Impulse aus dem feministischen Archiv: Zur Theoretisierung umkämpfter Solidaritäten

— Nach den facettenreichen Beiträgen der letzten Wochen leiten Brigitte Bargetz, Alexandra Scheele und Silke Schneider mit bisher vernachlässigten feministischen Perspektiven auf umkämpfte Solidaritäten die abschließende Woche unserer Solidaritäts-Debatte ein. —

Was bedeutet Solidarität, wenn neoliberale Prozesse beschleunigter Individualisierung sowie staatlicher und gesellschaftlicher Entsolidarisierung in den Blick genommen werden? Oder jene Tendenzen zur Autoritarisierung im globalen Norden, in denen sich rechte und rechtspopulistische Bewegungen und Parteien unter nationalistischen und rassistischen Vorzeichen auf Solidarität berufen? Oder auch jene transnationalen Solidarisierungen, die sich im Engagement mit und für Geflüchtete(n) oder in sozialen Bewegungen wie #BlackLivesMatter, #NiUnaMenos oder #MeToo zeigen? Welche Form, welches Verständnis politisch-emanzipatorischer Solidarität ist dann gefragt? In unserem Beitrag plädieren wir für einen Blick in die feministische Werkzeugkiste. Denn die Theoretisierung und Politisierung der (Un-)Möglichkeiten feministischer Solidarität prägt feministische Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten. Damit stellen sie nicht nur ein instruktives Archiv für Konzeptionierungen politischer Solidarität dar. Vielmehr bieten sie auch aktuell wichtige Anknüpfungspunkte für Bündnispolitiken und Möglichkeiten kollektiven Handelns.

Solidarität und Feminismus

Solidarität unter Frauen* bildet das Fundament des Feminismus. Feminismus kann als eine ebenso dynamische wie vielfältige Bewegung des Denkens und Handelns mit dem Ziel der Überwindung hierarchischer Geschlechterverhältnisse und vergeschlechtlichter Machtverhältnisse im Kontext eines insgesamt an sozial-emanzipatorischen Zielen und Kriterien orientierten gesellschaftlichen Wandels verstanden werden. Feminist*innen erklären sich solidarisch mit Frauen*bewegungen, mit feministischen Kämpfen um globale Geschlechtergerechtigkeit und gegen vergeschlechtlichte Gewalt oder mit der Infragestellung hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit und den darin eingeschriebenen Begehrensstrukturen und Existenzweisen. Allerdings sind bereits in der Idee einer Solidarität unter Frauen* Konflikte und Widersprüche angelegt: Mitnichten gibt es das eine gemeinsame Interesse, den einen gemeinsamen Kampf für die eine gemeinsame gute Sache. Vielmehr sind Idee und Praxis der Solidarität umkämpft. Die Frage danach, wie (feministische) Solidarität zu fassen ist, gilt es daher erstens unter der Prämisse zu betrachten, dass politische Positionen, Haltungen und Handlungen nicht deckungsgleich sind, sondern dass sich im Sinne eines „Commitments“ in einzelnen sozialen Kämpfen Schnittmengen einer „politischen Solidarität“ bilden können, wie es bell hooks bereits Anfang der 1980er-Jahre vorgeschlagen hat. Solidarität steht nicht ein für alle Mal fest, sondern muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Zweitens müssen die Bedingungen in den Blick genommen werden, unter denen Solidarität gefordert und Solidaritätsbekundungen geäußert werden, und wie diese Forderungen und Solidaritätsbekundungen in gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden sind.

Solidarität und/als Brüderlichkeit, Solidarität und/als „gobal sisterhood“?

Brüderlichkeit, die im Leitspruch der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zum Ausdruck kommt, gilt nicht nur als Vorläufer von Solidarität, sondern bildet gleichsam, wie Eva Kreisky in ihrem Aufsatz ‚Brüderlichkeit und Solidarität‘ formuliert, das Fundament von Demokratie. Begrifflich wird hier bereits deutlich, was auch politisch galt: Solidarität war zunächst eine Idee unter Brüdern – Frauen* und ‚Fremde‘ waren ausgeschlossen. Über Grenzziehungen, Differenzsetzungen und Hierarchisierungen wurde bzw. wird die Figur des ‚Anderen‘ konstruiert und zwischen Bürgern (und später Bürgerinnen) und ‚Anderen‘ bzw. jenen mit und jenen ohne Rechte unterschieden. Die Herausforderung besteht also darin, sowohl den maskulinistischen und eurozentrischen Subtext sowie die Genealogie aktueller Auffassungen von Solidarität freizulegen als auch davon ausgehend Solidarität als Teil von Gesellschaft und Emanzipation anders und neu zu denken.

Dass die Idee von Solidarität als „sisterhood“, nicht als Antwort, sondern vielmehr als kontextbezogene Intervention und als politischer Kampfbegriff zu verstehen ist, hat vor allem die Black Feminist und postkoloniale Kritik deutlich gemacht. Erweist sich die Unterstellung eines feministischen Gemeinsamen, eines feministischen ‚Wir‘ nicht gerade auch als hierarchisch gegliedertes Gemeinsames, als, mit Chandra Talpade Mohanty gesprochen, „ethnozentrischer Universalismus“? Und inwiefern handelt es sich bei der viel beschworenen Solidarität de facto um eine Kompliz*innenschaft mit Herrschaftsstrukturen von eben jenen, die sich solidarisch erklären? In postkolonialen Auseinandersetzungen wurde eindrücklich gezeigt, wie Debatten zu transnationaler Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten mit eurozentrischen und paternalistischen Überlegenheitsgesten verbunden sind, die bis in die Gegenwart in Theorien und Praxen relevant bleiben. Wird Solidarität hingegen als ein Ringen um das Gemeinsame begriffen und nicht automatisch mit Zugehörigkeit, gemeinsamer Identität oder einem geteilten Opferstatus in Verbindung gebracht, dann erweitert sich der Blick auf Solidarität als dynamischem Prozess, als Prozess, der sich jeder Festschreibung und jeder Fixierung auf eine feststehende Form von (globaler) feministischer Solidarität entzieht.

Differenzen und Verbundenheit

Folglich gilt es, Differenzen nicht einzuebnen, sondern vielmehr als Möglichkeitsräume für Koalitionen und Solidaritäten über Grenzen hinweg zu fassen. Es geht um solidarische Kämpfe als kontextualisierte, historisch-spezifische und nicht zuletzt um antikapitalistische Kämpfe, wie es Mohanty Anfang der 2000er-Jahre angesichts des Siegeszugs des Kapitalismus und zunehmend rechter Tendenzen formuliert hat. Solidarität bedeutet also Verbundenheit trotz oder sogar wegen Differenz. Solidarität ist kein Identitätsprinzip, sie legt nicht Einheit, sondern vielmehr Pluralität nahe, wie auch Amy Allen mit Bezug auf Hannah Arendt deutlich gemacht hat. Die Frage danach, wie Solidarität als Gemeinsames entsteht, schließt damit die Perspektive auf die Vielfältigkeit und Differenziertheit politischer Subjekte mit ein.

Solidarität ist dann auch als eine Form der allgemeinen Verbundenheit und damit als eine bindende sowie interdependente Kraft zu verstehen. Judith Butler geht z.B. davon aus, dass die Fähigkeit zum (politischen) Handeln erst über die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit und Angewiesenheit entwickelt werden kann und sieht hierin eine Voraussetzung für solidarisch-verantwortliche gesellschaftliche Bündnisse. Als bindende Kraft verweist Solidarität aber auch auf eine affektive Dimension. So schlägt Bini Adamczak vor, Solidarität als Beziehungsweise (neu) zu denken. Solidarität ist eben auch ein Gefühl, Solidarität meint affektive Bindungen und sorgende Beziehungsweisen ebenso wie die Sehnsucht nach veränderten, nach neuen Beziehungsweisen. Nicht zuletzt ist die Erfahrung und Kraft des Unbehagens eine potenzielle, jedoch keineswegs notwendige Basis feministischer Solidarität und Reflexivität. Hierfür ist es zentral, ein Verständnis von Gefühl als (vergeschlechtlichtes, rassisiertes und klassisiertes) ‚Anderes‘ der Vernunft ebenso zu problematisieren wie eine „affektive Anerkennungspolitik“, die als moralischer Absicherungsmechanismus privilegierter Personen unter dem Deckmantel von Empathie letztlich in einem individualisierenden Modus verhaftet bleibt.

Der Blick in die Werkzeugkiste feministischer Auseinandersetzungen um Solidarität verweist auf die Widersprüche und Kämpfe, die die Theoretisierung und Bildung von Bündnissen begleiten. Zugleich zeigt er, dass es gerade der Streit um Solidaritäten verknüpft mit einem politisch-emanzipatorischen Commitment ist, der solidarisches politisches Handeln ermöglicht und das Fundament für die Überwindung von (nicht nur geschlechtlich) fundierten Macht- und Herrschaftsverhältnissen legen kann.

 

Brigitte Bargetz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (post doc) im Bereich Politische Theorie, Ideengeschichte und Kulturforschung am Institut für Sozialwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet u.a. zu einer Theoretisierung affektiver Politiken zwischen Angst, Solidarität und Sentimentalität.

Alexandra Scheele ist akademische Oberrätin im Arbeitsbereich Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind der Wandel von Arbeit, Organisation und Geschlecht, Krisen- und Konfliktdynamiken und (globale) Geschlechterungleichheiten.

Silke Schneider ist Wissenschaftliche Online-Tutorin an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität in Hagen und lehrt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Autoritarismus, historische Grundlagen der Politik, Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik.

Die Autorinnen geben das Schwerpunktheft „Umkämpfte Solidaritäten“ der Femina Politica (2/2019, erscheint Ende November) heraus.

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