theorieblog.de | Eine Geschichte der theoriepolitischen Gegenwart: Lesenotiz zu Katrina Forresters „In the Shadow of Justice – Postwar Liberalism and the Remaking of Political Philosophy“
10. Februar 2020, Huber
Auf Tagungen diesseits und jenseits des Atlantiks läuft die Historisierung von John Rawls (1921-2002) derzeit auf Hochtouren. Kaum eine Intervention ist dabei ohne theoriepolitisches Anliegen: eingefleischte AnhängerInnen versuchen, Rawls endgültig als große Figur der Ideengeschichte vom Range eines Hobbes, Locke oder Kant zu etablieren und damit auch ihre eigene intellektuelle Abstammung aufzuwerten. KritikerInnen hingegen können es kaum erwarten, die Hegemonie des Rawlsschen Paradigmas zu durchbrechen, indem sie es historisch kontextualisieren und damit auch relativieren. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfelds hat Katrina Forrester nun mit In the Shadow of Justice – Postwar Liberalism and the Remaking of Political Philosophy eine vielbeachtete Monographie vorgelegt, die erstmals systematisch und mit großem Detailreichtum sowohl die Entstehung von Rawls Theorie der Gerechtigkeit rekonstruiert als auch dessen Aufstieg zu unbestrittener Dominanz in der (anglophonen) politischen Theorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie Forrester u.a. auch beim theorieblog erläutert, fragt sie dabei nicht nur, wie Rawls und ein nach ihm geformter Egalitarismus es geschafft hat, die (liberale, anglophone) politische Philosophie über Generationen hinweg zu dominieren, sondern auch, was dessen andauernde Dominanz für unseren gegenwärtigen intellektuellen und politischen Moment bedeutet.
Forrester erzählt die Geschichte, wie Rawls die liberale politische Philosophie grundlegend transformiert und geprägt hat, in zwei Teilen. Im ersten Teil ihres Buches (Kapitel 1-3) geht es um die Entstehungsgeschichte der Theorie der Gerechtigkeit selbst. Auf der Basis detailversessener Archivarbeit und teils unveröffentlichter Arbeiten rekonstruiert Forrester hier den intellektuellen wie politischen Hintergrund, vor dem das Werk entstand, das die politische Philosophie über Generationen prägen sollte. Bahnbrechend ist dabei weniger die Einsicht, wie sehr Rawls von der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein beeinflusst war, gerade hinsichtlich der Annahme, die Gesellschaft sei als regelgeleitetes „Spiel“ zu begreifen (so etwa auch Andrius Galisanka in seiner ebenfalls 2019 erschienenen Monographie zu Rawls). Wichtiger ist Forrester vielmehr der politische Entstehungskontext. Obwohl Rawls die Theorie der Gerechtigkeit erst 1971 veröffentlichte, wurden die zentralen Ideen bereits in den späten 40er und 50er Jahren entwickelt und daher von den dementsprechenden ökonomischen und politischen Umständen geformt.
Zwei Aspekte sind hierbei laut Forrester zentral: Einerseits war der junge Rawls, ganz im antitotalitären Geist der frühen Jahre des Kalten Krieges, stark von einer Sorge über staatlichen Zwang, Machtkonzentration und Paternalismus getrieben. Seine Verteidigung des Wohlfahrtsstaates als „property owning democracy“ entwickelte sich erst im Laufe der Zeit aus einem eher minimalistischen Liberalismus. Noch wichtiger ist aber, dass Rawls von der (damals unter liberalen Eliten weitverbreiteten) Annahme ausging, es gäbe in der amerikanischen Gesellschaft im Kern nicht nur eine Einigkeit hinsichtlich grundlegender Werte wie Freiheit, Gleichheit und Demokratie, sondern auch über konkrete Prinzipien von Eigentum, Märkten und Umverteilung. Rawls war daher zutiefst optimistisch, dass ein Konsensus möglich und grundsätzlicher gesellschaftlicher Konflikt die Ausnahme waren; politische Philosophie musste im Grunde nur das implizit geteilte Wertfundament ausbuchstabieren.
Eine zentrale These von Forresters Buches ist es nun, dass diese Annahmen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit bereits ihre Gültigkeit verloren hatten. Bereits in den 60er Jahren rüttelten soziale Bewegungen und Rassenkonflikte am Nachkriegskonsensus, ehe in den 1970ern Deindustrialisierung, Aufstieg des Finanzkapitalismus und neoliberale Deregulierung endgültig den Wohlfahrtsstaat kollabieren ließen. Rawls‘ Theorie wird damit zum Protagonisten einer „ghost story“ (xi): sie betritt die Bühne just in dem Moment, als sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend ändern. Zugeschneidert auf eine Gesellschaft der Stabilität, des Wachstums und der begrenzten Ungleichheit, trifft die Theorie auf eine zunehmend gespaltene und verunsicherte Gesellschaft. Bereits hier sind für Forrester die „blinden Flecken“ einer Theorie angelegt, die von Anfang an aus der Zeit gefallen ist.
Wie und warum Rawls‘ Theorie dennoch einen intellektuellen Siegeszug beginnen und die politische Philosophie in den folgenden Jahrzehnten prägen konnte wie keine andere, ist der Gegenstand des zweiten Teils des Buches (Kapitel 4-8). Ausgehend von einer Handvoll Eliteuniversitäten an der US-Ostküste und dem Vereinigten Königreich entstand ab den 70er Jahren ein Kreis politischer PhilosophInnen, die sich einem gemeinsamen intellektuellen Projekt und begrifflichen Vokabular verpflichtet fühlten: dem „liberalen Egalitarismus“ Rawlsscher Prägung. Im Laufe der Zeit erlangten sie eine Definitionsmacht darüber, was es heißt, politische Philosophie zu betreiben. Der Entwurf eines gesellschaftlichen Ideals auf der Basis abstrakter Prinzipien von (Verteilungs-)Gerechtigkeit und Gleichheit, ein deliberatives und konsensorientiertes Verständnis von Demokratie, sowie ein stabilitätsorientierter Fokus auf rechtliche, legislative und ökonomische Institutionen, die die gesellschaftliche „Grundstruktur“ bilden, stellten grundlegende Bestandteile dieses theoretischen Paradigmas dar. Historische Perspektiven (etwa auf vergangenes Unrecht) rückten dagegen genauso in den Hintergrund wie etwa klassische Fragen über das Wesen des Staates, politischer Macht oder des kollektiven Handelns und Organisierens.
Liberale EgalitaristInnen bauten den Rawlssche Theorierahmen in der Folge aus und wendeten ihn auf neue Fragen, etwa der internationalen oder intergenerationalen Gerechtigkeit, an. Angefochten wurde er freilich auch – wollten sie nicht marginalisiert werden, kamen jedoch auch KritikerInnen, von Libertären wie Robert Nozick über Feministinnen wie Susan Moller Okin bis hin zu KommunitaristInnen wie Michael Sandel, nicht umhin, sich den Rawlsschen ‚terms of debate‘ zu beugen. Sogar („analytische“) Marxisten wie G.A. Cohen und John Roemer sahen sich gezwungen, den Sozialismus als Theorie der Verteilungsgerechtigkeit zu charakterisieren. Als besonders hilfreich für die Fähigkeit, alternative Theorieprojekte zu domestizieren und zu absorbieren, stellte sich dabei die theoretische Flexibilität des Rawlsschen Theorierahmens heraus, der für rechtskonservative Ideen genauso anschlussfähig war wie für sozialistische (268). Dies machte ihn jedoch auch selbst anfällig für ideologische Vereinnahmung: So argumentiert Forrester beispielsweise, der Versuch liberaler EgalitaristInnen seit den 80er Jahren, im Rahmen eines „Glücksegalitarismus“ Ideen von Freiheit und Verantwortung an Bord zu nehmen, habe vor allem einem individualisierenden Diskurs der Neuen Rechten in die Karten gespielt.
Letztlich hat Forrester aber natürlich mehr im Sinne als eine bloße ideengeschichtliche Rekonstruktion. Was sie bietet ist eine Genealogie unseres eigenen theoriepolitischen Moments, der ihrer Ansicht nach weiterhin unter einem Rawlsschen „shadow of justice“ operiert. Diese dritte Ebene, auf der Forrester einen deutlich kritischen Zugang zum Rawlsschen Theorierahmen entwickelt, wird im Laufe des Buches immer wieder angeschnitten, gelangt aber letztlich erst im Epilog an die Oberfläche. Wir bewohnen eine Welt und folglich einen „discursive problem-space“ (xxi), so Forrester, der vom Rawlsschen verschiedener nicht sein könnte. Das Problem ist dabei nicht nur, dass der ihm eigene Duktus eines wohlfahrtsstaatlich-sozialdemokratischen Optimismus schlicht nicht mehr angemessen ist. Vielmehr ist zumindest offen, ob der Rawlssche Ansatz in Zeiten von Finanzkrise, neoliberaler Globalisierung, Austerität und rasant wachsender Ungleichheit die entscheidenden Fragen überhaupt zu stellen in der Lage ist – oder ob seine Tendenz zu Depolitisierung, Konsens und Ausgleich den Raum politischen Imaginierens und Handelns nicht zu sehr einschränkt. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich das Schweigen der politischen Philosophie angesichts einer vielbeschworenen „Krise des Liberalismus“ aus Forresters Sicht als Sprachlosigkeit: es fehlen ihr (bzw. dem hegemonialen Theoriekonstrukt) schlicht die Begriffe.
Man mag fragen, ob Forresters Narrativ hier bisweilen nicht selbst zur „ghost story“ zu werden droht. Die Hegemonie des Rawlsschen Paradigmas ist wohl längst nicht mehr so dominant wie noch vor zehn oder 15 Jahren (im deutschsprachigen Raum hat sie eine solche Unangefochtenheit freilich nie erreicht). Heute verkehrt sie sich vielerorts eher ins Gegenteil eines abgedroschenen „Rawls-bashing“, bei dem Rawls für alle möglichen theoretischen und politischen Übel herhalten muss. Forrester selbst ist zugute zu halten, dass sich dazu nie hinreißen lässt. Ihre Kritik ist differenziert, schlüssig begründet und in ein detailreiches historisches Narrativ eingewebt; dies ist das große Verdienst von In the Shadow of Justice. Sie sieht Rawls als „discrete chapter in the history of political thought – a part of our usable past, and like all political theories, a product of its time” (279). Indem sie ein hegemoniales und für viele selbstverständliches Vokabular denaturalisiert, möchte sie – ganz im Stile der Cambridge-School – unsere Augen öffnen für die „roads not taken“ (275).
Wenn sie die Ideen von Rawls und seinen AnhängerInnen bisweilen dennoch etwas unter Wert verkauft, so ist dies eher ein Nebeneffekt ihrer methodischen Festlegung. Eine Art der Ideengeschichte, welche die „politics of political philosophy“ (xxi) stark in den Vordergrund stellt, also letztlich alle Theorie als politische Intervention versteht, wird immer riskieren, den philosophischen Eigenwert dieser Ideen zu vernachlässigen. Dass Rawls nicht nur in einem zeitgeschichtlichen Kontext schreibt und selbst Theoriepolitik betreibt, sondern auch an eine Reihe philosophischer Traditionen anschließt und diese fortsetzt, bleibt in In the Shadow of Justice daher etwas auf der Strecke. Was Forrester sicherlich erfolgreich zeigt, ist, dass sich ein Rawlsianismus im und für das 21. Jahrhundert grundlegend neu erfinden muss. Die Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit können kein schlichtes „was Rawls sagt“ mehr sein.
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