theorieblog.de | „Die Größe der Demokratie“ – eine Replik (Buchforum „Die Größe der Demokratie“, Teil 5)
16. September 2019, Jörke
Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei Claudia Landwehr, Eva Hausteiner, Kerstin Kock und Sebastian Huhnholz für Ihre teils wohlwollend-kritische, teils ablehnend-polemische Auseinandersetzung mit meinem Buch bedanken. Auch möchte ich der Redaktion des theorieblogs für die Organisation dieses Buchforums und für die Möglichkeit, auf die Kritik an diesem Ort zu replizieren, danken. Dass meine Thesen nicht überall auf Akzeptanz stoßen werden, war mir beim Schreiben des Buches nur zu bewusst. Jedenfalls freue ich mich sehr über das Interesse an meinem Buch. Im Folgenden werde ich − in der gebotenen Kürze und Selektivität − auf die einzelnen Beiträge eingehen.
Der Beitrag von Claudia Landwehr war für mich positiv überraschend. Scheint sie doch in vielen Punkten meiner Argumentation − etwa hinsichtlich der Überzeugungskraft der bisherigen Versuche, die supranationale oder globale Ebene zu demokratisieren − beizupflichten. Differenzen ergeben sich jedoch an zwei Punkten. Zum einen wirft sie mir vor, die Frage der Versprechen der Demokratie „ausgesprochen selektiv“ zu beantworten. Zum anderen will sie die Hoffnung, dass auch auf der supranationalen Eben die demokratischen „Versprechen von Teilhabe, sozialem Ausgleich und Rationalität“ effektiv erfüllt werden könnten, nicht gänzlich aufgeben. Was den zweiten Kritikpunkt oder besser gesagt, die zweite Differenz betrifft, so möchte auch ich diese Hoffnung nicht begraben, denke aber, dass die Erfüllung dieser Versprechen anders organisiert werden muss, nämlich in einem stärker konföderalen Sinne. Dazu unten mehr. Der erste Kritikpunkt hat mich in der Art, wie er von Landwehr vorgetragen wird, fast überzeugt, auch wenn ich dort eine gewisse Spannung wahrnehme.
Auf der einen Seite schreibt sie im Anschluss an Pippa Norris, dass instrumentelle Motive für demokratische Verfahren von prozeduralen „vollständig überlagert“ worden seien. Auf der anderen Seite scheint auch Landwehr am Ende ihrer Ausführungen von drei gleichwertigen Versprechen der Demokratie auszugehen, nämlich denen der gleichen Teilhabe, des sozialen Ausgleichs und der Rationalität demokratischer Entscheidungsverfahren. Vielleicht hat Landwehr Recht, und es lassen sich tatsächlich drei Versprechen der Demokratie ausmachen, die zwar zueinander in Spannung stehen, sich jedoch nur gemeinsam verwirklich lassen. Die Frage, die sich mit zunehmender Dringlichkeit stellt, und damit bin ich wieder bei dem zweiten Kritikpunkt, ist, auf welcher Ebene sich diese drei Versprechen am besten realisieren lassen. Landwehr jedenfalls zeigt sich nach der Lektüre des Buches „noch nicht“ ganz überzeugt, dass eine Demokratisierung des Supranationalismus nicht möglich sein soll.
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Ausführungen von Eva Hausteiner. Insbesondere plädiert sie für einen Mittelweg zwischen konföderalen und föderalen Strukturen und damit einhergehend ein komplexes Verständnis von Souveränität, für „Zwischenformen der Machtteilung“. Das ist in der Allgemeinheit sicherlich einleuchtend, und in den vergangenen Jahren hat es eine Vielzahl von Vorschlägen gegeben, wie demokratische Souveränität neu und vor allem flexibler gefasst werden soll. Ich verstehe meine Überlegungen ebenfalls als einen Beitrag zu dieser Debatte. Dabei unterscheide ich zwischen insgesamt fünf Stufen des Föderalen und spreche mich für eine stärkere konföderale Organisation der europäischen Zusammenarbeit aus. Eine derartige konföderale Zusammenarbeit orientiert sich an klassischen Formen des Föderalen und folgt dem Subsidaritätsprinzip. Supranationale Zusammenarbeit darf kein Selbstzweck sein und sollte sich auf deutlich abgegrenzte Policies wie Friedenssicherung und Umweltschutz beschränken. Eine derartige konföderale Organisation unterscheidet sich also insofern von der gegenwärtigen EU, als sie mehr Entscheidungskompetenzen auf der nationalen und regionalen Ebene belässt. Wie Hausteiner zu Recht und kritisch hervorhebt, soll in diesem Modell auch die demokratische Kontrolle der supranationalen Ebene nicht direkt, also etwa durch eine Aufwertung des Europäischen Parlamentes, sondern vermittelt über die einzelstaatlichen Parlamente erfolgen. Der Hintergrund dafür ist, dass ich die bisherigen Versuche, trans- oder supranationale Entscheidungsbefugnisse demokratisch nicht nur zu verfassen, sondern auch demokratisch zu bestimmen, für größtenteils gescheitert ansehe. Die Diskussion über das europäische Demokratiedefizit verfolgt uns seit nunmehr über 20 Jahren und die in vielen Beiträgen zum Ausdruck kommende Philosophie des „Noch-Nicht“ hat bislang wenig an dem notorischen Defizit der EU geändert. Um nun zu verhindern, dass der europäische Supranationalismus sich noch weiter zu einem Elitenprojekt mit einer bloß formal-demokratischen Legitimation entwickelt, habe ich am Ende des Buches ein Vorschlag skizziert, der die nationalen Parlamente zum zentralen − aber nicht alleinigen − Ort demokratischer Legitimität erhebt und die supranationale Ebene an diese zurückbindet. Dass dieser Vorschlag auf Vorbehalte stoßen und als allzu defensiv empfunden werden würde, ist mir bei der Niederschrift durchaus bewusst gewesen. Doch insofern die politisch-kulturelle Basis für eine europaweite Demokratie nicht existiert, erscheint mir diese defensive Vorgehensweise aus einer demokratietheoretischen Sicht überzeugender zu sein.
Wie ich hoffentlich in dem Buch verdeutlicht habe, schließt mein konföderales Modell die weitere Genese supranationaler Öffentlichkeiten und Solidaritäten nicht aus, doch sollte deren Belastbarkeit realistisch eingeschätzt werden. Ansonsten droht eine Art idealistischer Fehlschluss, der einem weiteren Souveränitätstransfer auf die supranationale Ebene das Wort redet, dabei die nationalstaatliche und auch regionale Basis der Demokratie weiter aushöhlt, aber keinen wirklichen Ersatz auf der supranationalen Ebene liefert. Am Ende ihres Beitrages wirft Hausteiner mir vor, eine „eher in die Vergangenheit weisende Idee“ zu verfolgen. Damit trifft sie einen zentralen Punkt. Wie Michael Th. Greven einmal in einem wichtigen Aufsatz geschrieben hat, muss man sich die Frage stellen, ob die Demokratie jemals „modern“ gewesen sei. Ich verstehe mein Buch auch als Versuch, einen Kompromiss zwischen den Herausforderungen des Modernisierungsprozesses und dem ideengeschichtlich älteren Demokratieprinzip zu finden.
Kerstin Kock wirft in ihrem anregenden Beitrag eine Reihe weiterführender Fragen auf. Wenn ich recht sehe, dann laufen diese insgesamt erstens auf das Programm einer politischen Soziologie globaler Herrschaftsausübung hinaus. Zweitens stellt Kock aber zumindest implizit auch die Frage, inwieweit demokratische Herrschaftsausübung im Nationalstaat notwendig exklusiv sein oder sogar auf Praktiken der globalen Ausbeutung beruhen muss. Dabei handelt es sich um Aspekte, die ich − zugegebenermaßen − in meinem Buch nur am Rande und eher postulatorisch thematisiert habe. Das ist wesentlich dem Format und der im engeren Sinne demokratietheoretischen Zuspitzung, sicherlich auch dem europapolitischen Fokus der letzten Kapitel geschuldet. Insgesamt sehe ich bei den meisten von Kock aufgeworfenen Fragen und benannten Herausforderungen eher ein Ergänzungsverhältnis als eine dezidierte Kritik meiner Argumente und den daraus abgeleiteten Forderungen. Das betrifft insbesondere die auch von mir geäußerte Kritik neoliberaler Vergesellschaftungspraktiken, deren räumliche Dimension allerdings − wie Kock zu Recht hervorhebt − noch viel ausführlicher untersucht werden müsste, als ich es in dem Buch getan habe.
Eine größere inhaltlich Differenz sehe ich lediglich in der rhetorischen Frage, ob „das Rückbauprojekt nicht möglicherweise, wenn auch ungewollt, national-autoritäre Formen“ annehmen könnte. Einer der wichtigsten Anstöße, mich mit der Thematik der „Größe der Demokratie“ zu befassen, war die These, dass sich die gegenwärtig zu beobachtenden nationalistischen und rassistischen Tendenzen in weiten Teilen Europas auch auf die räumliche Grammatik neoliberaler Herrschaftsausübung zurückführen lassen. Zugleich bin ich im Laufe der letzten Jahre immer skeptischer gegenüber den Möglichkeiten einer umfassenden „Demokratisierung“ der Europäischen Union geworden. Meine Auffassung ist vielmehr, dass gerade eine weitere Intensivierung des Supranationalismus noch stärkere „national-autoritäre“ Gegenreaktionen hervorrufen, zumindest aber der neoliberalen Herrschaftsausübung als Feigenblatt dienen könnte. Das hat mich zu der Forderung geführt, wirtschaftliche und finanzpolitische Kompetenzen zumindest teilweise in die Entscheidungsgewalt nationaler und regionaler Parlamente zurück zu verlagern, was die Kritik von Sebastian Huhnholz hervorruft.
Huhnholz‘ Beitrag zeichnet sich in der zweiten Hälfte durch eine scharfe Polemik aus. Daher fällt es schwer, darauf konstruktiv zu reagieren. Zunächst einmal ist es erforderlich, Missverständnisse auszuräumen. Ich wollte weder, „Protektionismus, Dirigismus und Isolationismus“ das Wort zu reden, noch bin ich ein Anhänger des „asketischen Sittlichkeitssinn[s] des republikanischen Subsistenzideals“, wie Huhnholz insinuiert. Worum es mir in dem sechsten Kapitel geht, lässt sich als die Zurückgewinnung der ökonomischen Gestaltbarkeit bezeichnen. Leitend dafür ist ein klassisch sozialdemokratisches oder wenn man möchte auch keynesanistisches Politikverständnis. Deren Umsetzung wird jedoch, wie umfangreich belegt worden ist – etwa von Wolfgang Streeck oder von Fritz Scharpf – und ich im vierten Kapitel des Buches ebenfalls zu zeigen versuche, durch die vier Grundfreiheiten des Marktes erheblich eingeschränkt. Und es spricht Einiges dafür, die wachsende Unzufriedenheit großer Teile der europäischen Bevölkerung, man denke nur an die Gelbwesten-Proteste oder die hohe Zustimmung zu rechtspopulistischen bzw. nationalkonservativen Parteien, zumindest auch darauf zurückzuführen, dass nicht nur die soziale Ungleichheit zugenommen hat, sondern sich auch der Eindruck bei vielen verstetigt, anonymen Mächten schutzlos ausgeliefert zu sein.
Sicher, gerade die europäischen Strukturfonds und zu einem gewissen Grad auch der gemeinsame Binnenmarkt haben erheblich zur Wohlfahrtsmehrung in den Ländern im Süden und Osten Europas beigetragen. Zugleich sollte aber auch nicht unterschlagen werden, dass spätestens mit der Eurorettungspolitik eine Dynamik in Gang gesetzt wurde, die Anlass gibt, mit Blick auf die europäischen Finanz- und Wirtschaftsordnungen von autoritären Strukturen, und zwar sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht zu sprechen. Vor diesem Hintergrund zielt die Argumentation des sechsten Kapitels insgesamt auf eine Lockerung, wohlgemerkt nicht notwendig auf eine völlige Abschaffung, des europäischen Wirtschafts- und Währungsregimes. Dahinter steht die Überzeugung, dass nur auf diesem Weg eine gleichermaßen demokratieschonende wie sozial ausgleichende Politik möglich ist. Dieser Argumentation tritt Huhnholz nun unter anderem mit dem Verweis auf Alexander Hamilton entgegen.
Nun ließe sich lange über die Bewertung von Hamiltons Agieren als Finanzminister streiten. Sicherlich hat seine Politik mit zur wirtschaftlichen Dynamik in den ersten Jahren des Bestehens der USA beigetragen. Auf der anderen Seite darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass Hamilton eine Klientelpolitik zugunsten der „big moneyed men and the rich merchants“, so Gordon S. Wood, betrieben hat. Und gerade um dies zu ermöglichen, befürworteten die Federalists die Verlagerung von Kompetenzen auf die bundesstaatliche Ebene. Die Ausdehnung des Herrschaftsraumes sollte die „excesses of democracy“ (Wood) eindämmen, insbesondere ging es darum, „den wilden Forderungen nach Papiergeld, nach Annullierung der Schulden, nach gleicher Eigentumsverteilung“, wie Madison am Ende von Federalist Nr. 10 schreibt, effektiv entgegentreten zu können. Ziel war also gerade keine „Binnenbalance“ zwischen Finanzverfassung und einer „räumlich extensiven Massendemokratie“, wie Huhnholz behauptet. Ganz im Gegenteil, die Ausdehnung des Raumes sollte dafür Sorge tragen, dass die „wilden Forderungen“ regional verpuffen bzw. durch die Zentralgewalt bekämpft werden können, wie es dann auch 1794 bei der wesentlich von Hamilton betriebenen Niederschlagung der sogenannten Whiskey-Rebellion geschehen ist. Aber es ist hier nicht der Ort, um sich in historischen Details zu verlieren.
Systematisch relevant ist vielmehr eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Argumentation der Federalists und dem Aufsatz Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse Friedrich August von Hayeks von 1939, den Streeck nicht ganz zu Unrecht als eine Art Blaupause für die europäische Wirtschaftsverfassung bezeichnet hat. Denn auch Hayek setzt auf die Vergrößerung des Wirtschaftsraumes, um Kapitalinteressen vor „demokratischen Exzessen“ schützen zu können. Sein Hauptargument besagt erstens, dass durch eine supranationale Konstitutionalisierung wirtschaftlicher Prozesse, demokratische Mehrheiten − etwa mit Forderungen nach Steuerhöhungen, öffentliche Schulden oder Arbeitsschutzmaßnahmen − ins Leere laufen. Zweitens argumentiert Hayek, dass sich auf der supranationalen Ebene kein gemeinsamer demokratischer Wille herausbilden könne, dafür seien die nationalen Kulturen und Egoismen zu stark ausgeprägt. Angesichts des derzeitigen Zustandes der EU muss man leider eingestehen, dass Hayek größtenteils Recht behalten hat. Ein gemeinsamer demokratischer Wille, der etwa zu einer sozialstaatlichen Einbettung des europäischen Marktes führen könnte, ist weiterhin wenig wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund laufen Huhnholz’ Vorschläge darauf hinaus, sich auf der vermeintlich normativ richtigen, zumindest weniger angreifbaren Seite zu verorten, in der Konsequenz aber alles beim Alten zu lassen.
Eine Anmerkung sei mir zum Schluss noch gestattet: Angesichts der ökologischen Herausforderungen könnte der „asketischen Sittlichkeitssinn des republikanischen Subsistenzideals“ schneller auf der Tagesordnung stehen, als Sebastian Huhnholz und mir lieb ist.
Dirk Jörke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt.
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