die an Raffinesse und Durchschlagskraft möglichst nicht zu überbieten waren.
Hier findet der Vergleich mit dem Fußball also seine Grenze. Denn es ging nie darum, zu gewinnen, sondern ums Ganze: Argumente zu prüfen und zu verfeinern, Konsequenzen einzuschätzen und Sichtweisen zu erweitern, den Diskurs der politischen Theorie einen Schritt weiterzuführen. Am Ende verließen alle, wenngleich erschöpft, als Sieger den Platz. Wer Positionen vertrat, die Rainer mitunter zu entsetztem Aufstöhnen trieben – nicht nur einer der sich hier Erinnernden hat das mehr als einmal erlebt –, musste zwar mit scharfen Repliken rechnen, durfte sich aber gleichwohl stets auf seine unbedingte Unterstützung verlassen. Die Schärfe und Hartnäckigkeit, die Rainer in der Auseinandersetzung um das Große und Ganze an den Tag legte, wurde lediglich durch seine Großmut im persönlichen Umgang, gerade auch mit denjenigen, die andere Positionen vertraten, übertroffen.
Streiten mit Rainer (Regina Kreide)
Einen Nachruf schreibt man meist als Trost für Angehörige und Freunde. Manchmal aber auch, um seiner Dankbarkeit Ausdruck zu geben. Rainer kann man für Vieles dankbar sein, auf wissenschaftlicher und auf persönlicher Ebene. Vor allem aber dafür, dass er beides nicht als getrennte Welten ansah.
Seine wissenschaftliche Arbeit ist für die Entwicklung einer kritischen Demokratietheorie von entscheidender Bedeutung. In seinem 1995 erschienenen Buch Reflexive Demokratie – hier ist schon der Titel Programm – schlägt er in den damalig üppig gedeihenden Vorschlägen normativer Demokratievorstellungen eine Schneise, die etwas geradezu Paradoxes vorschlägt: die institutionelle Selbstreflexion. Versteht man Institutionen, so wie er, als geronnene Praxis des Deliberierens, als Regeln, die Deliberation ermöglichen, so erscheint die Reflexion eben dieser Regeln innerhalb des möglichst stabilen Systems als widersprüchlich. Rainers Vorschlag aber zielt geradewegs auf die Auflösung dieses Paradoxes. Es sollen die Institutionen dazu gezwungen werden, sich selbst auf demokratischem Wege dauerhaft zu hinterfragen und an die gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen – ohne, dass sie in ihren Grundfesten erschüttert werden. Der institutionellen deliberativen „Selbsteinwirkung“ maß er eine solche Fähigkeit zur Selbstkorrektur bei, dass er Demokratie auch für die transnationale Ebene als realistisch erachtete. Eine Vorstellung, die er aber in vollem Umfang nicht mehr ausarbeiten konnte. Auch wenn es womöglich auf den ersten Blick nicht so erscheint: Zur Zeit der Entstehung dieses Buches, dem zahlreiche andere Arbeiten folgten, war die Idee der selbstreflexiven Institutionen ein radikaler Vorschlag. Gegen eine aristotelische Politikkonzeption von Arendt bis Strauß, die an einer idealen Vorstellung politischen Handelns festhält, setzt Rainer darauf, die gesellschaftlichen Bedingungen in den Prozess der Institutionenbildung einzubeziehen. Und gegen dezisionistische Theorien politischer Entscheidung besteht er auf vernünftiger Argumentation in gerechten Verfahren politischer Deliberation. Für seine praxisnahen Theorievorschläge einer reflexiven Demokratie stritt er leidenschaftlich. Und dies mit einer Haltung, die selbst an ebenjene reflexive Selbsteinwirkung erinnert. Er nahm die Argumente des Gegenübers ernst, reflektierte seine Antworten an ihnen und war ein Meister der wohlwollenden Interpretation der Positionen anderer. Seine theoretischen Einsichten waren für ihn auch im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft selbstverständliche Praxis.
Denn ja, Rainer kann man für Vieles dankbar sein kann, ich aber bin es vor allem für eines: Für wertschätzende Diskussionen und Gespräche im formellen und informellen Kontext. Unvergessen sind die zahlreichen Gelegenheiten zwanglosen Argumentierens. Die Kolloquiumstreffen in Darmstadt und Hannover, bei denen – im Büro – stundenlang intensiv diskutiert wurde, was später bei Käse und Rotwein fortgesetzt wurde. Unvergessen auch eine Vortragseinladung, für die Rainer an das damals hochzerstrittene Institut, an dem ich lehrte, kam und ausnahmslos alle Mitglieder des Instituts erschienen – was weder vorher noch nachher wieder passierte. Und unvergessen nicht zuletzt die unzähligen Gespräche am Rande von Tagungen, bei denen Rainer sich Zeit nahm, mich und andere – damals – jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, zu beraten und augenzwinkernd die Fallstricke, Abgründe und Türöffner von Wissenschaft zu kartographieren – ohne dass inhaltliche Diskussionen zu kurz gekommen wären. Auch dies im Gestus der Selbstreflexion, die Wissenschaft und der Universitätsbetrieb insgesamt so dringend nötig hat. Rainers Stimme wird uns sehr fehlen.
Rainer Schmalz Bruns als Betreuer (Dirk Jörke)
Das wissenschaftliche Werk von Rainer Schmalz-Bruns ist hier und auch an anderer Stelle bereits mehrfach gewürdigt worden; und auch über seinen charmanten Charakter und seinen bisweilen bissigen Spott ist schon geschrieben worden wie auch über seine nicht-enden wollenden Sätze, die sowohl in gedruckter wie auch gesprochener Form einem oftmals die höchste Konzentration abverlangten ̶ nur dass die Zuhörer_innen am Ende feststellen mussten, dass sie die Komplexität des von ihm zur Sache gemachten Gegenstandes noch gar nicht ausreichend durchdrungen hatten.
Ich möchte im Folgenden einen weiteren Aspekt von Rainers Wirken als Hochschullehrer hervorheben, und zwar seine Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die Leser_innen mögen verzeihen, dass es sich dabei um einen sehr subjektiv gefärbten Bericht handelt.
Kennengelernt habe ich Rainer 1993 in einem Seminar an der Universität Hamburg zum Thema „Die Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus“. Es war ein kleines und sehr intensives Seminar; ich war damals gerade erst in Hamburg zum Hauptstudium angekommen, fühlte mich aber sogleich intellektuell aufgehoben; auch wenn ich rückblickend einräumen muss, dass ich wohl vieles mehr erahnt als verstanden habe. Von da an besuchte ich tapfer weitere Kurse bei ihm und seinen Hamburger Weggefährten.
Rainer hat sich dann drei Jahre später, seine Habilitation war inzwischen publiziert und er war auf dem Sprung zu seiner ersten Professur in Darmstadt, bereit erklärt, meine Magisterarbeit zu betreuen. Ich kann mich noch gut an unsere diversen ausführlichen Gespräche über die ersten Entwürfe, die ich ihm geschickt habe, erinnern. Nach jeder Besprechung hatte ich das Gefühl, dass die Sache nicht rund ist; und doch hat Rainer es immer wieder aufs Neue vermocht, mich weiter anzustacheln, also gerade nicht eingeschüchtert zu sein und zu resignieren. Es war jedoch nicht nur die Intensität und das Fordernd-Fördernde der Betreuung gewesen, die ich so bemerkenswert fand und auch weiterhin finde. Vor allem hat er mir jedes Mal mitgegeben, den eigenständigen Standpunkt besonders scharf zu markieren und dann auch vor den Konsequenzen nicht auszuweichen, auch und gerade dann, wenn die eigenen Intuitionen denjenigen des Betreuers entgegenlaufen. Das wurde zu einer echten Selbsterfahrung in Sachen Politische Theorie, denn ich hatte damals noch stark mit Ansätzen einer agonalen Demokratietheorie sympathisiert.
Dieses anregende Muster hat sich bei meiner Dissertation wiederholt. Nachdem ich längere Zeit vergeblich nach einem geeigneten Thema gesucht hatte, kam von Rainer der Tipp, dass ich mir doch mal das Werk von John Dewey näher anschauen solle. Gesagt, getan. Als ich mich dann tatsächlich in der folgenden Zeit intensiver mit Dewey auseinandersetzte, kam mir der Verdacht, dass sich Rainer von den Schriften des US-amerikanischen Pragmatisten eine weitere Rückendeckung der deliberativen Demokratietheorie erhoffte. Und in der Tat lassen sich in Deweys Werk und vor allem in „Die Öffentlichkeit und ihre Probleme“ Passagen finden, die sich wie eine Vorwegnahme der deliberativen Demokratietheorie lesen lassen. Meine Rekonstruktion ging allerdings in eine andere, ja geradezu diametrale Richtung. Rainers Gutachten zu meiner Dissertation endet mit dem Vorwurf, ich würde mich „an einer ganz entscheidenden programmatischen Stelle doch sehr zurücknehmen: Zwar moniert er (D. Jörke) an Habermas einen gewissen institutionellen Rigorismus und eine ‚kognitivistische Engführung‘ der deliberativen Demokratietheorie, aber er möchte sich letztlich doch lediglich dazu verstehen, Deweys Modell einer experimentellen Demokratie weniger als Alternative denn ‚Ermahnung‘ und ‚Korrektur‘ der Habermas’schen Diskurstheorie zu betrachten“. Es versteht sich von selbst, dass es Rainer damit gelungen ist, mich mit dieser Umarmungsstrategie zu einer weiteren Kritik der deliberativen Demokratietheorie zu motivieren.
Rainer, die deliberative Demokratie und die Theorie-Sektion (Claudia Landwehr)
Schon lange bevor ich Rainer Schmalz-Bruns persönlich näher kennenlernen durfte, spielte er in Gesprächen mit den Betreuern meiner Doktorarbeit, Katharina Holzinger und Michael Greven, regelmäßig eine Rolle. Der einen war die Annahme, dass sich politische Präferenzen und Handlungspläne durch Argumente ändern ließen, suspekt, für den anderen war die Idee, dass mit der Demokratie auch ein Rationalitätsversprechen verbunden ist, im Kern illiberal. Es waren sicher mehr Rainers als meine eigenen Argumente, die Michael Greven zumindest zu dem Zugeständnis bewegten, dass deliberative Ansätze in der Demokratietheorie zu spannenden und zukunftsweisenden Debatten führten. Und Katharina Holzinger stellte irgendwann fest: „Der Rainer ist ja schon ein Scharfdenker.“
Dass zwischen Rainer und mir in den folgenden Jahren ein für mich inspirierender, lehrreicher und oft auch witziger Austausch über deliberative Demokratietheorien entstanden ist, liegt vor allem daran, dass Rainer der Theorie-Sektion der DVPW wie kaum ein anderer treu war: Keine Sektionstagung, bei der er nicht dabei war. Oft (mit gelegentlichen halblauten und ironischen Kommentaren) nur zuhörend, dann aber auch wieder mit leidenschaftlich vorgebrachten und scharfsinnigen Wortbeiträgen. Vor allem jedoch war er im Gespräch beim Kaffee oder Rotwein und meist mit Zigarette aufrichtig und bis in die feinsten Nuancen an den Einschätzungen und Positionen seiner Theorie-Kolleg*innen interessiert. Die Ernsthaftigkeit, mit der er sich den Arbeiten seiner Kolleg*innen widmete, hat Rainer in den letzten Jahren vielleicht auch selbst am Schreiben gehindert: Er wollte wirklich alles gelesen und eingeordnet wissen, bevor er ans Werk ging.
2013 haben Rainer und ich in Hannover gemeinsam eine Tagung über „Die Idee deliberativer Demokratie in der Bewährungsprobe“ organisiert. Die Tagung zog viele Vortragsvorschläge und Teilnehmer*innen an und war in unseren Augen ein Erfolg. Trotzdem schien uns das „Unbehagen an der deliberativen Demokratietheorie“, um einen Aufsatztitel von Hubertus Buchstein und Dirk Jörke leicht zu variieren, in der Sektion zu wachsen. Wir haben manchmal darüber gewitzelt, wie wir uns als Anhänger der deliberativen Demokratietheorie angesichts der wachsenden Popularität radikaldemokratischer Ansätze quasi in die rechts-konservative Ecke der Sektion gedrängt fühlten – wo wir uns selbst doch immer für progressiv gehalten hatten. Dieses Gefühl war auch Anlass für einen Artikel, an dem wir zuletzt gemeinsam gearbeitet haben, und mit dem wir zahlreiche Missverständnisse über die deliberative Theorie aufklären wollten. 2018 haben wir den Text in einem Theorie-Kolloquium in Darmstadt vorgestellt und uns danach (vielleicht ja auch zu Unrecht) eingebildet, sogar Dirk Jörke mit einigen Argumenten überzeugt zu haben.
Rainers professionspolitisches Wirken für die politische Theorie war aber nicht auf die Sektion beschränkt. Als PVS-Chefredakteur hat er über Teilbereichsgrenzen hinweg integrierend gewirkt und Netzwerke aufgebaut. 2015 hat er mit Michael Zürn und der „Initiativgruppe“ eine grundlegende Reform der DVPW geplant, die unser Fach im Wettbewerb mit anderen Disziplinen stärken und die Fachvereinigung näher an ihre Mitglieder bringen sollte. Die Turbulenzen, die auf die Kandidatur der Gruppe für den DVPW-Vorstand auf dem Duisburger Kongress folgten, werden den meisten noch gut in Erinnerung sein. Wenn auch auf anderen als den damals avisierten Wegen, sind aber viele der Veränderungen, die Rainer damals als notwendig erkannt hat, mittlerweile Wirklichkeit geworden.
Rainer wird mir fehlen – als Kollege, Mitstreiter und Gesprächspartner.
Der Aufsatz (Mathias Albert)
Bei all der langjährigen Freundschaft mit Rainer mit ihren vielen Episoden, an die ich gerne zurückdenke, hätte ich eine beinahe vergessen: nämlich das Verfassen eines gemeinsamen Aufsatzes. Beim nochmaligen Lesen des gemeinsam verfassten Beitrags „Antinomien der Global Governance: Mehr Weltstaatlichkeit, weniger Demokratie“ im Sonderband 18 Demokratie in der Weltgesellschaft der Sozialen Welt, herausgegeben von Hauke Brunkhorst im Jahre 2009, kam mir nicht nur die Erinnerung an die Tätigkeit der Texterstellung. Vielmehr scheint mir diese auch symptomatisch für ein vielfältig-liebenswürdiges Spannungsverhältnis zwischen Rainer und mir zu sein.
Zunächst einmal ist zuzugeben: Rainer war kein Freund der Koautorenschaft und selbstverständlich hatte ich den Zeitpunkt, ihn dazu zu überreden, etwas später am Abend gelegt. Nachdem nun freilich kein Entrinnen mehr war, traten die Differenzen im Schreibprozess dann allerdings offen zutage. Ich muss überhaupt nicht auf die inhaltlichen Einzelheiten des Aufsatzes eingehen, um festzustellen: da war der eine, in Frankfurt sozialisierte, der meinte, man könne über Formen inklusiver Weltstaatlichkeit ganz ohne Reflexion über ihre normativen Voraussetzungen und Perspektiven schwadronieren. Und dann war da der andere, pikanterweise gerade nicht in Frankfurt selbst sozialisierte, der den ersten ziemlich hart und beharrlich auf den Boden der Tatsache verwies, dass man ohne eine solche Reflexion doch ziemlich nackt dastehe – oder besser gesagt: dass man mit Bielefelder Füßen zwar laufen könne, es aber in Frankfurter Stiefeln gekleidet doch leidlich bequemer wäre. Bezeichnend dabei war aber immer eines – und ich hoffe, es mit diesem Bild nicht zu übertreiben, aber ich denke, dass es passt: die Stiefel normativer Reflexion, die Rainer einem verpasste, waren definitiv nie eine Standardgröße aus dem Regal, sondern immer eine bis ins kleinste Detail ausgemessene, immer und immer wieder angepasste Maßanfertigung. Rainer hat es wie kaum ein anderer vermocht, mit einem differenzierungstheoretischen Blick vorgenommene Beschreibungen sozialer Systeme mit Überlegungen zu ihren normativen Voraussetzungen bzw. zu den sich eröffnenden normativen Gestaltungsmöglichkeiten in Verbindung zu bringen. Dabei existierte fachlich natürlich immer ein Primat der Politischen Theorie gegenüber der Soziologie. Von einem inhaltlichen Primat des einen oder anderen Ansatzes oder gar von einer gegenstandsunabhängigen Bevorzugung des einen oder anderen Blickes war dabei aber nie etwas zu spüren. Es verhielt sich in Rainers intellektueller Einstellung hier wie in seinen Vorlieben bezüglich des Weines: natürlich zieht man den Amarone oder einen schönen Bordeaux vor, wenn sie denn verfügbar sind, aber auch andere Rebsorten (und sei es Weißwein!), Lagen und Jahrgänge werden wohlwollend mit einbezogen – so sie sich denn als gut und würdig erweisen.
Es ist nur vor diesem Hintergrund von Rainers ganz besonderer Offenheit, dass wir vermocht haben, diesen gemeinsamen Aufsatz zu schreiben. Praktisch habe ich angefangen, dann hat Rainer übernommen. Andersherum wäre es nicht gegangen. Einem Satz wie „Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass in einer globalisierten Welt nicht mehr nur von Nationalstaaten regiert wird“ (Albert) kann eigentlich jeder danach etwas mehr oder weniger – auch stilistisch – Angemessenes hinzufügen. Aber zumindest ich könnte es nicht – und werde es nie können – nach „Dieser, durch seine substanzlogischen Implikationen nun gewiss zweifelhaft gewordene Versuch, den Staat auf seinen autonomietheoretischen Begriff zu bringen, kann nun allerdings auch dann instruktiv sein, wenn man unterhalb der Schwelle der begrifflich erzeugten Suggestion einer Eigennormativität verbleiben möchte und sich damit begnügt, daran so etwas wie das demokratie-funktionale normative Profil entfalteter Staatlichkeit zu nunmehr heuristischen Zwecken zu stilisieren“. Und das ganz Außergewöhnliche an Rainer war: er konnte so etwas nicht nur schreiben, sondern es auch, ohne mit der Wimper zu zucken, aus dem Stegreif mündlich so formulieren – und danach herzhaft lachen.
Oliver Flügel-Martinsen ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bielefeld.
Daniel Gaus arbeitet im Bereich der Hochschuldidaktik am Zentrum für Qualitätssicherung und -entwicklung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Regina Kreide ist Professorin für Politische Theorie an der Universität Gießen.
Dirk Jörke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt.
Claudia Landwehr ist Inhaberin der Professur für Politik und Wirtschaft am Institut für Politikwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Mathias Albert ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld.
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