Solidarität als normativer und analytischer Begriff

— Nachdem Hermann-Josef Große-Krachts Plädoyer, Solidarität zu ent-emotionalisieren, und Alexander Struwes Auseinandersetzung mit der Idee emanzipatorischer Solidarität unsere Solidaritäts!?-Debatte eröffnet haben, blickt Ulf Tranow heute systematisierend auf den Begriff der Solidarität, seine analytischen und normativen Dimensionen. —

Kaum eine Debatte über die Klimakrise, den Sozialstaat, die Migrationsfrage oder die Verfasstheit der EU kommt ohne Thematisierung von Solidaritätsfragen aus. Trotz dieser Omnipräsenz tut sich die politische Theorie schwer mit der Solidarität. Im Unterschied zu Freiheit und Gleichheit steht Solidarität unter Verdacht, nicht sonderlich theoriefähig zu sein (Münkler 2004). Dieses mag daran liegen, dass die neuzeitliche Ethik primär an der Formulierung universeller Normen interessiert ist, Solidarität aber einen partikularen Charakter hat (Bayertz 1998). In der Soziologie ist die Ausgangslage eine andere. Solidarität gilt seit Durkheim (1992 [1892]) als Schlüsselbegriff des Fachs. Allerdings wird Solidarität in der Durkheimschen Tradition ganz allgemein mit sozialer Kohäsion identifiziert, wodurch der Begriff analytisch unscharf bleibt und sich nicht unmittelbar mit den Solidaritätsfragen im politischen Diskurs verknüpfen lässt.

Trotz dieser Schwierigkeiten möchte ich dafür plädieren, Solidarität als Grundbegriff der politischen Theorie und Soziologie zu begreifen. Denn er hat das Potential, Fragen aufzuwerfen und Probleme zu konturieren, die sowohl für normative als auch empirische Auseinandersetzungen mit dem Politischen höchst relevant sind. Um dieses Potential auszuschöpfen, bedarf es allerdings eines Begriffs von Solidarität, der diesen mit substantiellen Inhalten verknüpft und zugleich offen hält für eine Vielfalt an Problemstellungen. Im Folgenden werde ich einen solchen Solidaritätsbegriff vorschlagen und zwei wesentliche Themenkomplexe anreißen, die aus ihm erwachsen: (1) Was sind Mechanismen der Grenzziehung von Solidarität und welche ethischen Fragen sind mit ihnen verknüpft? (2) Wo sind politische Gemeinschaften mit Solidaritätsdilemmata konfrontiert und welche ethischen Problemstellungen werfen sie auf?

Solidaritätsbegriff

Trotz aller Unschärfen lässt sich aus unserem Alltagsverständnis und der einschlägigen Literatur folgendes Kernverständnis von Solidarität ableiten: Solidarität manifestiert sich in Leistungen zugunsten anderer oder der Gemeinschaft, die mit Rekurs auf Wertvorstellungen von Gemeinwohl und Verantwortung legitimiert und eingefordert werden. Ausgehend von diesem Kernverständnis gibt es unzählige Spezifizierungen des Solidaritätsbegriffs. Statt sich in einer Diskussion ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu verzetteln, schlage ich vor in den Blick zu nehmen, auf welche Fragen Solidarität eine Antwort darstellt. Vier Fragen scheinen mir hier von besonderer Bedeutung zu sein, jede von ihnen verweist auf eine zentrale Herausforderung der politischen Organisation eines Gemeinwesens (Tranow & Schnabel 2019):

  • Kollektivgutfrage: Welche Kollektivgüter sollen realisiert werden und wer soll in welchem Umfang zu ihnen beitragen?
  • Verteilungsfrage: Was ist eine ‚faire‘ Verteilung der Kooperationsgewinne/-lasten?
  • Unterstützungsfrage: Was sind Bedarfssituationen, die Unterstützung durch Dritte fordern, und welchen Umfang soll die Unterstützung haben?
  • Loyalitätsfrage: Welcher Grad an Bindung bzw. Freiheit soll unter Kooperierenden realisiert sein?

In den Antworten auf diese vier Fragen drücken sich die zentralen in einer Sozialität existierenden Vorstellungen von Gemeinwohl und kollektiver Verantwortung aus. Der Soziologie kommt insbesondere die Aufgabe zu, die Institutionen, Diskurse und Praxen zu untersuchen, in denen sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von und Auseinandersetzungen um Solidarität manifestieren.

Da Solidarität nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis nicht mit einer bestimmten Ethik verknüpf ist, handelt es sich um ein normativ abhängiges Konzept. Ohne moralische Hintergrundtheorie, aus der sich Kriterien für Gemeinwohl und Verantwortung ableiten, lassen sich die Kollektivgut-, Verteilungs-, Unterstützungs- und Loyalitätsfrage allerdings nicht gehaltvoll beantworten. Der politischen Theorie kommt deshalb insbesondere die Aufgabe zu, Antworten auf die vier Fragen zu geben und dadurch das Solidaritätskonzept normativ auszubuchstabieren.

Solidarität und Grenzziehung

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Solidarität einen partikularen Charakter hat, sie unterliegt Grenzziehungen und ist von beschränkter Reichweite. Während sich aus normativer Perspektive die Frage stellt, welche Grenzziehungen vertretbar und wünschenswert sind, ist empirisch vor allem danach zu fragen, auf welchen sozialen Mechanismen Grenzziehungen basieren und welche Ideologien dabei zur Anwendung kommen. Um normative und empirische Fragen der Grenzziehung behandeln zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst über die relevanten Dimensionen zu vergewissern. Neben der sozialen (welche Personengruppen sind inkludiert?) sind hier auch die materielle (wie hoch fallen die Solidarleistungen aus?) und die räumliche Dimension (inwieweit ist Solidarität örtlich gebunden?) in den Blick zu nehmen. Die Reichweite von Solidarität konstituiert sich aus allen drei Dimensionen. Diese sind nicht unabhängig voneinander, sondern unterliegen einem Interdependenzverhältnis. Die Reichweite von Institutionen und Praxen der Solidarität erschließt sich erst, wenn dieses Interdependenzverhältnis rekonstruiert wird.

Dieses kann anhand der beschränkten Reichweite der im Asylrecht zum Ausdruck kommenden Solidarität illustriert werden. Der grundgesetzliche Asylrechtsanspruch formuliert eine universelle Inklusion, die allerdings dadurch beschränkt wird, dass sich auf den Anspruch nur berufen kann, wer nicht aus einem sicheren Drittstart einreist. Während diese grundgesetzliche Verankerung im politischen Diskurs (derzeit noch) als unverhandelbar gilt, wird politisch Vieles getan, damit das Asylrecht nur maßvoll in Anspruch genommen wird. Dazu zählen die Versuche, negative Anreize durch Standardsenkungen im Asylbewerberleistungsgesetz zu setzten, die Liste sicherer Herkunftsstaaten zu erweitern oder durch eine restriktive Grenzpolitik zu verhindern, dass Interessierte in das Territorium der EU oder Deutschlands einreisen.

Solidaritätsdilemmata

Jede Solidarität ist zugleich eingebettet in ein System vielfältiger Solidaritäten, welches sich über mehrere Ebenen erstreckt. Politische Gemeinschaften stehen vor der Herausforderung, unterschiedliche Solidaritäten auszutarieren und ins Verhältnis zu setzten. Dabei kann es zu Solidaritätsdilemmata kommen. Solche tauchen auf, wenn unterschiedliche Solidaritäten, deren Realisierung als wünschenswert betrachtet wird, in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen und sich auszuschließen scheinen. Spannungsverhältnisse sind nicht nur darauf zurückzuführen, dass jede Solidarität knappe Ressourcen in Anspruch nimmt, sondern zusätzlich darauf, dass die institutionellen und kulturellen Voraussetzungen verschiedener Solidaritäten konfligieren können.

Dieses lässt sich an der aktuellen Auseinandersetzung innerhalb der gesellschaftlichen Linken über die Migrationsfrage illustrieren (Urban 2018). Bei dieser trifft der Anspruch menschenrechtlicher auf den Anspruch sozialstaatlicher Solidarität. Bei beiden Solidaritäten handelt es sich um linke Kernanliegen, doch zumindest unter den existierenden Realisierungsbedingungen von Sozialstaatlichkeit scheint ein Spannungsverhältnis zwischen ihnen zu existieren. Eine unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten wünschenswerte open borders-Politik droht die materiellen und kulturellen Anforderungen des Sozialstaats zu unterminieren; eine im Sinne des Sozialstaats ‚funktionale‘ Migrationspolitik konfligiert dagegen mit menschenrechtlichen Anforderungen. Das Aufdecken und die Analyse solcher Solidaritätsdilemmata sowie die Suche nach Vermittlungsmöglichkeiten ist eine Aufgabe, zu der sowohl die politische Theorie als auch Soziologie beitragen können.

Ausblick

Solidaritätsfragen haben einen festen Platz in politischen Debatten. Da Solidarität knappe Ressourcen in Anspruch nimmt, auf Grenzziehungen basiert und mit Priorisierungen von Anliegen und Problemlagen einhergeht, weisen diese Debatten ein hohes Konfliktpotential auf. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass sie anfällig sind für wohlstandschauvinistische und andere populistische Narrative, wie wir in den aktuellen Auseinandersetzungen um die EU oder die Migrationsfrage beobachten können. Angesichts dieser Herausforderung wäre es wünschenswert, wenn sich politische Theorie und Soziologie verstärkt Fragen der Solidarität zuwenden würden, um normatives und empirisches Reflexionswissen für die demokratische Auseinandersetzung bereitzustellen. Der hier vorgestellte Solidaritätsbegriff versteht sich als Grundlage für eine solche interdisziplinäre Forschungsperspektive.

 

Ulf Tranow ist Juniorprofessor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. der Zusammenhang von Solidarität, Konflikt und Integration, soziologische Handlungstheorie und soziale Normen. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Analyse & Kritik. Journal of Philosophy and Social Theory.

2 Kommentare zu “Solidarität als normativer und analytischer Begriff

  1. “ … aus unserem Alltagsverständnis und der einschlägigen Literatur folgendes Kernverständnis von Solidarität ableiten: Solidarität manifestiert sich in Leistungen zugunsten anderer oder der Gemeinschaft, die mit Rekurs auf Wertvorstellungen von Gemeinwohl und Verantwortung legitimiert und eingefordert werden. “

    Und schon ist der Versuch, die gemeinen Klippen der Partikularität zu umschiffen, indem man Bayertz‘ Hinweis aus dem „Soziologischen“ des Begriffs zunächst vor-/aus-/klammert, baden gegangen, denn der Satz muss, gerade „aus unserem Alltagsverständnis und der einschlägigen Literatur“ heraus, aus dem Politischen und Vor-Soziologischen etc., anders lauten:
    „Solidarität manifestiert sich in Leistungen, Beiträgen (Solidar-/Streik-Kassen), Duldungen und beigesellten bis gemeinschaftlichen Handlungen zugunsten von einem selbst, anderer oder einer Gemeinschaft, die mit Rekurs auf Interessen, gelegentlich auch auf Wertvorstellungen von Gemeinwohl und (Mit-)Verantwortung, erfolgen.
    „Legitimität“ ist, dem Alltagsverständnis und der einschlägigen Literatur folgend, höchst sekundär, und oft ist auch, zum Beispiel im Falle allg. Empörung, auch der „Forderung“s-Charakter marginal.

    „In den Antworten auf diese vier Fragen drücken sich die zentralen in einer Sozialität existierenden Vorstellungen von Gemeinwohl und kollektiver Verantwortung aus.“

    Mag gut sein, aber das verfehlt den Solidaritätsbegriff (SB), der MEHR und WENIGER als „Gemeinwohl-Vorstellungen“ und solche von Kollektivverantwortungen einer Sozialität reflektieren muss.
    Zum SB ist und bleibt der Lohnarbeiterstreik vorerst ikonisch. Der hat zunächst Eigeninteressen im Blick, auch wenn sich diese im Gesamt(un/wohl)ergehen der entspr. Schichten, Millieus und Klassen wesentlich realisieren, nicht nur – und oft kaum – im Saldo von neuer, eigener Lohntüte minus eigener Streikkosten, – agiert aber dabei sehr oft ohne jede Rücksicht auf das ALLGEMEINE Wohl & Wehe.

    Das Wieder-Einholen zunächst ausgebooteter Partikularität anhand der Asyl- u. Migrationsfragen gelingt eher nicht, denn Resourcen- u. andere -Konkurrenzen sind nicht A PRIORI nur „Schein“, wie der Text insinuiert, können allenfalls als solcher je dekonstruiert werden, wozu aber große Teile der soziologischen u. polit. Theorie weder willens noch in der Lage sind, auch und gerade im vermeintlich „linken“ und linksliberalen – immerhin nach tausenden zählendem – Lager von Streek bis Habermas. (Übers

  2. … Über’s rechte Lager erübrigt sich diesbezüglich (Realität vs. Anschein von Ziel- u. Motiv-Konkurrenzen von S.) zu sprechen.

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