theorieblog.de | KRITIK UND CORONA-KRISE
28. März 2020, Huhnholz
Die „Corona-Krise“ ist allgegenwärtig. Doch wer von Krise spricht, sollte von Politik nicht schweigen. In seiner öffentlichkeitshistoriographischen Studie Kritik und Krise bestimmte der Geisteswissenschaftler Reinhart Koselleck Krise als eine Lage, die ihrer Überwindung zustrebt, ohne dass verlässlich angegeben werden könnte, ob sich überhaupt umsetzbare Lösungsansätze dafür finden und tatsächlich eignen. Eine Krise immerhin endet so oder so, die Frage ist nur wann und wie. Es liege „im Wesen einer Krise“, so Koselleck, „daß eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen. Und es gehört ebenso zur Krise, daß offen bleibt, welche Entscheidung fällt.“
Der bekanntlich vom Ausnahmezustands- und dezisionistischen Politiktheoretiker Carl Schmitt inspirierte Koselleck wusste, dass jede öffentliche Behandlung einer „Krise“ ihrerseits immer schon Folge einer politischen Festlegung ist: der Feststellung des Krisenzustands. Und noch genauer besehen setzt die Entschlossenheit, sich der Krisenbearbeitung durch beschleunigende Zuspitzung oder aber durch therapeutische Reformen anzunehmen, zwei politische Entscheidungen voraus. Erstens, dass die als „Krise“ bezeichneten Phänomene überhaupt in einem politischen Deutungsrahmen beschrieben werden sollen. Zweitens, dass diese Phänomene durch die Erzwingung kollektiver Verbindlichkeit der für geeignet erachteten Maßnahmen wenigstens partiell zu behandeln seien.
***
Ihren paradigmatischen Gehalt bezog Kosellecks Doktorthese seinerzeit freilich nicht aus einer Krisendefinition, sondern aus ihrem Forschungsgegenstand. Der liberal-etatistische Gelehrte warnte nicht vor der souveränen Krisenentscheidung, sondern vor der Gefahr, krisenhaft sich zuspitzende Probleme zu verkennen. Im konkreten Fall seiner Studie Kritik und Krise meinte Koselleck beobachten zu können, dass sich die frühbürgerliche Öffentlichkeit West- und Mitteleuropas von der offiziellen Politik isoliert hatte bzw. von den Staatsgeschäften ferngehalten wurde. Sie ergab sich staatlichen Verfügungen zwar und genoss amtliche Fürsorgeleistungen, nahm an deren Zustandekommen und Zwecken jedoch nicht innerlichen Anteil und trieb das folglich unterlegitimierte Ancien Régime in eine alternativlose, weil unerkannt bleibende Staatskrise, die 1789 eskalierte und uns als Französische Revolution bekannt geworden ist.
Warum diese Beschreibung Anstoß erregte, versteht sich: Sie wirkt reaktionär. Doch skandalisierte Koselleck nicht die Französische Revolution, sondern problematisierte die mit ihr anhebende, seriell bis ins 20. Jahrhundert hineinreichende Blutspur: Die Unfähigkeit der bürgerlichen Intellektuellen, eigene progressive Werte und Gestaltungsvorschläge in den allemal reformbedürftigen Staat hineinzukritisieren, habe ein Klima versteckter Staatsfeindschaft, blockierter Kompromisstoleranz und selbstgerechter Politikunfähigkeit begünstigt. Wie vordem der zunehmend verhasste Absolutismus neigten fortan die Revolutionäre – klandestin radikalisierte und nun zur Macht gekommene Intellektuelle – ihrerseits zur Totalität: Politische Diskussionen beantworteten sie mit Terror und souveränitätsfrömmelnden Loyalitätsdiktaten. Statt politischen Optionen und moderierten Interessenkonflikten boten sie kollektivistischen Moralismus, gestützt auf die Recht-Haberei der Macht. So verwandelten sie die Heuchelei des Alten Staates in politische „Hypokrisie“, in eine republikanische Scheinheiligkeit, die sich in den nachfolgenden Revolutionen der Moderne laut Koselleck immer wieder Bahn brach.
Für die derzeitige „Krise“ ist Kosellecks Krisenbestimmung offenkundig brauchbar, seine Fallstudie eher nicht. Die Verbindung ist vorerst nur in einer Hinsicht erhellend: Wenn nun schon im Namen ihrer Bewältigung politisch entschieden wurde, dass „Krise“ sei, sollten auch Behandlungsoptionen diskutiert werden, die sich von der Politik nicht ersetzenden Funktionslogik der Notfallmedizin emanzipieren und die Geltungs- und Wirkungsgrenzen verbindlicherer Ausnahmeflirts kritisch reflektieren. Dazu sind wir derzeit anscheinend noch nicht bereit. Im Gegenteil. Weder verspricht die aktuelle politische Sinophilie – der neidvolle Blick auf eine chinesische Überwachungsdiktatur – eine liberaldemokratisch erträgliche Antwort, noch lässt sich das derzeit dominante Narrativ der Alternativlosigkeit durchhalten.
***
Die gehäufte Geltungsbehauptung politikseitig bemühter Alternativlosigkeitsmotive wird gewöhnlich als Anzeichen für neoliberale Regierungstechnik gewertet. Scheint eine Bedrohung objektiv und die notwendige Lösung eindeutig, erübrigt sich jede demokratische Diskussion. Wo Sachzwang herrscht, erwächst die „Inkompetenzvermutung der Bürger“ gegen sich selbst (Claus Offe). Die Evidenz der Lage, etwa das Erfordernis heroischer Prävention und komplexitätskompetenter Technokratie, verlangen nach erfahrungslos individueller Selbstdisziplin – selbstredend auf Grundlage ‚wissenschaftlich‘ fundierter Ratschläge. Schließlich beugen sich doch auch die institutionellen Mühlen der demokratischen Deliberation den tagesaktuellen Empfehlungen der Expert*innen. Unter allgemeiner Quarantäne sind Meinungsvielfalt, Protest und Wut besonders zu zähmen, denn es geht um Leben und Tod. Wer wollte noch ernsthaft politisch argumentieren, wo doch moralische Reife genügt? Schon wenige Blicke auf die eifrige Gleichförmigkeit der social media-getriebenen „Stay at home“-Agitation zeigen: Da schreiten Führung und Volk Seit an Seit für das Gute. Demonstrationen sind ohnehin unmöglich; selbst Bundestag und Bundesrat winken Regierungsvorlagen blindlings durch. Können sich in Zeiten ‚waschechter‘ „Health-and-Order-Politik“ also nicht auch demokratische Öffentlichkeit und Pluralismus gedulden?
Das ist nicht durchweg absurd. Wer Expertisen registriert, vermag den errechneten worst case als eine „self-defeating prophecy“ (Robert K. Merton) kompetenter zu kommunizieren: Als eine Simulation, die vom Schlimmsten ausgeht, um effektiv erforderliche Nothilfe effizient zu gewährleisten. Wenigstens vorübergehend ist Politik dann entbehrlich, derzeit degradiert zum Verlautbarungsinstrument epidemiologischer Vernunft. Mit unser aller Verständnis darf sie sich als Vollzugsgehilfin des forschenden Status quo inszenieren, der bereitwillig gemeinwohltaugliche Rechtfertigungsmuster liefert und demokratisch autorisierte Vertreter*innen als politisch Amtierende von der Last unpopulärer Abwägungen befreit.
***
Eine solche Zuspitzung könnte aber auch kontraintuitiv anmuten. Erleben wir aktuell nicht die ‚Stunde der Exekutive‘? Zeigt derzeit nicht der akademisch seit Jahrzehnten für tot bis untot erklärte Nationalstaat eine ungeheure Vitalität? Erfreuen sich die Unmengen massiver Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht einer Massenlegitimität sondergleichen? Immerhin muss dieser Tage doch nicht eigens erläutert werden, warum die von Irritationen und Überraschungen, vielleicht auch Angst und Schocks geprägte Situation allerlei Selbstbeschreibungen der Superlative erfordert. Derzeit scheint kaum ein Vergleich zu gewagt, um das Ausmaß der subjektiven und öffentlichen Verunsicherung auszudrücken. Griffe zu historischen Vergleichen sind allgegenwärtig, kriegs- und katastrophenbewährte Rhetorik ebenso. Ob Philosophen vom totalen Ausnahmezustand sprechen oder Juristen von „Selbstermächtigung“ wahlweise der Exekutive, Legislative, Judikative: Alles wirkt, so Philipp Sarasin polemisch, „wie ein biopolitischer Traum: Von Ärzten beratene Regierungen zwingen ganze Bevölkerungen unter eine Seuchendiktatur, entledigen sich unter dem Titel der ‚Gesundheit‘, ja des ‚Überlebens‘ aller demokratischen Hindernisse“. Der Staat der Krise scheint wieder zu werden, was er von seinen frühesten Tagen an war: eine biopolitisches Demographie- und Hygieneregime.
Solch sprachliche Ventile sind allemal verständlich angesichts medizinischer Notlagen, von blockierten Grundrechten und Gesetzesnotstand, polizeilicher Unbeholfenheitswillkür und kollektiver Betroffenheit; ganz zu schweigen von Berufs- und Geldnöten, persönlichen Sorgen um Angehörige, Freunde oder sich selbst, häuslicher Gewalt, Visionen anonymer Massengräber, militarisierter Städte und einer globalen Rezession. Doch gleichzeitig konterkarieren gerade die allgemein spürbarsten öffentlichen Maßnahmen die Effekte drastischer Paniksprache. Die Begriffe werden seltsam unwirklich. Selten dürfte kollektives Handeln so einsam gewesen sein. Isolation, Stille, Verlangsamung karikieren Metaphern wie Ausnahmezustand, Katastrophe, Krieg. Stattdessen gibt unser Neusprech von „Social Distancing“ über „Homeoffice“ bis „Homeschooling“ der Corona-Krise ein eigentümlich zivilisiertes Antlitz. „Politik in Zeiten von Corona“ heißt: Ich lass den Staat herein und erledige, wo wir doch schon beisammen sind, seine Hausaufgaben gleich mit. Polis und Oikos in trauter Eintracht. Ruhe als erste Bürger*innenpflicht, soll die solidarisch respektierte Ausnahmesituation nicht in trübselige Normalität abgleiten.
***
Es wäre immerhin spannend zu erfahren, wie Koselleck die heutige Lage beurteilt hätte. Denn zwar hat die derzeitige Krise mit derjenigen aus Kritik und Krise äußerlich nichts gemein, mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts schon gar nicht. Das derzeitige Ausmaß der (selbst-)verordneten Innerlichkeit hingegen legt einige bedrückende Überschneidungen nahe. Immerhin machen es sich gesellschaftliche Öffentlichkeit und staatliche Politik derzeit beiderseits leicht (selbst wenn Tatkraft und Hektik der ‚Kämpfenden an der Corona-Front‘ uns anderes suggeriert). Die eine Seite übt sich verantwortungseifrig in Selbstdisziplin und schweigt, verzichtet bis auf Weiteres auf die Artikulation ihrer Souveränität. Die andere Seite geriert sich als eine expertokratische Vollzugsmaschine, die einen alternativlosen Common Sense exekutiert.
Souverän ist das allemal. Inwieweit und wie lange eine liberaldemokratische Gesellschaft diesen Burgfrieden aber erträgt, ohne die Voraussetzungen ihrer Liberalität zu dementieren, will zeitnah erwogen werden. Dafür muss die Verwechslung der virologischen Lage mit einer objektiven „Krise“ korrigiert werden, um politische Handlungsreserven und demokratische Sprachfähigkeit für den Fall zu gewinnen, dass der pandemische Teil des gesamtgesellschaftlichen Stresstests durch unsere Gesundheitssysteme auf absehbare Zeit nicht zu bewältigen ist oder aber gar zum permanenten globalen Gemeinrisiko wird. Volkspädagogische Durchhalteparolen würden dann hohl, ihr Moralismus bliebe ziellos. Wir wieder „lernen müssen“, so der Jurist Uwe Volkmann kürzlich treffend, „die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten“.
Sebastian Huhnholz arbeitet am Lehrbereich Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik der Leibniz-Universität und ist Mitglied des Redaktionsteams dieses blogs. Letztes Jahr veröffentlichte er bei Duncker & Humblot eine Studie über die „Heidelberger Entstehungskontexte und bundesrepublikanischen Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks ‚Kritik und Krise‘“.
Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2020/03/kritik-und-corona-krise/