theorieblog.de | Warum Solidarität kein ‚leerer Signifikant‘ ist

6. November 2019, Wallaschek

— Nach Ulf Tranows Auseinandersetzung mit Solidarität als analytischem und normativem Begriff diskutiert Stefan Wallaschek in unserer Solidaritäts!?-Debatte heute die grundsätzliche Frage, ob Solidarität ein leerer Signifikant oder ein umkämpftes Konzept ist. —

 

We don’t demand solidarity; we appeal to solidarity“
Jodi Dean ‚Reflective Solidarity‘ (1995)

Solidarität ist in aller Munde. Dabei erleben wir nicht nur eine diskursive Referenz auf Solidarität von linken Akteuren bei Protesten und Demonstrationen, sondern auch von konservativer und sogar rechtsradikaler Seite wird der Begriff gegenwärtig genutzt. Bei dieser Akteurs- und Diskurslage könnte man verleitet sein, Solidarität als ‚leeren Signifikanten‘ zu bezeichnen. Solidarität würde dann als bedeutungsleer gelten, der sich begrifflich alles aneignet und damit so flexibel ist, dass sich auch benachbarte Begriffe unter diesem Banner subsumieren ließen. So intuitiv dies erscheinen mag, werde ich im Folgenden argumentieren, dass dies das Laclau’sche Konzept des ‚empty signifier‘ zu sehr vereinfacht und obendrein die Spezifik des Solidaritätsbegriffes verpasst. Vielmehr handelt es sich, so mein alternativer Vorschlag, bei Solidarität um ein ‚contested concept‘ im Anschluss an Gallie, der die diskursive Umkämpftheit und begriffliche Varianz hervorhebt

Was heißt leerer Signifikant?

Ein leerer Signifikant nach Ernesto Laclau besetzt eine machtvolle Position und versucht sich als hegemoniale Konstellation darzustellen. Der leere Signifikant signalisiert demnach den Kampf um (diskursive) Hegemonie, indem er verschiedene Konzepte und Bedeutungen miteinander verbindet und diese absorbiert. Daraus entsteht die diskursive Formation, die den Kampf um Hegemonie vorläufig beendet (ohne wirklich je vollständig hegemonial zu werden, da dieser diskursive Prozess nie abgeschlossen ist). Dabei müssen die verbundenen Konzepte nicht zwangsläufig einen Bedeutungsinhalt teilen, sondern werden in einer diskursiven Formation miteinander verbunden. Wichtig ist demzufolge nicht nur die Machtposition, sondern auch deren diskursive Formation die jegliche Kritik oder Hinterfragung der Hegemonie ‚verbietet‘. Der ‚leere Signifikant‘ wird zur Repräsentation des Diskurses, ‚zum Signifikant des Mangels, einer abwesenden Totalität‘ wie Laclau schreibt. In seiner Selbstrepräsentation steht er nicht mehr für eine konkrete Position im Diskurs selbst, sondern für den Diskurs an sich. Damit gibt sich ein partikularistisches Konzept einen universalistischen Anstrich (dieser Universalismus kann nach dem Laclau’schen Diskursverständnis jedoch nie erreicht werden). Dagegen kann sich also nicht mehr gestellt werden. Die Unabgeschlossenheit des Diskurses betont jedoch, dass es nichtsdestotrotz einen Kampf um die hegemoniale Position im Diskurs – um die Leere im Zentrum des Diskurses – fortbesteht. Diesen Raum zu besetzen, ist das Ziel des Diskurses und damit auch Ziel des Machtkampfes und die Triebfeder politischer Auseinandersetzungen. Es ist die beständige Verhandlung von Antagonismen (ohne Lösung), die niemals fixiert werden und nur in relativer Stabilität bestehen kann. Kurzum, Politik jenseits des Kampfes um Hegemonie existiert für Laclau nicht.

Drei Argumente gegen Solidarität als leeren Signifikanten

Daran anknüpfend haben Studien argumentiert, dass Begriffe wie soziale Marktwirtschaft, Nachhaltigkeit oder der globale Kampf gegen Terror und Drogenhandel zu leeren Signifikanten in ihren jeweiligen Diskursen wurden. Übertragen wir die konzeptionellen Überlegungen auf den Solidaritätsbegriff und gegenwärtige Debatten, lassen sich drei Einwände vorbringen, warum Solidarität kein leerer Signifikant ist.

Erstens, Solidarität entzieht sich begrifflich der Macht- und Hegemonieposition. Würde Solidarität im Diskurs hegemonial werden, wäre es keine Solidarität mehr. Dann würde Solidarität zum Herrschaftsinstrument, welches nicht mehr darauf abzielt, Ungerechtigkeiten und Unterdrückung zu überkommen. Dieser normative Überschuss, der Solidarität auszeichnet, wäre als leerer Signifikant nicht gegeben. Er würde sich gegen jede Form der Kritik verwahren und unhinterfragt geteilt werden. Eine Alternative ließe sich dagegen kaum etablieren. Eben dies ist jedoch empirisch nicht gegeben. Solidarität wird in Zweifel gezogen, ihre Sinnhaftigkeit hinterfragt und erklärt, dass es falsche oder zu viel Solidarität gäbe und daher Solidarität illegitim wäre.

Zweitens müsste Solidarität als leerer Signifikant andere Begrifflichkeiten absorbieren. Dann müsste jedoch gefragt werden, welche das wären. In Frage kommen würden wohl Begriffe wie Nächstenliebe, Altruismus, Kooperation oder Gerechtigkeit. Eben diese Begriffe sind es aber, die weitaus prominenter diskutiert werden (theoretisch und empirisch) als dass sie sich konzeptionell Solidarität unterordnen würden. Vielmehr erscheint es, dass es genau andersherum ist: Solidarität wird mit diesen Begriffen verknüpft und geht scheinbar darin auf. Ein Grund mag sein, dass Solidarität als eher partikularistischer Begriff verstanden wird. Der Versuch, eine Universalisierung von Solidarität diskursiv zu erreichen, scheint eher darauf hinzulaufen, dass Solidarität mit Gerechtigkeit gekoppelt, wenn nicht gar dem Konzept der Gerechtigkeit untergeordnet wird. Solidaritätsaktionen und -rufe benötigen ein konkretes Gegenüber, um Solidarität anrufen zu können. Solidarität wird mit einer konkreten sozialen Gruppe geäußert, nicht als universalistische Forderung nach einer ‚solidarischen Welt‘ (statt der Forderung nach einer ‚gerechten Welt‘ wie z. B. in der Antiglobalisierungsbewegung).

Daran anknüpfend stellt sich drittens die Frage nach der Repräsentation von Universalität durch Solidarität. Mir scheint es konzeptionell schwierig, Solidarität als universelle Begrifflichkeit im Diskurs zu greifen. Solidarität würde nicht nur benachbarte Begriffe unterordnen, sondern müsste sich auf einen konzeptionellen Nenner reduzieren lassen, um das Universalistische im Partikularen zu repräsentieren. Eben dies lässt sich aber weder in der theoretischen noch in der empirischen Debatte feststellen. Auch wenn es Tendenzen gibt, Solidarität vornehmlich als Redistributionsmechanismus zu verstehen, der eng an den nationalen Wohlfahrtsstaat gekoppelt wird, zeigt sich hieran eigentlich, dass es dabei eben nicht um Solidarität geht, sondern dass es sich vielmehr um eine Frage der (Verteilungs-)Gerechtigkeit handelt.

Solidarität als umkämpftes Konzept

Aus diesen drei Gründen argumentiere ich, dass das Konzept des ‚leeren Signifikanten‘ nicht weiterhilft und es stattdessen konzeptionell sinnvoller ist, Solidarität als ‚contested concept‘ nach Gallie zu verstehen. Contested concepts werden definiert als „concepts the proper use of which inevitably involves endless disputes about their proper uses on the part of their users.“ (Gallie 1956: 169). Und weiter: „More simply, to use an essentially contested concept means to use it against other uses and to recognize that one’s own use of it has to be maintained against these other uses. Still more simply, to use an essentially contested concept means to use it both aggressively and defensively. (Gallie 1956: 172).

Anstatt anzunehmen, dass sich Solidarität notwendigerweise als hegemoniale diskursive Formation politisch konstituiert, kann mit Gallie betont werden, dass verschiedene Formen des Konzepts um Bedeutungen ringen und von sich selbst annehmen, dass sie eine Wahrheit in sich tragen. Jedoch wird nicht angenommen, dass dies zur hegemonialen Stellung einer Bedeutung führen muss, sondern vielmehr, dass diese Bedeutungen im ständigen Ringen um die ‚richtige‘ Bedeutung kämpfen. Empirisch kann dann untersucht werden, welche umkämpften Bedeutungen im Diskurs bestehen, welche wann und unter welchen Bedingungen bedeutungsvoller oder stärker repräsentiert werden. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, war der Solidaritätsdiskurs in der europäischen Migrationskrise durch einen Konflikt zwischen einem transnationalen Verständnis von kultureller Solidarität, welches auf geteilte Normen und Identitäten zielt, und einem intergouvernementalen politischen Verständnis von Solidarität, welches auf die Reform des Dublinsystems und einen Umverteilungsmechanismus von Flüchtlingen unter den EU-Mitgliedstaaten abzielt, gekennzeichnet. Auch wenn letzteres größeres diskursive Gewicht hatte, hieß das nicht, dass diese Form politischer Solidarität hegemonial und aus Repräsentationssicht universalisiert wurde.

Gegenwärtig scheint es intuitiv zu sein, von Solidarität als leeren Signifikanten zu sprechen. Jedoch habe ich gezeigt, dass dies konzeptionell wie empirisch problematisch ist und Solidarität als Begriff missversteht. Anstatt theoretisch anzunehmen, dass der Begriff von Solidarität hegemonial im Diskurs geworden ist, sich versucht zu universalisieren, um die Leere im Diskurs zu füllen, können mit den ‚contested concepts‘-Verständnis diskursive Veränderungen und die Vielfalt des Diskurses besser verstanden werden. Wie sich die diskursive Konstruktion von Solidarität vollzieht und wer wie – im Sinne Jodi Deans –Solidarität anruft, lässt sich damit theoretisch wie empirisch genauer untersuchen. Damit ließe sich schließlich auch zeigen, dass das Ringen um ein solidarisches Miteinander konflikthafter und dynamischer ist, als es die Annahme nach einer hegemonialen Formation von Solidarität im Diskurs zu suggerieren sucht. Es ist konflikthafter, weil die Frage wer mit wem Solidarität übt, je nach Solidaritätsaktion und erwarteter Reziprozität andere Antworten bietet, die unterschiedlich interpretiert werden und zu Deutungskämpfen führen können. Es ist auch dynamischer, weil Solidarität kaum dauerhaft etabliert oder verrechtlicht werden kann. Vielmehr sind es die sich wandelnden Solidaritätsbezüge und -kontexte die in der solidarischen Praxis reflektiert werden sollten.

Stefan Wallaschek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim im Forschungsverbund ‚SOLDISK – Solidaritätsdiskurse in Krisenzeiten‘. Seine Doktorarbeit ‚Mapping Solidarity in Europe‘ hat er zu Solidaritätsdiskursen in der Eurokrise und der europäischen Migrationskrise geschrieben. Zuletzt hat er auf dem Theorieblog das Buch ‚Solidarität – die Zukunft einer großen Idee‘ (Hanser, 2019) von Heinz Bude rezensiert. „Ich möchte mich herzlich bei Astrid Séville und Stephan Lessenich bedanken, die mich durch ihre Fragen zu meiner Doktorarbeit zu diesem Text angeregt haben.“


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