Solidarität ent-emotionalisieren! Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung des französischen Solidarismus

‚Solidarität‘ – das ist eines unserer großen Sehnsuchtswörter. Insbesondere in links und kosmopolitisch orientierten Milieus genießt es höchste Wertschätzung. Die emotional aufgeladene Anrufung der Solidarität – gerade mit Fremden und Anderen – fungiert hier nicht selten als Ausweis hoher moralischer Sensibilität und ‚richtiger‘ Gesinnung. Aber auch in rechtsnationalen Kreisen lebt eine heimatliche Sehnsucht nach emotionaler Solidarität mit dem eigenen Volk, die sich mitunter in eruptiven Ausbrüchen gegen ‚artfremde‘ Kulturen und Bevölkerungen artikuliert. Und auch in bürgerlich-liberalen Schichten dominiert eine emotionale Wahrnehmung von Solidarität, die hier oft als ein zartes Pflänzlein mitmenschlicher Hilfsbereitschaft erscheint, das durch überbordende sozialpolitische Umverteilung oder ‚undankbares‘ Verhalten der Leistungsempfänger nicht ausgetrocknet werden dürfe.

Was mit dem Begriff der Solidarität aber genau beschrieben werden soll, ist oft unklar. Wenn sich etwa Angehörige gut situierter Mittelschichten emphatisch mit den Leidenden dieser Welt ‚solidarisieren‘, wenn sie sich auf diese Weise mit Katastrophenopfern irgendwie ‚gemein‘ machen wollen, dann könnte sich dahinter eine egozentrische Vereinnahmungsstrategie verbergen, die vor allem vom eigenen Bedürfnis nach emotionalem Wohlbefinden, nach einem ‚guten Gewissen‘ bestimmt wird. Wer sicher im Trockenen sitzt und sich ‚solidarisch‘ mit Geflüchteten im Mittelmeer erklärt, teilt mit ihnen keine gemeinsame Gefahrenlage; und wer im deutschen Mittelgebirge wohnt und ‚solidarisch‘ Geld für die Opfer von Tsunamis in Südostasien spendet, rechnet nicht ernsthaft damit, selbst einmal von Überschwemmungen betroffen zu sein und Hilfe aus Myanmar oder Sumatra zu benötigen. Eines der entscheidenden Leitmotive der Solidarität, wie es im 19. und 20. Jahrhundert insbesondere in der Arbeiterbewegung artikuliert wurde: das egalitäre Zusammenstehen gegen gemeinsame Bedrohungen, wird hier entschieden dementiert – und man möchte gerne wissen, wie sich die Empfänger solcher Solidarität eigentlich fühlen. Dazu gibt es empirisch kaum valide Forschungen. Man wird aber vermuten dürfen, dass hier allemal ambivalente Empfindungslagen anzutreffen sind, in denen diese Solidaritätsbezeugungen nicht nur als hilfreich, sondern womöglich auch als belastend, als paternalistisch und entmündigend empfunden werden. Wie auch immer: Wir reden wohl zu emotional von der Solidarität.

Es ist an der Zeit, der grassierenden Emotionalisierung der Solidarität energisch entgegenzutreten. Schließlich hat sie in der europäischen Moderne gerade nicht als ‚heißer‘ Tugend- und Moralbegriff, sondern als ‚kalte‘ Kategorie der Sozialwissenschaften reüssiert. Denn mit diesem Topos brachte die seit den 1830er-Jahren entstehende französische Soziologie, die soziale Gemeinschaften nach dem Vorbild organischer Lebewesen zu beschreiben versuchte, den faktisch bestehenden und vom Willen und Bewusstsein der Individuen unabhängigen sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften, die solidarité sociale, auf den deskriptiven Begriff. Und dieses strikt analytische Verständnis sollte man stark machen, wenn man verhindern will, dass die Solidarität einzig auf dem Feld der Tugend- und Moralkonzepte auftreten darf und hier mit den älteren Begriffen des Mitleids, der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit konkurrieren muss. Denn dies könnte nur auf eine weitere Entwertung dieser heute eh schon als verstaubt geltenden Motive hinauslaufen. Aber wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der nicht mehr öffentlich und philosophisch reflektiert von Mitleid und Barmherzigkeit die Rede ist?

Der Begriff der Solidarität avancierte in der neuen ‚Wissenschaft von der Gesellschaft‘– vor allem bei Comte und Durkheim – zur zentralen Beschreibungskategorie einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die sich nicht über vertragliche Vereinbarungen aufgeklärter Individuen, sondern über systemische Differenzierungsprozesse von Arbeitsteilung und beruflicher Spezialisierung integriert. Demnach entsteht hier eine solidarité organique, die dazu führt, dass die Gesellschaftsmitglieder – so die berühmte These Durkheims – „zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer“ werden. Sie werden in diesem Rahmen immer unterschiedlicher und individueller, zugleich aber auch immer abhängiger voneinander; sodass sich komplexe Gesellschaften dadurch kennzeichnen, dass sie in einem gleichgerichteten Prozess Solidarität und wechselseitige Abhängigkeit ebenso wie freie Entfaltungsmöglichkeiten und persönliche Selbstbestimmungschancen hervorbringen. Und damit wird die alte Grundüberzeugung des liberalen Denkens, dass sich Freiheit und Abhängigkeit frontal gegenüberstehen und die eine nur auf Kosten der anderen wachsen könne, gesellschaftstheoretisch gegenstandslos.

An diese Einsichten knüpfte die seit den 1880er-Jahren entstehende linksrepublikanische Reformbewegung des französischen solidarisme an, die auf dieser Grundlage wichtige Impulse zu einer modernen Theorie des Rechts- und Wohlfahrtsstaates lieferte. Der republikanische Solidarismus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist in Deutschland jedoch kaum rezipiert worden. Dabei hätte ein solidaristischer Autor wie der Sozialphilosoph Alfred Fouillée (1838-1912), der schon 1880 die These vom ‚gleichzeitigen Wachstum des sozialen und des individuellen Lebens‘ aufgestellt hatte und sich um eine moraltheoretische Vermittlung der école idéaliste mit der école naturaliste, der moral kantienne mit der moral du darwinisme bemühte, zu den heutigen Debatten um die Grundlagen einer nachmetaphysischen Moral noch einiges beizutragen. Der solidaristische Nationalökonom Charles Gide (1847-1932) hätte mit seiner Kritik an der liberalen Schule der Ökonomie und mit seinen Überlegungen zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der faktisch gegebenen solidarité imposée par la nature, dieser solidarité fatale, und der moralisch gewollten solidarité libre et volontaire auch heute noch viel zu sagen – wenn er etwa im Blick auf die damalige Entdeckung mikrobiologischer Krankheitserreger betont: „Jeder weiß nun, daß seine Gesundheit und sein Leben in hohem Maße nicht allein von der Gesundheit seiner Nachbarn und Mitbürger abhängt, sondern sogar von dieser oder jener ihrer unbedachten Handlungen, wie etwa das Ausspeien auf die Erde und das dadurch verursachte Ausstreuen von Tuberkulosebazillen. Bedeutet nicht die kürzlich (10. Juli 1893) erlassene Verordnung der Pariser Polizeipräfektur, die ‚das Ausspeilen in den Straßenbahnwagen und im Omnibus‘ untersagt, ein merkwürdiges Auftreten der Solidarität im Gesetz?“ Und nicht zuletzt sind hier die Theoriebeiträge des Juristen und Politikers Léon Bourgeois (1851-1925) zu nennen. So hat Bourgeois, der sich u.a. um eine kontraktualistische Grundlegung des Wohlfahrtsstaates bemühte, etwa vorgeschlagen, die Revolutionsmaxime ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ durch die solidaristische Devise‘ ‚Solidarität, Gleichheit, Freiheit‘ zu ersetzen, die einzig einer komplexen Industriegesellschaft angemessen sei. Denn hier hänge alles mit allem zusammen, und niemand könne unabhängig von den sozialen Solidaritäten seiner Zeit arm oder reich, erfolgreich oder erfolglos werden. Deshalb habe jeder je nach seiner sozialen Lage der Gesellschaft gegenüber verbindliche Rückerstattungspflichten bzw. Unterstützungsrechte, die ein republikanischer Rechts- und Wohlfahrtsstaat angemessen umsetzen müsse.

Der Solidarismus der Dritten Republik ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Er findet sich heute nicht einmal in den Standardwerken zur politischen Ideengeschichte der europäischen Moderne; und in den aktuellen Debatten zu einer tragfähigen politischen Theorie des Wohlfahrtsstaates und der sozialen Gerechtigkeit spielt er keine Rolle. Es ist aber an der Zeit, der solidaristischen Vernunft, die die aufklärungsphilosophischen Freiheits- und Gleichheitsambitionen des 18. Jahrhunderts mit den solidaritätssoziologischen Einsichten der Soziologie des 19. Jahrhunderts in Einklang zu bringen versuchte, endlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Hermann-Josef Große Kracht ist Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt.

 

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