theorieblog.de | Wirtschafts- und fiskalpolitische „Größen“ der Demokratie (Buchforum „Die Größe der Demokratie“, Teil 4)

12. September 2019, Huhnholz

Dass Dirk Jörkes Die Größe der Demokratie der tatsächlichen und der potentiellen demokratischen Qualität großräumiger Herrschaft und Integration besonders Europas skeptisch gegenübersteht, ist in den bisherigen Diskussionen zum Werk stets festgestellt worden. Dazu wird hier keine Position bezogen, auch eine Gesamtwürdigung des Bandes wird im Sinne der thematischen Arbeitsteilung des vorliegenden Buchforums unterbleiben müssen. Stattdessen möchte ich mich Jörkes neuem Buch maßgeblich aus einer wirtschafts- und finanz- bzw. fiskaltheoretischen Sichtweise der Politischen Theorie und Ideengeschichte nähern. Darum konzentriere ich mich auf dessen sechstes Kapitel, d.h. auf Jörkes Ausführungen über „Rückgewinnung wirtschaftspolitischer Souveränität“.

Dass dieser Fokus gleichwohl aufs Ganze zielt, wird dadurch deutlich, dass Jörke selbst sein Buch über die Demokratiekrise Europas und der europäischen Staaten mit einer wirtschafts- und fiskalpolitischen Skandalisierung einleitet. Eurokrise, Wohnungsfrage, Lohnsklaverei, Finanztransaktionssteuerdiskussion, Steuerflucht und -vermeidung u.v.a.m. führt er an. Solche Kritik ist mit guten Gründen Standard geworden. Von Thomas Piketty über Wolfgang Streeck bis Jean-Claude Michéa wird die heutige europäische Demokratiekrise vom liberalen bis ins radikale Spektrum als Konsequenz einer irrlichternen Wirtschaftsideologie vorgeführt. Dem schließt sich Jörke an.

 

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Das Besondere an Jörkes Zugriff ist im Vergleich zu den Standardkritiken meines Erachtens der Umstand, dass er die ökonomische Gestalt Europas nicht nur empirisch oder ideologisch, sondern ideenhistorisch konturiert: mittels Rückgriff auf demokratietheoretische Traditionen. Wenn er befürchtet, „dass mit der Ausweitung politisch-ökonomischer Räume ein Verlust an Demokratie einhergeht“, weil es „sowohl zu einer Aushöhlung der Möglichkeiten demokratischer Herrschaftsausübung als auch zu einem Verlust an sozialer Demokratie“ komme und sich „supranationale Gebilde nur in einem sehr schwachen Sinne demokratisieren“ ließen (S. 10f.), erinnert er zu Recht an eines der Urprobleme demokratisch interessierter Politologie. An den heute für viele alltäglich spürbaren „negativen Zusammenhang von Größe und Demokratie“ (S. 16).

Themen wie die durch räumliche Diffusion verschleierte Korruptibilität politischer Eliten, die Trivialisierung und Theatralisierung der in sich sprachlosen Öffentlichkeit sowie die ‚barbarisierende‘ Sogwirkung der Peripherien des Großraums gehören seit jeher zum politikgeschichtlichen Größendiskurs. In der Neuzeit hinzu trat noch die soziale Frage von links und von rechts, Befürchtungen materieller Grenzen also: die Sorge, der extensive Verbandsraum besitze zu viel, um gerecht teilen zu wollen, oder zu wenig, um es großzügig verteilen zu dürfen. Unbeschadet unzähliger national-sozialer Mischformen hat die Rechte auf diese Problematik mit der Forderung nach einer heroischen Nationalisierung der Produktion geantwortet, die Linke mit Sozialisierung und der Liberalismus mit dem Ideal einer pazifizierenden Internationalisierung des Handels.

Diese wirtschafts- und finanzpolitischen Paradigmen stehen für unterschiedliche Modelle sozialen und zwischenstaatlichen Friedens. Linke und Rechte halten dabei gewöhnlich am antiken Maß der ideellen Kongruenz von Wirtschafts- und Souveränitätsraum fest. Liberale hingegen versprechen sich eine Befriedung politischer Konflikte durch ökonomische Expansivität und weltwirtschaftliche Integration. Es sei „der Handelsgeist“, der doux commcerce, „der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“, heißt es in Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Und die liberalistische Idee, waren- und geldbasierte Tauschmachtkommunikation begünstige die Friedfertigkeit tendenziell normativ Gleicher und ersetze raub- oder schutzgeldgestützte Gewalt, ist zum Nachkriegscredo Westeuropas avanciert. Jörkes Buch nun ist durch die Befürchtung charakterisiert, dass weder die politischen Friedens- noch die sozialen Demokratieversprechen des liberalen Ideologems materieller Interaktion haltbar sind.

 

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Wie geht nun Jörkes Zugriff auf die Produktions- und Verteilungsproblematik vor sich? Am für mich auffälligsten ist die Rolle, die Jörke Johann Gottlieb Fichtes 200 Jahre altem Entwurf eines „geschloßnen Handelsstaats“ zukommen lässt. Darin neigt Fichte dem harten Protektionismus einer statisch konzipierten Planwirtschaft zu, der sich, folgen wir Jörkes Reformulierung, „der weitverbreiteten Freihandelsdoktrin entgegenstellt.“ Fichte gehe es „um die Sicherung der Autonomie des Nationalstaates und damit um die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die stärkere Regulierung ökonomischer Prozesse, wozu nicht zuletzt die Kontrolle über die Währung zählt. Zudem lässt sich mit Fichte für eine stärkere Lenkung der Wirtschaft bis zur Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien argumentieren“ (S. 18).

Damit ist der Ton gesetzt. Der Rückbau des Binnenmarktes und der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit, die Stärkung „geregelte[r] Migration“ (S. 212ff.) und die Abschaffung des Euro sind einige der Konsequenzen, die sich aus der Vorbildlichkeit des „Anti-Klassikers“ Fichte für Jörke ergeben müssen. Dass Fichte heute als ein zu „problematischer Denker“ gilt, weil ihm neben Militarismus und Chauvinismus, „Nationalismus und Antisemitismus, bisweilen auch totalitäre Züge unterstellt“ werden, gesteht Jörke umstandslos zu (S. 182f.). In der Tat ist Fichtes (philosophisch verschlungener und als „Anhang“ zu seiner Rechtslehre gedachter) Wirtschaftsentwurf vermutlich gerade seiner Inkohärenz wegen von zu vielen Seiten vereinnahmt worden und Fichte hat sich später selbst von ihm entfernt. Halten wir uns damit also nicht auf und übernehmen kurzerhand Jörkes Position, laut der sich Fichte seinerzeit gegen ein bizarres Freihandelsdogma habe richten wollen, an dessen pazifizierende und zivilisierende Kraft der frühe, Kant radikalisierende Philosoph nicht bedingungslos zu glauben geneigt gewesen sei. Dagegen habe er im Geschloßnen Handelsstaat ein „planwirtschaftliches Modell“ entwickelt. Das ließ zwar „für ökonomische Freiheit wenig Raum“, denn die „Produktion und die Zirkulation der Waren, so Fichte, soll der Staat regeln“ (ebd.), habe damit aber der kantianischen Friedensabsicht dienen wollen.

Fichtes Motivation sei einerseits in der sozialen Frage des Eigentums zu finden: Er bestritt in hobbesianischer Art die Rechtsidee vom freien Privateigentum, wonach ein Eigentümer Nutznießinteressierte und selbst notleidende Mitmenschen eigenmächtig und willkürlich von der Mitnutzung seiner Güter ausschließen dürfe. Andererseits habe Fichte befürchtet, dass die Konkurrenz der Händler und die Ausdehnung des Welthandels eine Kostensenkungsspirale in Gang setzten. Wert und Würde der investierten Arbeit und sonstige Leistungen würden so herabgedrückt, dass sie zur Erpressung schwächerer Staaten und vor allem zur Ausplünderung von Kolonien führten, Unrecht, Elend und Aggression förderten. Heute, so Jörke, lasse das „an die aggressiven Handelspraktiken sogenannter Exportnationen wie Deutschland und China einerseits und die zunehmende Verelendung der Arbeiter der Importnationen andererseits denken“ (S. 187).

Vor diesem Hintergrund entwickelt Jörke „Leitideen einer demokratischen Wirtschaftsverfassung […], die auf staatliche Handlungsmacht nicht verzichten kann“ (S. 190). Dazu zählen unter dem Stichwort Weniger Markt wagen (S. 191ff.) Rückführungen von Daseinsvorsorgeeinrichtungen in Staats- oder Gemeinwirtschaft, die ich hier lediglich deshalb nicht ausführlicher reformuliere, weil sie zum Kanon jüngerer politologischer Diskussionen gehören und dem Muster des Rückblicks auf die neoliberale Privatisierungs- und Finanzialisierungsära einschließlich der kritischen Reflexion des sozialdemokratischen Niedergangs folgen. Dass von der europäischen Automobilproduktion über die Agrar- und Forst- bis zur Tier- und Fischfleischwirtschaft viele Produktions- und Konsumzweige der europäischen Verflechtung heute trotzdem eigentlich nicht den Lehrbuchidealen fairen marktwirtschaftlichen Handelns, geschweige denn „sozialer Marktwirtschaft“ gehorchen, ist auch für Jörke common sense.

 

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Bis hierhin habe ich mich mit dem Aufzeigen einiger Vorläufer und der Rekapitulation von Jörkes wirtschafts- und finanzsouveränitätstheoretischer Argumentation begnügt. Gestützt wird sie von interdisziplinären Theorienvergleichen wie auch durch eine empirische Forschung, die der struktur-kommunitaristischen (und vermutlich für die meisten von uns lebensweltlich plausiblen) Intuition folgen, dass unsere Bereitschaft und Verlässlichkeit, die Vor- und Nachteile, die Privilegien und Kosten der gemeinsamen Angelegenheiten redlich zu teilen, mit gegenseitiger Vertrautheit steigen. Von Fiskaltheoretikern wie Knut Wicksell über Fiskalpsychologen wie Gebhard Kirchgässner bis zu politischen Ökonominnen wie Elinor Ostrom: Häufig werden wir mit der Einsicht konfrontiert, dass nicht nur formale Institutionen, sondern auch soziale Nähe- und alltagspraktisch überschaubare Beziehungen wirtschaftliche und fiskalische Fairness motivieren. Und umgekehrt: Je räumlich weiter, moralisch loser und politisch abstrakter der soziale Verkehr wird, desto eher müssen allgemeine Zwangsinstrumente wie die Steuer greifen, umso mehr treten Verträge, Lobbyismus und Kanzleien an die Stelle von Preismechanismen, kaufmännischem Vertrauen und Nachbarschaftlichkeit. So besehen also erscheinen Jörkes Vorstellungen einer wünschenswerten Kongruenz von Wirtschafts-, Sozial- und kollektivem Entscheidungsraum allgemein anschaulich und demokratieplausibel.

Irritierender – und damit leite ich einige kritischere Anfragen ein – ist, dass Jörke (soweit ich sehe) die Herleitungen seiner theoretischen Schlüsse und politischen Forderungen überhaupt maßgeblich von Fichte herleitet. Hätten sich nicht auch wesentlich mehr Klassiker*innen für die zur Diskussion gestellten Probleme angeboten? Und falls ja: hätte dies zu womöglich ganz anders gelagerten Schlussfolgerungen geführt, seien es nun ähnlich radikale, minder radikale oder noch radikalere?

Diese Frage stellt sich mir vor allem, weil ich den argumentativen Hebel Jörkes noch nicht genügend zu begreifen vermag, dass ausgerechnet in einer ökonomischen Schwächung vieler europäischer Staaten, in der Limitierung ihrer fiskalischen Extraktionsmenge und im Riskieren des (gegebenen!) Mehrheitszuspruchs zu ihrer Wirtschaftspolitik der Schlüssel zur Wiedergewinnung fiskal- und wirtschaftssouveräner Entscheidungs-, Lenkungs- und Umverteilungsspielräume zu finden sein soll. Warum sollte auf europäisch gebündelte (wenn nicht gar geeinte) Kraft eines machtvollen Nationenverbunds zugunsten territorial-sozialistischer Selbstbeschränkung einzelner, überdies sodann schrumpfender Volkswirtschaften verzichtet werden, um demokratische Revitalisierungen zu stimulieren? Gäbe es nicht Ansätze, die eine Hebung des demokratischen Niveaus mit weniger Risiko bewirken könnten? Und woraus sollten wir andernfalls Vertrauen auf Erfolg schöpfen? Was ließe uns glauben, politische Megapläne zugunsten etwa nationaler Sozialisierungen könnten ohne absehbare und unabsehbare Widerstände und Nebenwirkungen propagiert oder realisiert werden?

 

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Wollte man versuchen, fiskalföderalistische Demokratie- und Souveränitätsstärkungsmodelle zu identifizieren, böten sich mehrere weitere Varianten an, von denen ich zwecks Konstrastierung mit Jörkes Vorschlägen exemplarisch zwei anführen möchte. Die eine gehört der ideenhistorischen Klassik an, die andere ist kontingentes Resultat politischer Evolution. Die erste gilt als demokratisches Vorbild, die zweite besaß zwar demokratisierungstreibende Wirkung, nicht aber demokratische Gestalt. Gemeint sind das Modell der amerikanischen Federalists zum einen, das Budget des letzten deutschen Kaiserreichs zum anderen.

Knapp gefasst beruht der erste Ansatz auf einem kapitalistischen Wirtschafts- und föderalistisch harmonisierten, in Teilen (bundes-)zentralistischen Fiskalmodell mit einheitlicher Zoll- und Währungspolitik nebst Steuerharmonisierungen. Jörke lehnt dieses Modell vermutlich ab, weil es der heutigen EU in Teilen entspricht. Ich sollte die fiskalischen Vorschläge der Federalists darum wohl besser ignorieren. Doch könnten einige ihrer Argumente doch mindestens bedacht werden. Denn wie kein anderes Werk stehen die Federalist Papers für den Willen zum Aufbau einer auf Binnenbalance bedachten Finanzverfassung der auch räumlich extensiven Massendemokratie. Insbesondere der junge Alexander Hamilton ist es, dessen finanzpolitische Kompetenz dem Projekt Konturen gab und etwa in Artikel 12 vor dem Scheitern der Konföderation an der Finanzpolitik der Einzelstaaten warnt. Das Ziel  sind ein prosperierender Großwirtschaftsraum sowie sich daraus ergebende Fiskal-, Souveränitäts- und Verteidigungsvorteile gegen imperialistische Gelüste der Briten und Franzosen.

Damit war die Position des klassischen Republikanismus für überholt erklärt worden, nach der (statische) Landwirtschaft (dynamischem) Handel vorzuziehen sei. Die Federalists negieren den asketischen Sittlichkeitssinn des republikanischen Subsistenzideals, dem Fichte und nun meinem Eindruck nach auch Jörke folgen. Konzentrieren wir die Vorschläge, erblicken wir die Einforderung einer föderalistischen Binnenwirtschaftsrepublik mit fiskalischem Kompetenzzentrum. Diesem Plädoyer braucht man sich nicht anschließen; auch der Umfang seiner tatsächlichen Realisierung bleibe historisch dahingestellt. Doch darf hier nur der systematische Anteil zählen: Was genau spricht angesichts der von Jörke beschriebenen und kritisierten europäischen Souveränitäts- und Demokratiedefizite eigentlich genauer gegen den (in der Tendenz habermasianisch pointierbaren) Versuch, sie durch eine flankierende Ausdehnung der politischen und fiskalischen Herrschaftsgewalt der Europäischen Union zu bearbeiten statt durch extremen Rückbau bereits erreichter Integrations-, Verflechtungs- und Wohlstandsniveaus? Warum sollten wir unter den Vorzeichen einer unumkehrbar globalisierten Konstellation für Protektionismus, Dirigismus und Isolationismus votieren statt für den Aufbau von echtem Pluralismus?

 

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Die andere Variante eines fiskalföderalistischen Demokratisierungsmodells, das Matrikularmodell des späten Deutschen Reiches, beruhte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend auf der Finanzierung des Reiches durch Beiträge der Mitgliedsstaaten. Eine zentrale Finanzverwaltung kannte das Reich bis zu seinem Untergang nicht. Der formellen Reichssouveränität arbeiteten die Matrikularfisken der Länder selbstredend nicht zu, sehr wohl aber der Parlamentsmacht, sodass der Prozess (Demokratisierung), nicht jedoch das politische System gestärkt wurde.

Dieser Demokratisierungsimpuls ist leicht zu verstehen. Die wirtschaftlich leistungsfähigsten deutschen Länder, sprich: die Speerspitzen der Industriellen Revolution, sahen sich dem stärksten Partizipationsdruck der neuen Klassen ausgesetzt. Ihre organisierte Arbeiterschaft wie auch das finanzstarke Bürgertum entwickelten zweckgemeinschaftliche Interessen, die mit denen der traditionellen (um nicht zu sagen: rückständigen) Ökonomien des ostelbischen Junkerlandes wenig gemein hatten, sodass sich die relativ höheren Beiträge der westlicheren Länder in politische Forderungen übersetzten, die sich im Reichstag konzentrieren ließen.

Darin lediglich eine (heute unerwünschte) Carte blanche für die verschleierte Durchsetzung von übermächtigen Mitgliedsstaaten zu vermuten, griffe übrigens zu kurz. Denn sozial ausgewogene Übereinstimmungen zwischen den Einzelländer-, also Bundesratspositionen und den Abgeordnetenpositionen im Reichstagsparlament fanden sich bei den fortgeschritteneren Gliedstaaten: Das Elektorat breit legitimierter Länderregierungen konnte seinen Einfluss in Landes- und Reichstagswahlen im Gegensatz zu Einwohnern von weniger ‚responsiven‘ Mitgliedsländern gewissermaßen doppelt geltend machen. So ist es weder wirtschafts- noch parlamentarismusgeschichtlich unüblich, die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und den Aufstieg der Sozialdemokratie als Resultate dieses tief in die deutsche Finanzgeschichte zurückreichenden fiskalföderalistischen Arrangements zu begreifen, denn gerade die fortschrittlicheren Frei- und Gliedstaaten verstanden es, ihr finanzielles und demokratisches Gewicht auf Bundesebene, im Reichstagsparlament also, sozialstaatsförderlich zu nutzen. Diese wechselwirkende Selbstverstärkung von ökonomischer Potenz, politischer Partizipation und sozialem Fortschritt der entsprechend selbstbewussten Mitglieder strahlte auf den Bund aus.

Entsprechend möglich wäre es, in dieser demokratiegeschichtlichen Dynamik Anleihen eines zukünftigen europäischen Integrationsprozesses zu suchen, der weder auf institutionelle Unitarisierung noch auf identitäre Nivellierung oder kapitalistische Monokulturalisierung hinausläuft. Doch stellte schon der späte Ralf Dahrendorf fest, dass das Europäische Parlament ja „kein Parlament“ sei: „Man kann einem Parlament keine Rechte geben, das Parlament gibt Rechte. Ein Parlament, das bei der Kommission um seinen eigenen Haushalt betteln muß, das keine Steuern erheben kann, das keine Regierung bestellt oder entläßt, verdient diesen Namen nicht und wird sich nie zu einem Instrument der Demokratie entwickeln.“ Und tatsächlich ist das fiskalische Niveau des europäischen Vertiefungsprozess stets indirekt gesteuert worden, nämlich nicht über die Höhe des Etats, sondern über die Intensität budgetärer Autonomie. Der wirtschaftsplanmäßige Etat der EU ist ein Konsensprodukt der Staaten, kein Parlamentsbeschluss, der sich nach den Europäer*innen und ihrem Bedarf richtete. Ausschlag über die der EU zugestandenen Mittel geben durchweg die finanzstarken und die fiskalsouveränen Mitgliedsstaaten. Und die entscheiden gewöhnlich gegen eine fiskalisch gestärkte Demokratisierung der EU.

Ziehen wir also, wie getan, das späte deutsche Kaiserreich als Vergleichsbeispiel heran, ließe sich hoffen, dass auch heute nicht etwa in einer Stärkung europäischer Staatsregierungen, sondern vielmehr in einer gegen sie in Stellung gebrachten Parlamentarisierung der EU mehr soziale und demokratische Fortschritte zu erzielen wären als durch Abflachungen der Einigungstiefe. Dafür nötig allerdings wäre, dass den gliedstaatlichen Regierungen die europäische Finanzhoheit zugunsten eines europaparlamentarischen Eigenbudgetrechts offensiv bestritten würde – was praktisch nicht passiert, solange kein „echtes“ EU-Parlament im Sinne Dahrendorfs an Herrschaftsmacht gewinnt.

 

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Was ist mit solchen Ausführungen nun hinsichtlich Dirk Jörkes Ansatz zu gewinnen? Zunächst noch größere Verblüffung, weil Jörke – ein exzellenter Kenner der föderalistischen Ideengeschichte Nordamerikas und überdies ein Forscher, der auch im hier diskutierten Buch explizit mit den amerikanischen Föderalisten und Antiföderalisten argumentiert und das frühamerikanische Beispiel immer wieder als Vorbild heranzieht – die Karte der US-amerikanischen Fiskaldemokratietheorie nicht zieht. Stattdessen setzt er auf einen semi-sozialistischen Nationalautarkisten wie Fichte, für dessen verworrene Radikalität er sich immer wieder umständlich rechtfertigen muss und dessen wirtschafts-, währungs- und fiskalpolitische Popularität im Lager der einstigen „Konservativen Revolution“ und der heutigen „Neuen Rechten“ Jörke keinesfalls recht sein dürfte.

Umso mehr aber fällt dann auf, dass schon mittels Zuhilfenahme von lediglich zwei fiskalföderalistischen Beispielen – Federalists und Kaiserreich – die gegenwärtige Finanzverfassung der Europäischen Union weder abwegig erscheinen müsste noch skandalös. Gerade aus republikanischer Perspektive, die Jörke vertritt, sind viele Merkmale der europäischen Finanzverfassung theoretisch profunde, geschichtlich konsequent und politisch vernünftig. Weder werden Möglichkeiten der föderalistischen Demokratisierung und zukünftigen Zentralisierung prinzipiell verbaut. Noch werden Schritte gewagt, um am Status quo allzu existentiell zu rütteln.

So bliebe, ziehen wir bloß diese Beispiele heran, einerseits schon zu konstatieren, dass der fiskalische Status quo derzeit jenem Konföderalismus gehorcht, den Jörke selbst empfiehlt. In Europa gibt es – glücklichweise, so führt etwa Moritz Rudolph im Merkur weiter aus – kein „Parlament mit vollem Budgetrecht“. Gerade doch die demokratische Eitelkeit der fiskalsouveränen Nationalstaaten steht fest gegen die Expansion sowohl eines bloß technokratischen wie auch eines vollends supranationalen Europa. Dies freilich müsste andererseits nun auch bedeuten, dass Jörkes Kritik vielmehr auf die Wirtschafts- als auf die Finanzverfassung Europas zielt. Beide befinden sich zwar im ökonomischen Wechselspiel, gehören politikanalytisch indes offensichtlich doch stärker differenziert.

Schließlich bliebe noch nach dem wohlfahrts- und sozialstaatlichen Preis einer wirtschaftsräumlichen Wiederzerstückelung Europas zu fragen und nach den Konsequenzen für die jungen, für die gefährdeten und für die hybriden Demokratien im geschwächten Europa der Gegenwart, das u.a. geopolitisch, populistisch, liberalistisch, ökonomisch und ökologisch auf neuen Schwellen steht. Denn so wünschenswert demokratische Wirtschaftssouveränität und politische Einbettung des europäischen und globalen Kapitalismus vielen auch erscheinen mögen, so fragwürdig ist die Eignung radikaler statt moderater Gegenmaßnahmen wie Staatsfonds, Genossenschaftsförderungen, Antikartellmaßnahmen und herkömmlichem Keynesianismus oder meinethalben einer Europäischen Kontinentalbahn. Die von Jörke implizierte Annahme jedenfalls, heute bestehende Wohlstands-, Rechtstaats- und Sozialabsicherungsniveaus ließen sich ohne einen (wiewohl fraglos reformbedürftigen) europäischen Binnenmarkt und ohne suprastaatliche fiskalische Koordination mehr oder minder flächendeckend erhalten, erscheint gewagt. Nicht gering dürfte das Risiko sein, dass die wirtschaftspolitische und währungsräumliche Zerschlagung großer Teile des europäischen Binnenmarktes demokratische Legitimität eher reduziert als reanimiert, von global drängenden Fragen ganz zu schweigen.

 

Sebastian Huhnholz arbeitet am Lehrbereich Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik der Leibniz-Universität, ist Mitglied des Redaktionsteams dieses blogs und spezialisiert u.a. auf die politische Ideengeschichte und politische Ökonomie der öffentlichen Finanzen.


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