— Nach dem starken Plädoyer von Brigitte Bargetz, Alexandra Scheele und Silke Schneider für feministische Perspektiven gerade auch auf umkämpfte Solidaritäten, blickt Felix Anderl im vorletzten Beitrag unserer Solidaritäts!?-Debatte heute auf den potentiell expansiven Charakter der Solidarität im globalen Horizont. —
“Das Eins hat schlechthin nur Wahrheit als viele Eins.“ (Karl Marx)
Solidarität hat etwas Expansives. Sie reicht einer Gegenüber die Hand und erwirkt damit eine Einheit, die zuvor nicht bestand. Ihr Horizont ist globale Gerechtigkeit. Dies lässt sich gut an Institutionen wie dem Weltsozialforum zeigen, aber auch an der Entwicklungspolitik oder der Erweiterungspolitik der Europäischen Union, die auf dem Versprechen aufbaut(e), dass es – durch europaweite solidarische Politik – allen Europäerinnen einmal so gut gehen würde wie jenen im „Kerneuropa“. Dass dies nicht nur die leere Rhetorik eines neoliberalen Clubs war, zeigt sich etwa in der Verwendung von Solidarität in der Kritischen Theorie. Hauke Brunkhorst (1997, ähnlich Fraser) definiert Fortschritt als die Ausweitung der Solidarität unter Freunden auf die Solidarität mit Fremden. Die Verallgemeinerung der Solidarität in diesem Zusammenhang ist ein Prozess, in dem sich der Kreis derer, für die wir mitfühlend und verantwortlich sind, sukzessive erweitert.
Die Krise der Solidarität
Es ist wohl nicht übertrieben, von einer Krise dieser Solidarität zu sprechen. Nicht nur werden die sogenannten „Globalisten“ von rechten PolitikerInnen angegriffen, auch die traditionellen „EmpfängerInnen“ der Solidarität sind nicht mehr bereit, die Abhängigkeiten in Kauf zu nehmen, die allzu oft im Namen der transnationalen Solidarität geschaffen oder reproduziert wurden. Nach der postkolonialen Kritik an Entwicklung, Fortschritt und weißem Paternalismus könnte man den Eindruck gewinnen, dass gerade der Anspruch auf „das Globale“ Solidaritätsprojekte über Differenzen hinweg problematisch macht, mobilisiert er doch expansionistische und präskriptive Denkmuster und koloniale Diskurse. Die „globale“ Rahmung von Solidaritätspolitiken wie etwa des Global Justice Movement wirft daher die Frage auf, ob sie Andere nur integriert und homogenisiert, anstatt sie tatsächlich zu unterstützen.
Nach der Euphorie angesichts der transnationalen Solidarität im Rahmen des Weltsozialforums zu Beginn der 2000er Jahre distanzieren sich viele TheoretikerInnen heute demnach von einem solchen Bezugssystem. So hat beispielsweise Nikita Dhawan (2013) zuletzt aufbauend auf der postkolonialen Kritik des Kosmopolitismus auch den Aktivismus für globale Solidarität für „unmöglich“ und daher in der Praxis imperial erklärt. Sie verbindet den zugrundeliegenden Gestus transnationaler Solidaritätsbewegungen, insbesondere von Straßenprotesten, mit dem liberalen Kosmopolitismus à la Martha Nussbaum und Ulrich Beck. Dabei rekonstruiert sie, wie diese AutorInnen gemeinsame Bedrohungen in einer globalisierten Welt als Grundlage für ein kosmopolitisches Moment in einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck) instrumentalisieren. Die Globalisierung des Risikos (z.B. durch den Klimawandel), muss in dieser liberalen Sichtweise zu einer Globalisierung des Mitgefühls führen, da „wir alle“ angeblich „in einem Boot“ säßen. Unter Verweis auf die Titanic lehnt Dhawan diese Boot-Metapher zu Recht ab, da die Überlebenschancen auf diesem in jeglichem Sinne überstrapazierten Schiff positiv mit dem Preis der Tickets korrelierten – ertranken doch die Passagiere in den unteren Klassen zuerst und damit in höherer Zahl –, ein Faktum, das auf die derzeitigen und zukünftigen Betroffenen des Klimawandels unmittelbar übertragbar erscheint.
Aufbauend auf dieser Kritik des liberalen Kosmopolitismus betont Dhawan die Verwobenheit seiner Solidaritätsbewegungen mit genau jenen globalen Herrschaftsstrukturen, denen sie sich zu widersetzen vorgeben. Diese Solidarität, so argumentiert sie, gründet sich auf das global operierende Kapital als „notwendige Voraussetzung für das Entstehen einer zeitgenössischen kosmopolitischen Sensibilität“ (Dhawan 2013: 140, alle Übersetzungen F.A). Kosmopolitische Mitgefühl lässt die Privilegien der Elite intakt und löscht die „Kontinuitäten zwischen Kosmopolitismus, Neokolonialismus und wirtschaftlicher Globalisierung aus“ (ebd.). Die „horizontale Organisation“ und „spontane Solidarität“, die mit Blick auf die jüngsten Protestbewegungen, z.B. von Judith Butler, analysiert wurden, stellen sich auf Basis dieser Überlegungen demnach als reine Phantasie dar: Durch die Verschleierung von Machtstrukturen innerhalb der „Zivilgesellschaft“ würde, so ihre These, vielmehr Subalternität reifiziert. Dhawan fordert daher eine Abkehr von der globalen Solidarität und eine Hinwendung zum (‚eigenen‘) Staat. Ähnlich hatte bereits vor ihr Rita Felski (1997) die feministische Betonung von lokaler Positionalität als Argument gegen jegliche Form von Generalisierung interpretiert und Radhika Mohanram (1999, 91) die Aufwertung des Partikularen als Abkehr vom Systemischen – etwa die Analyse globaler Ungleichheiten – gerahmt.
Reflexive Praxis
Wie also weitermachen, wenn einerseits der Fortschritt in der Kritischen Theorie als Verallgemeinerung der Solidarität konzipiert ist und genau jene Ausweitungsbewegung in der postkolonialen Theorie als Angriff auf das Partikulare empfunden und damit delegitimiert wird? Meine These ist, dass diese gegensätzlichen theoretischen Ausrichtungen (Lokalisierung vs. Verallgemeinerung) bereits in der täglichen Praxis progressiver transnationaler sozialer Bewegungen überwunden werden.
Besonders eindrücklich demonstriert dies etwa das transnationale Netzwerk von KleinbäuerInnen La Via Campesina, das sich unter dem Slogan „Globalize the Struggle, Globalize the Hope“ ganz explizit zur globalen Solidarität bekennt. Jedoch kann eine solche nur in der Partikularität begründet werden, ist doch eine Reisbäuerin in Java mit ganz anderen Problemen und kontextgebundenen Logiken konfrontiert als eine Schweinebäuerin von der Schwäbischen Alp. Es ist auch gar nicht das Ziel der Bewegung, das Globale als gemeinsam erlebte Realität zu konzipieren, sondern es vielmehr immer wieder aus dem Partikularen heraus als gemeinsames Imaginär zu er- und begründen. Dies drückt sich in zähen, tagelangen Treffen aus, in denen es zuallererst darum geht, die eigene Situation verständlich zu machen und die Pluralität der Bewegung zu erleben. Die Formulierung gemeinsamer Strategien steht hierbei nicht an erster Stelle, sondern ist eingebunden in und das Produkt von Beziehungsarbeit, die explizit Fragen der Kosmologie (also Aspekte nicht aufzulösender Differenz) miteinschließt. Hier wird gelernt und gestritten und so das gemeinsame Interesse stets aufs Neue herausgearbeitet. Das Selbst wird beschrieben, eingebettet, und hinterfragt und in der gemeinsamen – oftmals mühevollen – Praxis erst zum Souverän. Das Lokale und Partikulare ist hier selbstverständlich der Ausgangspunkt politischer Praxis und soll auch keinesfalls überwunden werden. Die eigene Sichtweise und Rolle steht aber stets zur Disposition und wird so in gemeinsamer Praxis politisiert, die als solche wiederum stets aufs Neue das „Globale“ konstituiert und dadurch vorausgesetzte Globalismen infrage stellt.
Auch wenn La Via Campesina hier als besonders erfolgreiches Beispiel hervorsticht, lassen sich ähnliche Prozesse auch in anderen transnationalen sozialen Bewegungen erkennen. So sind beispielsweise die Proteste gegen zu hohe Mieten notwendigerweise lokal und kontextgebunden. Die „Recht auf Stadt“-Bewegung setzt hier in der kleinsten Parzelle an, wenn sie durch Petitionen einen Gemüseladen unterstützt oder die Räumung einer Sozialwohnung durch Blockaden verhindert. Es wäre kaum hilfreich hier immer die „globale Solidarität“ oder die Einheit des transnationalen Antikapitalismus zur Schau zu stellen. Jedoch ist diesen Kämpfen eine Potenzialität eingeschrieben, die sich explizit in der Verortung in einer gemeinsamen Makrostruktur – und der Gentrifizierung als ihrer inkohärenten aber direktionalen Verkörperung – begründet (Mullis 2017, 302). Da alle wohnen müssen, sind auch alle in unterschiedlichem Maße in das System der Gentrifizierung verstrickt. Hierbei begründet sich aber wiederum Solidarität nicht etwa darin aus, dass alle die gleichen Probleme haben, sondern dass die eigene Rolle und ihre partikulare Bedeutung innerhalb eines Zusammenhangs reflektiert wird, um gemeinsame Interessen zu konstruieren und damit sowohl den eigenen Kontext als auch „das Ganze“ zu verändern.
Solidarität als Prozess
Somit überkommen diese Bewegungen die faden Kategorien lokal vs. global. Die an Veränderungen interessierten Subjekte sind in der Lage, Solidaritätsbeziehungen zu bilden und aufrechtzuerhalten, die sich nicht nur aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (Solidarität unter) oder aus einem gegebenem Interesse (Solidarität mit) ergeben, sondern die Solidaritätsbeziehungen in der Erarbeitung von kontingenten Gemeinsamkeiten aufbauen und ihre Ansprüche gegen hierarchische Konstellationen richten, denen sie in unterschiedlichem Maße angehören. Dies ist die Grundlage für einen dialektischen Prozess, welcher lokale und globale Solidarität aus ihrem unverbundenen Gegensatz löst. Aus analytischer Sicht ist die Solidarität demnach eher in diesen Konstruktionspraktiken als in ihren Gründen oder Effekten zu beobachten.
Theoretisch verlangt dies eine prozessorientierte Definition von Solidarität, die weder auf eine Gruppe beschränkt noch auf ein bestimmtes Ergebnis ausgerichtet ist. Chandra Mohanty hat eine solche Definition bereits in den 1980er Jahren stark gemacht. Auch sie kritisierte die imperialistischen Aspekte der „global justice“-Idee. Doch im Gegensatz zu Felski und Dhawan favorisiert sie keine nach innen gerichtete Vision des Feminismus, die sich auf ‚ihren eigenen‘ Staat konzentriert, anstatt Grenzen zu überschreiten. Sie fordert uns im Gegenteil auf, die präskriptiven und/oder naiven Aspekte des globalen Feminismus zu überwinden, indem Solidarität praktiziert wird: “in terms of mutuality, accountability, and the recognition of common interests as the basis for relationships among diverse communities” (Mohanty 2003, 7).
Die „Anerkennung des gemeinsamen Interesses“ muss hierbei nicht als Einsicht in gegebene Gemeinsamkeiten, sondern als praktische Arbeit der Herstellung eben solcher verstanden werden. Derlei Solidaritäten werden nicht nur im Geiste der Gegenseitigkeit konstruiert, sondern auch mit dem bewussten Anspruch, die Ausschlüsse dieser Konstruktion einem Prozess der andauernden Selbstreflexion zu unterwerfen. Beobachtbar ist Solidarität demnach dort, wo Gemeinschaften über Differenzen hinweg versuchen, auf Basis der eigenen Partikularität – und der damit einhergehenden Bedürfnisse und/oder Privilegien – gemeinsame Interessen zu formulieren. Dies kann nur gelingen, wenn gleichzeitig das Selbst zur Disposition steht, um das Gemeinsame zu erreichen; das Gemeinsame entsteht allerdings erst in gerade jenem Prozess. Die KritikerInnen globaler Solidarität mögen damit Recht haben, dass jene – so verstanden – in der Praxis äußerst selten aufzufinden sein dürfte, ist sie doch vor allem: anstrengend. Sie verglüht dort, wo sie zum Artefakt wird und lebt nur im Prozess, der den Beteiligten einen hohen Grad an Selbstreflexivität abverlangt. Diese Arbeit zwingt uns aber, das Entweder-Oder der theoretischen Diskussion zugunsten eines Solidaritätsbegriffs zu überwinden, der generalisierend und doch notwendigerweise im Partikularen verortet ist.
Felix Anderl ist Research Associate an der University of Cambridge. Er arbeitet im ERC-finanzierten Projekt The Global as an Artefact im Centre for the Arts, Social Sciences and Humanities. Dort forscht er im Bereich Internationale Beziehungen, insbesondere zur Agrar- und Entwicklungspolitik. Sein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Ausgestaltung transnationaler Herrschaft und der Rolle von transnationalen sozialen Bewegungen. Felix twittert unter @felicefrancesco.
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