Bewegende Solidarität – Gedanken zur Solidarität im Kontext Sozialer Bewegungen

— Nach den Überlegungen von Lukasz Dziedzic zu Solidarität in der EU eröffnet Marieluise Mühe heute in unserer Soldaritäts-Debatte eine andere Perspektive auf Solidarität – die der Sozialen Bewegungen. —

Als Demo-Slogan und als (Gegen-)Narrativ – z.B. zum Rechtspopulismus und im Kontext der Debatte um Klimagerechtigkeit –  erlebt der Aufruf zur Solidarität heutzutage eine starke Konjunktur.  So tragen aktuelle Bündnisse und öffentliche Appelle Namen bzw. Überschriften wie ‚Solidarität statt Ausgrenzung‘, ‚Solidarität statt Heimat‘, ‚Solidarität unter Minderheiten‘.  Solidarität wird normativ als Haltung in eine spannungsreiche und fragmentierte Gesellschaft hineingetragen, die gemeinsames Handeln gegen einen politischen Kontrapunkt dringlich als Konsequenz fordert. In meinem Beitrag möchte ich eingangs einige (wenige) grundlegende Konzeptionalisierungen von Solidarität aufgreifen und mich anschließend vor allem auf die Verschränkung von Solidarität und Sozialen Bewegungen innerhalb der Protest- und Bewegungsforschung beziehen.

Solidarität sollte eigentlich ausnahmslos im Plural verwendet werden.  Anders kommt die begriffliche Vielfalt, die sich in mannigfaltigen Bestimmungen, Systematisierungen, Anrufungen und Anwendungspraxen in der wissenschaftlichen Literatur und in der politischen Debatte zeigt (siehe zur inflationären Nutzung Marie Wachinger und Stefan Wallaschek hier auf dem Theorieblog), schwer zum Ausdruck. Allerdings würde die Rede von Solidaritäten vermutlich mehr Verwirrung stiften und Erklärungsbedarf einfordern als Klarheit schaffen. Zugleich würde der Aufruf zu Solidaritäten im Rahmen von Mobilisierungen eher zu Ungunsten rhetorischer Schlagkraft sowie eines gemeinsamen Verständigungshorizonts ausfallen, sondern die eindeutige Aufforderung zum Einstehen füreinander abmildern. Um die verschiedenen Formationen und Bestandteile des Solidaritätsbegriffs kenntlich zu machen und Konturen des eigenen Verständnisses zu schärfen, werden von vielen Autor_innen alternativ Labels zur Determination und Kategorisierung vergeben: Solidarität kann alt/neu, sozial/politisch, postnational/international/lokal, kosmopolitisch/kommunitaristisch, institutionell/zivil, inkludierend/exkludierend, fluide usw. verfasst oder gelagert sein.

Lesarten der Solidarität

Zentralen Stellenwert in der Theoretisierung von Solidarität nehmen die Fragen nach deren Grundlage(n) und Reichweite ein. In der universalistischen Lesart von Hauke Brunkhorst steht Solidarität für Verbundenheit und Zusammenhalt trotz oder wegen Differenzen auf der Basis gemeinsamer Werte, geteilter Interessen und Ziele. Partikularistischer und eingegrenzter argumentiert Kurt Bayertz, wenn er den Kern der Solidarität in einem „[…] wechselseitigen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen [11]“, die über eine normative Ebene verbunden sind,  verortet.  Für das Gelingen des Zusammenhangs muss das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe einige Konditionen erfüllen:  kollektive Identität,  emotionale Bezüge und reziproke Unterstützung innerhalb der Gruppe, Legitimität der Gruppe und ihrer Ziele. Beide Sichtweisen finden sich kombiniert in der Protest- und Bewegungsforschung:  Einerseits wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die wechselseitigen Beziehungen der Gruppenmitglieder als interne Solidarität gefasst, welche vor allem für die Verstetigung von kollektiven Bewegungsakteuren sorgt. Andererseits impliziert die Identifikation mit einer ganzen Bewegung, dass man sich darüber hinaus mit anderen Gruppen und Individuen verbunden fühlt, ohne im direkten Austausch zu stehen oder sich persönlich zu kennen. Diese externe Solidarität fußt auf den von Brunkhorst genannten Annahmen über das Gemeinsame.

Solidarität und Soziale Bewegungen

Die Diskussion darüber, ob Solidarität etwa im Handeln oder in politischen Einstellungen auf Grundlage von Differenzen oder Gemeinsamkeiten hergestellt werden kann, durchzieht die Solidaritätsforschung. Die Bewegungsliteratur antwortet insofern darauf, dass Solidarität in Protesten und Bewegungen an eine zentrale Bedingung geknüpft wird:  das Verständnis, einen gemeinsamen Kampf gegen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse zu führen – was gemeinhin unter politischer Solidarität subsumiert wird. Hierfür muss eine gewisse Schnittmenge hinsichtlich der Erfahrungswelten, Weltanschauungen und Interessen vorliegen. Hanna Meißner verschiebt diese Perspektive leicht, indem sie Ähnlichkeiten und gemeinsame Ziele für die Konstitution von Solidarität dezentriert und stattdessen die Erkenntnis geteilter Beschränkungen und Bedingungen innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse als Ausgangspunkt für Solidarität markiert. Letztendlich bedarf die Frage nach den Voraussetzungen für Solidarität weiterer Erörterung und Erforschung und vielleicht muss sie kontextabhängig gestellt sowie beantwortet werden.

Unbestreitbar scheint hingegen, dass Solidarität eine Voraussetzung für soziale Bewegungen bildet.  In  der Einleitung des Sammelbandes „Solidarität – Begriff und Problem“ weist Kurt Bayertz eine Typologie mit vier solidarischen Grundformen aus. Seine Variante der Solidarität als Kampfbegriff korrespondiert stark mit einer Bewegungsperspektive, denn sie ist dadurch gekennzeichnet, dass neben der kollektiven Verfolgung von Interessen ein negativer Bezugspunkt über die Ausrichtung auf einen Antagonisten geschaffen wird.  Diese Spielart der Solidarität eignet sich meiner Einschätzung nach zur Charakterisierung linker Bewegungen, die Solidarität  als emanzipatorischen Begriff dreifach – sowohl als Abgrenzungsrhetorik zur Regression, als Synonym für Utopie als auch als Mittel zur Annäherung an das utopischen Ziels  –  adressieren.   Weitere Überschneidungen zu einem bewegungsorientierten Begriffsverständnis liefern ebenfalls Auseinandersetzungen mit Solidarität im Kontext von Migration und rassifizierten Minderheiten. Mit dem Terminus der black solidarity pointiert zum Beispiel Tommie Shelby  seine Auffassung von Solidarität als  Strategie, die schwarze Kollektivität unter Rückgriff auf Erfahrungen der Unterdrückung herstellt und mit dem Eintreten für racial justice und sozialen Wandel assoziiert.

Möglicherweise liegt eine Stärke der Solidarität in ihrer fehlenden oder kontroversen inhaltlichen Bestimmung, ihrem anpassungsfähigen Dasein als Deutungsfolie, welches Raum eröffnet für verschiedene Definitionen oder allenfalls Intentionen. Oder wie Agustín und Jørgensen formulieren:  „The strength of solidarity is, as we believe, its capacity to develop a diversity of responses which appeal to different degrees of commitment and action to foster social and political change [42]. Besonders eindrücklich äußert sich diese Stärke vor allem auf der Straße – bei Großdemonstrationen (#unteilbar) und dem damit einhergehenden Entstehen von Bündnissen. Unter Bezugnahme auf Solidarität sammeln sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure, um ihre Verbundenheit zu demonstrieren, sich gegenseitig zu bestärken und sich allen voran dem erfolgreichen Rechtspopulismus entgegenzustellen. Die Wahrnehmung, sich von einem_r gemeinsamen Gegner_in bedroht zu fühlen, wirkt einerseits polarisierend und andererseits mobilisierend bzw. solidarisierend, indem sich heterogene Gruppen häufig erstmals zusammenschließen. Anlassbezogen wird Solidarität über das Ausloten von Schnittmengen ausgehandelt und in politische Praxis transferiert sowie erfahrbar gemacht. Koalitionen vermitteln die Diversität der in ihr vertretenen Gruppen und greifen gleichzeitig über den politischen Kampf verbundene Ähnlichkeiten und grobe Ziele – wie die offene Gesellschaft – auf. Jedoch verbleibt die Solidarität der Bündnispolitik und Kampagnen instrumentell, zeitlich befristet und muss fortwährend neu geschaffen werden.  Aufgrund der Vielzahl an Positionierungen, Lebenssituationen und Forderungen, liegen gemeinsame Zielstellungen abseits des Widerstandes gegen die Regression nicht auf der Hand. Inwieweit diese Allianzen zu einer Bewegung anwachsen kann, die Solidarität auch in utopischer Weise oder im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation aufgreift, bleibt abzuwarten. Womöglich ist die Forderung nach Solidarität wegen ihrer Vieldeutigkeit schwer zu konkretisieren – sie ist Kitt, kaum Programmatik. Allerdings scheint sie, relationalen Protest zu fördern und in der Allgegenwart der Krise Hoffnung zu verkörpern.

Marieluise Mühe promoviert an der Universität zu Köln über Gegenmobilisierungen zum Rechtspopulismus in vergleichender Perspektive und ist wissenschaftliche Tutorin am Lehrstuhl für Internationale Politik der FernUniversität Hagen.

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