Wiedergelesen: Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1929)

Aktuell erlebt rechtes Gedankengut, das sich unter Bezugnahme auf Carl Schmitt oder auch Rudolf Smend im intellektuellen Gewand kleidet, eine Renaissance. Um den normativen Gehalt der Moderne zu verteidigen, lohnt es sich, Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (2. Auflage, 1929), wiederzulesen. Er erinnert uns in einer Zeit, in der die Gesellschaft zunehmend in einander antagonistisch gegenüberstehende Gruppen gespalten ist, den Kompromiss als Wesen der Demokratie zu begreifen. Zudem bietet sein offener Volksbegriff den Gegensatz zur politischen Einheit einer homogenen Gesellschaft und kann als argumentatives Rüstzeug in der Debatte um Ein- und Ausgrenzung dienen.

Schmitt und Smend: Anti-Pluralismus und Homogenität

Carl Schmitt konzipiert den dezisionistischen Staat über Recht und Verfassung als Ausdruck der souveränen Einheit des homogenen Volkes, leitet daraus die Idee der Demokratie als Gemeinschaft kollektiver Identität ab und postuliert ein einheitliches, antipluralistisches Kollektivinteresse jenseits aller Gegensätze. Dieses Gemeinwohl a priori, der Wille des Volkes, kann laut Schmitt (1996: 22) auch durch acclamatio, „durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein […] noch besser demokratisch geäußert werden […]“. Diesen Anti-Liberalismus hat Rudolf Smend (1923: 68f.) um den Begriff der Integration erweitert, der politische Einheit als dynamischen Prozess versteht. Anti-individualistisch formuliert er unter Rückgriff auf Schmitt, dass die Demokratie zu ihrer Durchsetzung der Diktatur bedürfen kann (1928: 221), denn diese kann die Homogenität der Gemeinschaft am besten integrieren. Allerdings gelang es der „Smend-Schule“ sich nach 1945 in Abgrenzung zu den „Schmittianern“ von ihrem antiliberalen Traditionsbestand zu lösen und das neue Verständnis von pluralistischer Demokratie aktiv in den Fachdebatten zu forcieren. Doch das damalige Demokratieverständnis einer Homogenität der zur politischen Einheit „integrierten“ Gemeinschaft konnte Kelsen nur ablehnen.

Kelsens Majoritätsprinzip und Opposition

Im Gegensatz dazu gewinnt Kelsen sein Verständnis des Bürgers aus der Freiheit und nicht wie Schmitt aus substantieller Gleichheit. Aus dem unerträglichen Faktum der Herrschaft des einen Gleichen über den anderen Gleichen wird in der Demokratie der Gedanke, dass möglichst viele Menschen frei, also möglichst wenige Menschen im Widerspruch zur allgemeinen sozialen Ordnung leben sollen. Dabei ermöglicht das Majoritätsprinzip die größtmögliche Annäherung an das Ideal der Freiheit, bei gleichzeitiger Gleichheit der Individuen. Und es bedeutet nicht absolute Mehrheitsherrschaft: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, dass sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“ (101) Die Minorität ist permanent am politischen Prozess beteiligt und verhindert so, dass Entscheidungen in einen absoluten Gegensatz zu ihren Interessen gelangen. Der Schutz dieser Minderheit ist die Voraussetzung für Opposition.

Kelsens Verfahrensdemokratie: Pluralismus und Relativismus

Um dauerhaft einen demokratischen Staat zu machen, bedarf es eines demokratischen Ethos’, das Kelsen im Kompromiss erkennt. „Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet.“ (101) Die Demokratie löst das Problem des Pluralismus, indem sie ihren Inhalt erst über demokratische Verfahren bestimmt. Es werden diejenigen Interessen geschützt, die von der Mehrheit der Normunterworfenen als solche anerkannt werden. Majoritätsprinzip und Relativismus berühren sich: Denn wer absolute Wahrheit der menschlichen Erkenntnis für verschlossen hält, der muss auch die andere Meinung zumindest für möglich halten und kann daher den in der Demokratie unvermeidlichen Zwang nur dadurch rechtfertigen, dass zumindest die Mehrheit zustimmt. Das Ergebnis der Willensbildung des dialektisch-kontradiktorischen Verfahrens der Diskussion im Parlament ist stets ein reversibler Kompromiss – einerseits zwischen den Mitgliedern der Mehrheit selbst und andererseits zwischen der Majorität und der Minorität, als letztere die Mehrheit allein durch ihre bloße Existenz im Parlament permanent beeinflusst. Aus der wertrelativistischen Grundlage und dem permanenten Wettbewerb der Interessen um Mehrheiten ergibt sich für die Minderheit die prinzipielle Möglichkeit, vielleicht schon morgen die Mehrheit für sich zu gewinnen. Die inhaltsleere Methode macht es also möglich, die mannigfaltigen Interessen in der Gesellschaft einem Ausgleich zu überführen. Dieses Sich-Vertragen auf der Basis der reversiblen und temporären Unterlegenheit macht die Demokratie zur Methode zur Sicherung des sozialen Friedens. Aus dem sozialen Faktum des Pluralismus ergibt sich schließlich ebenso, dass die „Einheit des Volkes“ nur in der „Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung“ (15) bestehen kann. Analog dazu entlarvt Kelsens pluralistische Staatstheorie die Überhöhung des (dezisionistischen) Staates über das Recht bei Schmitt und Smend als Herrschaftsreservat, das der demokratischen Verfügungsgewalt entzogen ist. Der politischen Einheit und der Dezision stehen somit Pluralismus, ein daraus resultierendes rechtliches Volksverständnis und reversibler Kompromiss als Verfahrensergebnis gegenüber.

Kelsen live:  Ausländerwahlrecht und Brexit

Die in den letzten Jahren verstärkt diskutierte Integrationsfrage kann mit Kelsens Volksbegriff neu beleuchtet werden. So wird das fehlende Ausländerwahlrecht als schlichte Diskriminierung enthüllt. Denn wer dauerhaft der Rechtsordnung unterworfen ist, hat qua Kelsens Volksbegriff den politischen Status „Bürger“. Vor der conditio sine qua non einer pluralistischen Demokratie, dem gleichen Wahlrecht für alle, ist ein Ausländerwahlrecht dann zwingend geboten. Die Tendenz in der aktuellen politischen Debatte bespielt aber die historischen Kontrahenten Kelsens: Denn der Integrationsbegriff im Sinne Rudolf Smends setzt eine politische Einheit voraus, in die integriert werden muss. Der „Fremde“ muss in die „deutsche“ Einheit integriert werden, bevor er das Wahlrecht erhält. Der anti-pluralistische und anti-parlamentarische Staats- und Volksbegriff korrespondiert mit Schmitts „Status politischer Einheit“. Dem steht Kelsens rechtlich-pluralistisches Volks- und Staatskonzept gegenüber, das Vielheit und Differenz zulassen kann. Hier könnten auch andere Rechtsbereiche, die nach dem Grundgesetz nur „dem Deutschen“ zustehen, mitgedacht werden. Denn beispielsweise das so wichtige Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ermöglicht es nur einigen, nicht aber allen Bürgern (im Sinne Kelsens), Druck auf die Politik auszuüben, also Gesetze zu beeinflussen und damit ein Mehr an politischer Freiheit zu genießen.

Auch im Lichte der grassierenden politischen Überlegenheitsdogmen scheint Kelsens Kompromiss-Lektion an Aktualität nichts eingebüßt zu haben. Denn mancher Wahlsieger sieht sich als absoluter Gewinner. Die Demütigung des Wahlverlierers legt jedoch Zeugnis von einer fundamentalen Demokratiefeindlichkeit ab. Denn der in der Demokratie Unterlegene ist zumeist nur temporär unterlegen. Verständigung mit dieser Minorität muss permanent möglich sein. Anhand des Brexits zeigt sich, welche Probleme sich diesbezüglich aus basisdemokratischen Referenden ergeben können. Denn in der direkten Demokratie genießt die Mehrheit aufgrund der Unmittelbarkeit der Entscheidungen besondere Macht. Dieser Machtgenuss ist der Verständigung mit der Minderheit nicht förderlich. Zwar gilt: Je stärker die Minorität, „[…] desto mehr wird die Politik der Demokratie eine Politik des Kompromisses“ (102). Doch dieser Mechanismus ist bei irreversiblen Entscheidungen wie dem Brexit-Referendum außer Kraft gesetzt. Der in der Gesellschaft lange Zeit schwelende und erst jetzt offen ausgetragene Europakonflikt zwischen einer minimalen Majorität und einer maximalen Minorität lähmt nun ganz Großbritannien.

Was bleibt? Der Kompromiss als Wesen der Demokratie

Mit Kelsen kann Demokratie nicht über Homogenität und Identität, sondern über Heterogenität und Differenz begriffen werden. Denn demokratische Kompromisse sind unter Fremden denkbar, unter Feinden nicht. Der Andere ist nicht wesensfremd, er ist nicht der Feind. Wenige Jahre bevor Carl Schmitt das antagonistische Freund/Feind-Schema prägt, hat Kelsen das Sich-Gegenseitig-Vertragen in den Mittelpunkt gestellt: „Kompromiss bedeutet: Zurückstellen dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet.“ (57) Eine hochaktuelle Lektion, denn in der aufgeheizten Debatte um die Demokratie und ihre Institutionen lehrt uns Kelsen die relative Gültigkeit eigener Überzeugungen anzuerkennen und trotzdem unerschütterlich für sie einzustehen. Der Entschlossenheit den eigenen Idealen zu folgen, stehen Duldsamkeit und Toleranz gegenüber anderen Ansichten gegenüber. Denn aus Differenz und Dissens heraus wird überhaupt erst der Wert des Pluralismus deutlich – und mit ihm der Kompromiss als Wesen der Demokratie.

Stefan Matern ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er promoviert über Edward Bernays und Propaganda im 21. Jahrhundert.

Ein Kommentar zu “Wiedergelesen: Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1929)

  1. Sehr geehrter Herr Matern,

    Sie promovieren über Bernays und Propaganda im 21. Jahrhundert.

    Auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen: Sie kennen Rainer Mausfeld und seinen immensen Beitrag zu Ihrem Thema, seit 2015 in Vorträgen, seit 2018 in seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“. Darin und in den Vorträgen bezieht sich Mausfeld auf viele Forschung, insbesondere aus den USA, die hier offenbar gar nicht rezipiert wurde.

    Mit freundlichen Grüßen

    Deppe

    PS. Wenn Sie Prof. Mausfeld für einen erneuten Vortrag in München, diesmal an der Universität, gewinnen können, so sagen Sie mir bitte Bescheid!

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