Die Geschichte der Begriffsgeschichte: Zwischen Historisierung und Begriffspolitik

2016 haben Falko Schmieder und Ernst Müller ein umfassendes kritisches Kompendium zum Thema Begriffsgeschichte und Historische Semantik im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Für das Journal of the History of Ideas hat Jonas Knatz ausführlich mit einem der beiden Herausgeber gesprochen. Mit freundlicher Genehmigung des Journals veröffentlicht der Theorieblog heute eine deutschsprachige Kurzversion des umfangreichen Interviews:

Jonas Knatz (JK): Falko Schmieder, der Titel Ihres Buches lautet „Begriffsgeschichte und Historische Semantik“. Was ist die Beziehung zwischen Begriffsgeschichte und Historischer Semantik, was war die Motivation von Ihnen und Ernst Müller, ein Kompendium der Begriffsgeschichte zu erstellen und, wie Sie beide im Vorwort schreiben, die Methodologie der Begriffsgeschichte auf diese selbst anzuwenden?

Falko Schmieder (FS): Wenn im Titel Begriffsgeschichte und Historische Semantik als Gegenstände des Buches bezeichnet werden, dann auch deswegen, weil die Abgrenzung beider Gebiete keineswegs klar ist. Die Bezeichnung „Historische Semantik“ war für die an das Historische Wörterbuch der Philosophie anknüpfenden Projekte lange nicht üblich. Indes wurde in jüngerer Zeit auch für die philosophische Begriffsgeschichte der Name „Historische Semantik“ reklamiert. Dagegen werden in den Geschichtswissenschaften und auch in der Kulturwissenschaft Begriffsgeschichte und Historische Semantik wechselseitig pars pro toto verstanden. „Begriffsgeschichte“ fungiert so mitunter als Sammelbegriff, der auch die Historische Semantik unter sich fasst, und umgekehrt wird häufig die Begriffsgeschichte als ein Spezialgebiet der ,Historischen Semantikʻ verstanden.

Anstatt nun andere Oberbegriffe zu etablieren (wie den – selbst keineswegs neutralen – Begriff „Ideengeschichte“) haben wir in unserem Buch heuristisch „Historische Semantik“ als Oberbegriff für methodische Ansätze verstanden, die sich wie die Problem-, Ideen- oder Begriffsgeschichte im weitesten Sinne mit diachronen Bedeutungsveränderungen beschäftigen. Die Begriffsgeschichte ist damit nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Historische Semantik betrieben werden kann, und sie hat sich mit den benachbarten Methoden stets auch immer wieder selbst verändert.

Die Begriffsgeschichte kann also nicht als zeitlose oder sich einem Ideal annähernde technische Methode angesehen werden, die sich unabhängig von ihren historischen Voraussetzungen und jeweiligen Zwecksetzungen beschreiben lässt. Im Gegenteil: Unser Buch geht davon aus, dass die Begriffsgeschichte einen – bislang noch gar nicht ausgeloteten – historischen Index hat. Diese Historizität wollten wir freilegen. Und weil die Begriffsgeschichte immer mit anderen Methoden der Historischen Semantik verflochten war – etwa mit der Problem-, Ideen-, Mentalitäts- und Diskursgeschichte, Metaphorologie, Topos- und Modellforschung, der Denkformenlehre, oder in jüngerer Zeit mit der Bild- und Mediengeschichte – mussten wir in unserem Buch ein weites Feld abschreiten.

JK: 2006 schrieb Hans Ulrich Gumbrecht, dass die großen begriffsgeschichtlichen Projekte nun „monumentale(n) Zeugnisse aus einer abgeschlossenen Epoche der Geisteswissenschaften“ seien und verkündete damit das Ende der Begriffsgeschichte. Ist sein Urteil zutreffend?

FS: Hans Ulrich Gumbrecht gehört zu den ganz wenigen (ich glaube es sind insgesamt nur drei) Autoren, die zu den drei großen begriffsgeschichtlichen Wörterbüchern (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Geschichtlichen Grundbegriffe und Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820) Artikel beigesteuert haben. Später hat er dann seine eigene Abkehr von der Begriffsgeschichte mit ihrem allgemeinen Ende verwechselt. Von Letzterem kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil sind gerade nach dem Abschluss der großen Wörterbuchprojekte die Debatten über die Begriffsgeschichte wieder verstärkt in Gang gekommen, wofür es vielerlei Gründe gibt. Genannt seien etwa die Entstehung neuer Forschungsfragen im Zeichen der Internationalisierung der Forschung, der Globalisierung der Geschichte und die Entstehung neuer Schlüsselbegriffe, die neuen digitalen Forschungsmöglichkeiten etc.

JK: Ähnlich wie Reinhart Koselleck, identifiziert Ihr Kompendium die Anfangsmomente einer Historisierung sprachlicher Äußerung in der sogenannten Sattelzeit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, d.h. in der geschichtlichen Periode der Aufklärung. Bezugnehmend auf Ernst Cassirer schreiben Sie, dass diese ersten aufklärerischen Beschäftigungen mit historischer Semantik sofort auf eine Begriffspolitik trafen, die gerade die Enthistorisierung bestimmter Begriffe anstrebte. Was motivierte die historische Beschäftigung mit Begriffen und welche Rolle spielte die Spannung zwischen Begriffshistorisierung und Begriffspolitik?

FS: Die Aufklärung bildet tatsächlich eine Schwellensituation, da sich hier ein verstärktes Interesse am Verhältnis von Zeichen, Wort, Bedeutung und Sache konstatieren lässt, das zugleich immer auch ein politisches war. Vor allem im französischen Aufklärungszeitalter gehört zur Sprachpolitik die politisch motivierte Kritik des Wortmissbrauchs („abus de mots“) und des Widerspruchs zwischen „mots“ (Wörter) und „choses“ (Sachen), der sich aus der immer rascheren Veränderung der sozialen Verhältnisse ergab. Es ist kein Zufall, dass sich in dieser Zeit die Produktion von Wörterbüchern häufte, in denen die historischen Dimensionen sukzessive an Bedeutung gewannen. Signifikant ist etwa der von Denis Diderot, dem Mitherausgeber der berühmten Encyclopédie, verfasste Artikel „Encyclopédie“, der das Unternehmen selbstkritisch reflektiert und seine historischen Schranken bezeichnet. Diderots Diagnose einer durch die Entwicklung von Künsten, Techniken und Arbeitsmethoden beschleunigten Sprachentwicklung richtete sich auch gegen den konservativen Charakter der Wörterbücher der französischen Akademie. Die Kritik an einem nicht mehr zeitgemäßen Sprachgebrauch hatte immer auch die politische Dimension der Delegitimierung einer Herrschaft, die sich als gottgegeben, natürlich oder ewig ansah. Der Zuwendung zur Geschichte der Begriffe konnte aber auch ein entgegengesetztes begriffspolitisches Interesse zugrunde liegen; sie konnte zum Instrumentarium der konservativen oder Gegenrevolution werden, die damit gerade die Tradition und Kontinuität betonen wollte.

JK: Der Untertitel des Buches ist „Kritisches Kompendium.“ In der Einleitung bestimmen Sie zwei Formen der kritischen Betrachtung der Begriffsgeschichte: die Historisierung derselben und die Diskussion ihrer (Nicht-)Beziehung zu anderen Disziplinen. In einem Aufsatz von 1978 schreibt Reinhart Koselleck, der vielleicht bekannteste Vertreter der Begriffsgeschichte, würdigend über die 1920er und 1930er Jahre, dass sich zu dieser Zeit die „begriffsgeschichtlichen Arbeiten und Methoden“ mehrten, „um präzisere Instrumente für die Erforschung der Vergangenheit zu gewinnen.“ Namentlich nennt er dann mit Erich Rothacker, Werner Jäger, Johannes Kühn, Carl Schmitt, Walter Schlesinger und Otto Brunner ausschließlich konservative und reaktionäre Wissenschaftler, von denen nur Jäger keine Nähe zum NS hatte. Welchen Stellenwert hatte die Begriffsgeschichte bei progressiven und liberalen Wissenschaftlern vor 1933 und welches Potential liegt im Aufbrechen von Kosellecks „Ahnengalerie?“

FS: Mit dem Stichwort der „Historisierung“ war zunächst allgemein gemeint, die Methoden der Begriffsgeschichte gleichsam auf sie selbst anzuwenden. Eine wichtige zweite Dimension von Historisierung zielte darauf, sowohl realisierte wie auch abgebrochene, in den heutigen Diskursen zur Begriffsgeschichte virulente oder aber vergessene Debatten und Projekte der Begriffsgeschichte und Historischen Semantik chronologisch und komparativ darzustellen. Auf dieser Ebene ergab sich eine Kritik an Kosellecks Genealogie der Begriffsgeschichte, die sehr einseitig ist und nicht nur internationale Ansätze (wie etwa die Annales-Schule) ignoriert, sondern auch diejenigen deutschsprachigen Alternativen, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgebrochen worden sind. Eine Geschichte der Begriffsgeschichte, die diese verdrängten oder vergessenen Ansätze wiedererinnert und neu aneignet, führt auch zu einem tieferen Verständnis der historischen Vielfalt und synchronen Rivalität verschiedener begriffsgeschichtlicher Ansätze und trägt auch zur Erhellung wichtiger theoretischer und begrifflicher Voraussetzungen der Koselleckschen Begriffsgeschichte bei.

JK: Gerade weil die Begriffsgeschichte ein Symbol für die Nicht-Bearbeitung des Nationalsozialismus und die personelle Kontinuität mit dem Nationalsozialismus verbundener Wissenschaftler in der Geisteswissenschaft der westdeutschen Nachkriegszeit ist, verwundert es, dass gerade die Begriffsgeschichte, wie Sie im Buch schreiben, „das Erfolgsprojekt“ dieser Phase wurde und „mit den Insignien Selbstreflexivität und Pluralität versehen, der demokratischen Moderne theoretisch Legitimation verschaffen konnte.“ Wie erklären Sie diesen Wandel?

FS: Die Erfolgsgeschichte der Begriffsgeschichte liegt zum Teil darin begründet, dass sie aufgrund ihrer Selbstreflexivität ein hervorragendes, vor allem auch kontrollierbares Mittel der Erfassung von Bedeutungen und ihrer Veränderungen ist. Gerade vor dem Hintergrund eines verstärkten Bedarfs an historischer Orientierung stellt sich die Begriffsgeschichte als ein wichtiges Forschungsinstrument heraus. Die deutsche, methodisch vor allem von Koselleck reflektierte und entwickelte Begriffsgeschichte ist aber auch deshalb international zu einem Erfolgsprojekt geworden, weil sie eng an eine Theorie der modernen Gesellschaft und an eine Theorie der historischen Zeit gekoppelt ist. Wichtige Theoreme und Leitbegriffe Kosellecks wie Verzeitlichung, Beschleunigung, Sattelzeit, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sind auch unabhängig von der Begriffsgeschichte rezipierbar und ermöglichen zugleich Anschlüsse verschiedener Forschungen an die Begriffsgeschichte. Und auch auf der Ebene der geschichtlichen Grundbegriffe selbst war es gerade das Überspringen der Zeit des Nationalsozialismus und der Anschluss an eine längerfristige Tradition der westlichen Moderne, die im internationalen Rahmen den Blick auf das gemeinsame historische Erbe lenkte und zu vergleichenden Studien anregte.

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JK: Was waren die strukturellen Ursachen für die Entwicklung der Begriffsgeschichte in Deutschland und welche Faktoren verhalfen ihr zu ihrem Erfolg? Kann man die Begriffsgeschichte als ein kritisches Alternativprojekt zur Ideengeschichte verstehen?

FS: Dass die Begriffsgeschichte in Deutschland zu einem prägenden Forschungsparadigma werden konnte, hat vielfältige Gründe. Zunächst muss man sehen, dass es bereits in der Weimarer Zeit verschiedene Ansätze begriffsgeschichtlicher Forschungen gab, die zum Teil auch in Form von Wörterbüchern realisiert werden sollten – das wohl wichtigste Beispiel hierfür sind Erich Rothackers Versuche der Begründung eines kulturwissenschaftlichen Wörterbuchs. Wenn Rothacker nach dem Krieg mit der Begründung des Archivs für Begriffsgeschichte eine erste Institutionalisierung der Begriffsgeschichte gelang, so konnte er an seine früheren Forschungen anknüpfen.

Der anhaltende Erfolg der Begriffsgeschichte seit Mitte der 1950er Jahre beruhte nicht zuletzt darauf, dass es ihren Protagonisten gelang, beständige institutionelle Formen zu etablieren sowie personelle und finanzielle Ressourcen zu binden. Für die Philosophie waren die institutionellen Hauptfiguren zunächst Erich Rothacker und Hans-Georg Gadamer, später erst Joachim Ritter und einige seiner Schüler sowie Hans Blumenberg. Zu den Institutionen gehörten vor allem die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (seit 1949) mit dem dort angebundenen Archiv für Begriffsgeschichte, die Senatskommission Begriffsgeschichte, aber natürlich auch Ritters Münsteraner Collegium philosophicum. Für die Geschichtswissenschaft mit dem Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe ist der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte zentral, ein symbolischer Ort ist neben Bielefeld sicher auch Carl Schmitts Plettenberg. Die philosophische und die historiographische Begriffsgeschichte weisen institutionell Schnittpunkte und damit Resonanzverstärker auf (Ebacher Kreis, Poetik und Hermeneutik und das Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung). – In der theoretisch-methodischen Begründung der Begriffsgeschichte spielte die Kritik an der Ideengeschichte keine prominente Rolle: Es gibt hier also eine deutliche Differenz sowohl zu Michel Foucaults Archäologie und Diskursanalyse wie auch zum Ansatz der Cambridge-School, vor allem zu Quentin Skinner, die ihre neuen Forschungsansätze beide mit programmatischen Kritiken der Ideengeschichte verbunden haben.

JK: Mit Karl Mannheim und Carl Schmitt, Wilhelm Bauer und Antonio Gramsci, Walter Benjamin und Martin Heidegger benennt das Buch politisch konträre Wissenschaftler, die jedoch zu einer ähnlichen Zeit ein Interesse an der Historizität von Begriffen entwickelten. Warum waren Denker aus so unterschiedlichen politischen Richtungen zeitgleich an Begriffen interessiert?

FS: Den gemeinsamen Bezugspunkt dieser politisch konträren Wissenschaftler bilden die Krisenerfahrungen seit dem Ersten Weltkrieg, in denen sich die Widersprüchlichkeit, Brüchigkeit und Fragilität der modernen Gesellschaft in aller Deutlichkeit zeigt. Hans Blumenberg hat im Hinblick auf die Terminologie der phänomenologischen Schule die Vermutung geäußert, dass die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die letzte gewesen sei, „für die die Annahme fester und Generationen überdauernder Bewußtseinsbestände noch zutreffend gewesen war“. Wie zwei kulturkritische Erfolgsbücher, nämlich Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918) und Karl Jaspers’ 1930 erschienenes Werk Die geistige Situation der Zeit exemplarisch zeigen, stand nach dem Krieg das Ganze europäischer Kultur (Technik, Religion, Kunst, Philosophie, Moral, Mathematik, Wirtschaft) einschließlich seiner Gewordenheit zur Disposition. Es ist daher kein Zufall, dass gerade in dieser Zeit die Begriffsgeschichte an Bedeutung gewinnt und sich allgemein ein Interesse an der Historizität der Sprache bekundet.

JK: Der kritische Impetus des Kompendiums scheint nicht nur darin zu liegen, die Begriffsgeschichte durch ihre historische Situierung in den Diskussionen der Weimarer Republik als politische Methodologie darzustellen. Die Form Ihres Kompendiums und die detaillierte Beschäftigung mit nicht kanonisierten Begriffsgeschichtlern wie Siegfried Kracauer oder Richard Koebner deuten vielmehr daraufhin, dass Sie versuchen, den Kanon der Begriffsgeschichte selbst zu destabilisieren und an abgebrochene Traditionen und vergessene Debatten zu erinnern. Welchen methodologischen Gewinn versprechen Sie sich von der Beschäftigung mit diesen „vergessenen“ Begriffsgeschichtlern?

FS: Tatsächlich ging es uns darum, die Kosellecksche Genealogie der Begriffsgeschichte aufzubrechen und ihr eine andere entgegenzustellen, in der die bei Koselleck unterschlagenen Ansätze verstärkte Berücksichtigung finden. Der Erkenntnisgewinn, der daraus erwächst, ist vielfältig. Zum einen wird sichtbar, dass etliche Kategorien, die wir heute mit Kosellecks Namen verbinden, durchaus heterogene Ursprünge haben und auf Theoriezusammenhänge und Fragestellungen verweisen, die bei Koselleck keine Rolle spielen oder nur sehr verkürzt aufgenommen worden sind. Ein Beispiel dafür wären eben die Symbol- und Schlagwortforschungen von Autoren wie Wilhelm Bauer oder Richard Koebner. Durch diese Aufarbeitung kommen zudem alternative Entwicklungswege in den Blick, von denen her auch die Begrenztheit von Kosellecks Begriffsgeschichte deutlicher wird. In dieser Perspektive wird dann auch sichtbar, dass vieles von dem, was als Neueinsatz oder Desiderat der jüngeren Historischen Semantik gesehen worden ist, historisch schon einmal bearbeitet wurde, dann aber in Vergessenheit geriet.

JK: Auch durch die institutionelle Verankerung in Bielefeld und die Mitarbeit Otto Brunners und Werner Conzes war die Begriffsgeschichte methodologisch eng verzahnt mit der Sozialgeschichte. Begriffe galten der sozialgeschichtlichen Begriffsgeschichte sowohl als Indikatoren gesellschaftlicher Metamorphosen wie auch als Faktoren in den gesellschaftlichen Prozessen selber. Aufgrund der Betonung der Wirkmächtigkeit und der partiellen Autonomie von Begriffen hatte Hans-Ulrich Wehler, stellvertretend für die Sozialgeschichte, der Begriffsgeschichte prophezeit, in „eine historische Sackgasse“ (S. 725) zu führen. Mit dem Aufkommen der neuen Kulturgeschichte und der zunehmenden Skepsis an den Ableitungen der Sozialgeschichte wandelte sich aber das Verhältnis der Sozialgeschichte zur Begriffsgeschichte und Jürgen Kocka bezeichnete die Begriffsgeschichte als sprachzentrierte Methode, die eine Wirklichkeit außerhalb des Textes kennen würde. Wie stellt sich in der Begriffsgeschichte Kosellecks das Verhältnis zwischen Begriff und Referent dar und welche Position bezieht sie in Bezug auf die Cultural Studies?

FS: Für Kosellecks sozialgeschichtliche Begriffsgeschichte ist das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen Wörtern und Sachen konstitutiv. Geschichte war für Koselleck immer mehr und zugleich immer weniger, als begrifflich über sie gesagt werden kann, und umgekehrt leiste die Sprache immer mehr oder weniger, als in der wirklichen Geschichte enthalten ist. Koselleck hat dieses Thema immer wieder umkreist und eine Reihe von Ansätzen unternommen, die Relationen von Sprache und Wirklichkeit konkreter zu fassen. Seine Bemerkungen dazu bleiben aber widersprüchlich und oft unbestimmt: so heißt es, Worte und Sachverhalte „verweisen aufeinander“, „konvergieren“ oder „korrespondieren“ (in dem dreifachen Sinne von begleiten, registrieren und induzieren), sie stünden „in einer Spannung miteinander, aber sie gehen nicht ineinander auf“ usw. Die Worte hätten einen „Hinweischarakter“ usf.

Andere Ansätze Kosellecks wiederum vermeiden eine Konzeption des Verhältnisses von Wörtern und Sachen im Sinne einer externen Relation zwischen zwei unabhängig voneinander identifizierbaren Faktoren und richten die Begriffsgeschichte von vornherein jenseits des Gegensatzes von Faktoren und Indikatoren aus. Im Mittelpunkt steht hier die Reflexion ihrer Vermittlungsfunktion, die nach keiner Seite auflösbar ist. Die Begriffsgeschichte liefere gleichsam die Gelenke, die zwischen der text- und sprachgebundenen Quellenebene und der politischen und sozialen Wirklichkeit eine Verbindung herstellen. Insgesamt lässt sich im Zeichen des cultural turn eine starke Tendenz erkennen, die Frage nach der Referenz der Begriffe als naiv oder obsolet darzustellen. Damit wird Kosellecks Begriffsgeschichte aber gerade ihres (ideologie-)kritischen Stachels beraubt. Koselleck war von Anfang an bestrebt, Geschichte nicht in Sprache aufgehen zu lassen. Ohne die sprachliche Unabhängigkeit der Sachverhalte würde Geschichte zur Bewusstseinsgeschichte werden.

Und umgekehrt hat er gegen die Sozialgeschichte Wehlerscher Prägung die Begriffsgeschichte als conditio sine qua non der Sozialgeschichte zu begründen versucht: Aus der Eigenständigkeit der Begriffsgeschichte leitet Koselleck den spezifischen Vorzug ab, dass sie den Zusammenhang zwischen Begriff und Wirklichkeit, genauer: die wechselseitige Durchdringung von Sprache und politisch-sozialer Wirklichkeit durch ihren Zugang von der Sprache her methodisch reflektiert untersuchen kann. Weil durchgehaltene Worte kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte sind (und umgekehrt), bleibt die Sozialgeschichte, wenn sie Anachronismen vermeiden und die historischen Dimensionen ihrer nur im Medium von Quellen- und Wissenschaftssprache gegebenen und vermittelbaren ,Sachen‘ reflektieren will, notwendig auf die Begriffsgeschichte verwiesen. Methodisch bildete die Begriffsgeschichte für Koselleck deshalb die irreduzible Letztinstanz, ohne die keine Erfahrung und keine Wissenschaft von der Welt oder von der Gesellschaft zu haben sind.

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JK: Am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auch noch andere europäische und amerikanische Versuche, eine Geschichte der Begriffe zu begründen. 1930 verfasste Lucien Febvre in Le Mots et les choses en histoire économique einen Appell für die Untersuchung von wirtschaftlich-sozialen Schlüsselworten. In den letzten Jahrzehnten gab es etliche Versuche, Innovationen in der Begriffsgeschichte durch eine Kombination mit der Mentalitätsgeschichte der Annales Schule herbeizuführen (Fritz Herrmanns, Rolf Reichardt, Volker Sellin). Welches Potentialssehen Sie in diesen Versuchen?

FS:In Deutschland ist die Mentalitätsgeschichte lange Zeit nicht wahrgenommen worden, was sicher auch an ihren starken materialistischen Impulsen liegt, die im Gegensatz zu den traditionellen ideen- oder geistesgeschichtlichen Ansätzen standen. Später ist sie dann mit großem Gewinn mit begriffsgeschichtlichen Ansätzen verbunden worden, die ja auch schon für die Begründer der Annales-Schule selbst eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu den gemeinsamen Interessen von Begriffsgeschichte und Mentalitätsgeschichte gehört die Analyse der kollektiven, repetitiven und automatischen Dimensionen der Semantik, die sich unterhalb der Bewusstseinsebene beziehungsweise der reflektierten Begriffsbildung in Form von kulturellen Codes, Pathosformeln oder Topoi manifestieren und die sich durch traditionelle Lektüreweisen kaum oder nur schwer erfassen lassen.

Durch die Entwicklung der Diskursanalyse ist dieser Bereich besser erschließbar geworden, und speziell die computergestützten quantitativen Verfahren der Auswertung historischer Quellen stellen neue Möglichkeiten zur Erforschung bereit. Die neuen korpusorientierten Ansätze der Historischen Semantik versprechen sich daher zu Recht einen enormen Erkenntnisgewinn durch die neuen Techniken, denn mit Hilfe digitaler Recherchen lassen sich große Textmengen erschließen und seriell auswertbare Befunde generieren. Mögliche Probleme sehe ich darin, dass die für die politisch-soziale Begriffsgeschichte zentralen Dimensionen der Umkämpftheit und Umstrittenheit der Semantik sowie die Perspektive der longue durée vernachlässigt werden. Auch besteht die Gefahr, dass die digitale Auswertung von Korpora zum Selbstzweck wird und die Reibungsflächen mit der materialen Geschichte aus dem Blick geraten.

JK: 1940 gründete der in Berlin geborene Arthur O. Lovejoy das Journal of the History of Ideas und formalisierte damit eine amerikanische „History of Ideas“, die er bereits vorher mit Werken wie The Great Chain of Being begründet hatte, auch mit Verweis auf Neu-Kantianer wie Cassirer und Windelband. Wo waren die grundsätzlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Begriffsgeschichte deutscher Spielart und ab wann begann die deutsche Begriffsgeschichte in der amerikanischen Ideengeschichte als Referenz aufzutauchen?

FS: Lovejoys Ideengeschichte ist durch vielfältige Einflüsse geprägt. Zu den wichtigsten gehören der Pragmatismus seines Lehrers William James sowie Wilhelm Windelband, mit dessen Geschichte der Philosophie er seine zentrale methodische Figur der „Elementarideen“ in Verbindung bringt. Mit Windelband verbindet ihn auch der letztlich doch unhistorische Charakter seiner Ideengeschichte. Die Geschichte des menschlichen Denkens war für ihn gleichsam die phänotypische Erscheinungsform der Transformation und Neukonfiguration einiger weniger Basiselemente, die als solche wesentlich unveränderlich, geschichtslos waren. Das Ideal seiner Ideengeschichte hat er selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht: es war die ununterbrochen nachvollziehbare, mitunter zeitweise kaum sichtbare, dann wieder hervortretende unendliche Kette, die sich durch unterschiedliche Diskurse, Kulturen und Disziplinen verfolgen lasse.

Ein Spezifikum von Lovejoys Ideengeschichte ist ihr dezidiert interdisziplinärer Charakter. Lovejoy kritisierte die elitäre philosophische Ideengeschichte, die nur Interesse an den Ideen großer Philosophen hat, und er unterlief auch den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften. Das von Lovejoy begründete Journal of the History of Ideas bot vielen deutschen Emigranten, darunter Ernst Cassirer, Paul O. Kristeller, Karl Löwith, Kurt Riezler, Leo Spitzer und Edgar Zilsel, die Möglichkeit, ihre Arbeiten zu veröffentlichen, und wurde so zu einer wichtigen Quelle des Ideentransfers. Mit der Ausnahme der Arbeiten von Zilsel handelte es sich bei den Beiträgen dieser Autoren aber kaum um im engeren Sinne begriffsgeschichtliche. Ein systematischeres Interesse an der Begriffsgeschichte, wie sie in Deutschland betrieben wurde, lässt sich im Journal erst seit den 1980er Jahren erkennen. Den Durchbruch markierte wohl die nach der Übernahme der Herausgeberschaft durch Donald R. Kelley publizierte Ausgabe des Jahrgangs 1987, in dem der erste Aufsatz zu Foucault, der erste Aufsatz von John Pocock, eine Darstellung von Melvin Richter zum Verhältnis von Begriffsgeschichte und History of Ideas sowie eine Auseinandersetzung mit Blumenbergs Metaphorologie erschienen ist.

JK: Formuliert als Kritik der Ideengeschichte ist insbesondere die Cambridge School in den letzten Jahren eine einflussreiche Methodologie für die Untersuchung historischer Semantiken geworden. 2007 bezeichnete Quentin Skinner, einer der führenden Vertreter der Cambridge School, die Beziehung zwischen Kosellecks Begriffsgeschichte und seiner Methode als „Minenfeld“ (S. 114). Wo sehen Sie die grundlegenden Differenzen zwischen beiden Methodologien?

FS: Zwischen dem Ansatz der Cambridge School und demjenigen von Kosellecks Begriffsgeschichte gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede, wobei man sich bei deren Beurteilung nicht allein auf die Argumente der Protagonisten selbst verlassen sollte. In Bezug auf John Pocock lässt sich sagen, dass sein vorrangiges Interesse der synchronen Rekonstruktion von ganzen Sprachen politischer Theorien mit allen ihren Elementen gilt, während bei Koselleck der diachrone Bedeutungswandel punktueller Begriffe im Zentrum steht. Eine zweite Differenz ist, dass bei Pocock der Fokus auf der synchronen Koexistenz und Vermischung einzelner Sprachen einer Epoche liegt, Koselleck dagegen einen epochalen, längerfristigen und überpersonalen Bedeutungswandel herausarbeitet, der alle Sprachen (im Sinne Pococks) gleichermaßen erfasst.

Skinners an Wittgenstein und Austins Sprechakttheorie orientierter Ansatz dagegen hat im Vergleich mit Koselleck ein viel stärkeres Interesse an der Sprachpragmatik, an den sprachpolitischen Manövern, ideologischen Pointen, rhetorischen Überredungs- und Überzeugungsstrategien einzelner Akteure, deren sprachliches Handeln immer als politisch motiviertes eingreifendes Handeln gefasst wird. Ein wichtiger Unterschied zu Koselleck ist zudem, dass die Cambridge School kein großes Interesse an den außersprachlichen Kontexten hat und nicht selten dazu tendiert, ,Realitätʻ und Diskursivität zusammenfallen zu lassen, wohingegen Kosellecks sozialhistorische Begriffsgeschichte nicht nur auf die Spannungen zwischen beiden Dimensionen abhebt, sondern, grundlegender, mit einer Theorie der modernen Gesellschaft und einer Theorie historischer Zeiten verbunden ist.

JK: Neben der Cambridge School und der Begriffsgeschichte ist die Diskursgeschichte im Sinne Foucaults vielleicht die dritte große methodologische Richtung, die sich von der traditionellen Ideengeschichte absetzt. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen Diskursgeschichte und Kosellecks Begriffsgeschichte?

FS: Zunächst möchte ich sagen, dass die Diskursgeschichte bei und vor allem nach Foucault in sehr verschiedenen Formen betrieben worden ist, von denen einige Überschneidungen mit der Begriffsgeschichte aufweisen, andere dagegen als markante Gegenentwürfe erscheinen. Foucault hat die Diskursgeschichte und die mit ihr konstituierten neuen historiographischen Erkenntnisgegenstände in deutlicher Abgrenzung von hermeneutischen Zugängen in einer nahezu technischen Sprache (Matrix, Code, Element, Streuung, Formation, Häufung, Serie, Spiel, Dispersion) beschrieben, die im umfangreichen Kategorienapparat Kosellecks keinerlei Entsprechungen haben. Umgekehrt sind auch wichtige Leitbegriffe der Begriffsgeschichte wie Erfahrung, Erwartung oder Bedeutung dem anti-hermeneutischen Ansatz der Diskursgeschichte zunächst einmal entgegengesetzt. In Deutschland hat es dann aber auch zahlreiche Versuche gegeben, eine diskursanalytische Begriffsgeschichte zu etablieren, also beide methodischen Ansätze zu verbinden. Vor diesem Hintergrund hat Koselleck in seinem begriffsgeschichtlichen Ansatz keinen scharfen Gegensatz zur Diskursanalyse sehen wollen.

Ein großer Unterschied ergibt sich für mich aber aus Foucaults Verständnis vom Diskurs als Monument statt als Dokument. Mit dem Monumentbegriff hat Foucault alle Fragen nach einem Außerhalb oder Anderen der Diskurse abgeschnitten. Das Problem der Weltreferenz beziehungsweise die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Begriffs- und Sachgeschichte, die Koselleck als zentrales Problem der Historischen Semantik angesehen hatte, scheint damit gegenstandslos zu werden. Durch die Abstraktion von den Sachen und den Intentionen der Subjekte begibt sich Foucault darüber hinaus auch der Möglichkeit, sprachlichen Wandel nicht nur zu konstatieren, sondern auch zu erklären; es handelt sich bei ihm nicht um einen Prozess oder Übergang, sondern um die Ablösung von Tableaus oder Dispositiven, ohne dass Foucault die Frage interessiert, wodurch die Ablösung bewirkt wurde. Prozesse der Transformation und des Übergangs von einer Wissensform zu einer anderen können mit Foucaults Ansatz somit nicht erfasst werden.

JK: Mit der Conceptual History ist die einstmals als deutsche Sonderform angesehene Begriffsgeschichte auch sehr präsent in der anglophonen Geschichtswissenschaft. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen beiden Methodologien und welche Potentiale hat die Internationalisierung der Begriffsgeschichte?

In den zurückliegenden zwei oder drei Jahrzehnten hat eine starke internationale Rezeption Kosellecks eingesetzt. Mittlerweile gibt es aus sehr verschiedenen Richtungen eine Aneignung Kosellecks, so dass es schwer ist, in allgemeiner Form von Unterschieden zu sprechen. Kosellecks Begriffsgeschichte zehrt von historischen und zeithistorischen Voraussetzungen, die aus der Perspektive anderer historischer, kultureller und nationaler Entwicklungen fragwürdig oder zunächst eher fremd erscheinen. Dazu gehören ganz sicher die geschichtsphilosophischen Dimensionen von Kosellecks Begriffsgeschichte sowie ihr weitreichender theoretischer Anspruch, zu einer umfassenden Theorie der Moderne beitragen zu können bzw. für eine solche unverzichtbar zu sein. Durch diesen Anspruch sowie durch ihre methodische Verbindung von Begriffs- und Sachgeschichte erscheint sie vielen im Zeichen der Kritik an den großen Erzählungen und eines poststrukturalistischen Konstruktivismus als ziemlich überspannt. Andererseits sind es gerade seine mit der Begriffsgeschichte verknüpften Theoriebegriffe wie Verzeitlichung, Sattelzeit, Zeitschichten oder Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die ihn für die historisch arbeitende Forschung interessant gemacht haben. Die Internationalisierung der Begriffsgeschichte wirft völlig neue Probleme und Fragestellung auf. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Übersetzbarkeit von Begriffen oder die Übertragbarkeit theoretischer Befunde auf andere Kontexte.

 

Falko Schmieder arbeitet am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und – kulturellen Semantik in Deutschlandund ist Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin.

 

Jonas Knatz ist Doktorand am History Department der New York University.

2 Kommentare zu “Die Geschichte der Begriffsgeschichte: Zwischen Historisierung und Begriffspolitik

  1. Ein äußerst interessantes Interview! In der vierten Frage müsste es wohl „Werner Jäger“ statt „Walter Jäger“ heißen, vermute ich.

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