theorieblog.de | „Solange eine Universität lebt, lebt sie von ihrem Geist“

1. Juli 2019, Regina Schidel

Akademischer Philosoph und öffentlicher Intellektueller – im Vortrag anlässlich seines 90. Geburtstages an der Goethe-Universität Frankfurt hat Jürgen Habermas eindrücklich unter Beweis gestellt, dass er beides wie kein anderer in einer Person verkörpert. In der ersten Rolle hielt er einen luziden Vortrag zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit mit Blick auf die drei Geistesgrößen Kant, Hegel und Marx, um dann in der zweiten Rolle wissenschaftspolitisch klar Stellung zu beziehen: das philosophische Denken sei dann bedroht, wenn Zweckrationalität und Systemzwänge zu den bestimmenden Prämissen der Institution Universität werden.

Zu Beginn seines Vortrags entschuldigte sich Habermas bei all jenen, die gekommen seien, um einen feuilletonistischen Intellektuellen zu erleben – es erwarte sie stattdessen ein fachphilosophischer Vortrag und tagesaktuell werde es allenfalls in den letzten fünf Minuten. Die hatten es dafür umso mehr in sich: direkt an die Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt Prof. Brigitta Wolff gewandt, warnte Habermas davor, das Erbe der Frankfurter Schule zu verspielen. Nur unter entgegenkommenden Bedingungen könne das kritische interdisziplinäre Denken, wie es in Frankfurt eine einzigartige Tradition hat, gedeihen. Pointiert formulierter er: „Eine Universität ist mehr als eine vom Wissenschaftsrat evaluierte Anstalt für Forschung. Solange eine Universität lebt, lebt sie von ihrem Geist.“

Der Genius loci, den Habermas mit diesen Worten beschwor, die vom Publikum begeistert mit standing ovations aufgenommen wurden, war während des ganzen Vortrags spürbar. Betitelt war er mit „Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“.  Er griff damit ein Thema auf, das einen wichtigen Rang in Habermas‘ Oeuvre einnimmt, nämlich Hegels Kantkritik und ihre konstitutive Rolle für die Entwicklung der Diskursethik. Bereits 1985 hatte er sich damit in dem Aufsatz „Moral und Sittlichkeit. Hegels Kantkritik im Lichte der Diskursethik“ auseinandergesetzt und wie damals machte er auch jetzt den Kantischen Universalismus gegen Hegels Einwände und dessen Gegenentwurf einer historisch in Lebensformen verankerten „Sittlichkeit“ stark. Die Stoßrichtung seines Vortrags war nun jedoch eine etwas andere als in dem Aufsatz vor gut 30 Jahren. War es ihm damals darum gegangen, Kants kategorischen Imperativ aus der Sphäre der Metaphysik in den sozialen Raum der Intersubjektivität zu holen, zielte er jetzt stärker auf die politische Gegenwart ab und formulierte die Notwendigkeit einer „politischen Kultur als neue Sittlichkeit“, deren es bedürfe, um gegenwärtigen Herausforderungen wie dem globalen Finanzkapitalismus begegnen zu können. Das bedeute aber keineswegs, dass doch Hegel den Sieg über Kant davontragen würde. Vielmehr zeigte sich Habermas überzeugt davon, dass die demokratische Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern sowie die allgemeinen Menschenrechte nur aufgrund der Detranszendentalisierung des Kantischen Vernunftrechts möglich seien.

Dieser Versuch, differenziert zwischen Kant und Hegel zu vermitteln und sich nicht auf ein ausschließliches entweder – oder festzulegen, wie es sonst gegenwärtig in der Philosophie gang und gäbe ist, macht Habermas‘ Ansatz so spannend. Die Rekonstruktion von Kants „nicht ganz so leichtem“ Autonomiebegriff – so griff Habermas nach der Unterbrechung durch einen falsch ausgelösten Feueralarm seinen Vortrag wieder auf – ist dafür grundlegend. Habermas zeichnete nach, wie sich die Kantische Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft – freilich schon diskurstheoretisch gewendet – verstehen lässt: moralische Handlungsnormen müssen darauf hin geprüft werden, dass sie im Interesse aller Betroffenen gelten können. Die Bindung der Willkür an die moralische Gesetzgebung könne dabei dem Vernunftwesen nicht einfach aufgezwungen werden, vielmehr sei auch eine volitive Komponente als wichtiger Teil von Freiheit im Spiel. Das vernünftige Subjekt muss sich von den als richtig erkannten Gründen binden lassen, so Habermas. Gegenüber der Moralität der Idee vernünftiger Freiheit, in der Wollen und Sollen in eins fallen, stelle die Legalität bei Kant dagegen nur ein Spiegelbild da.

Das ändert sich mit Hegel. Dieser holt das Kantische Reich des Intelligiblen in die historische Zeit und den sozialen Raum zurück; damit wird das moralische Urteil in konkrete Bildungsprozesse eingebettet. Doch mit dieser Aufwertung konkreter sittlicher Lebensformen sah Habermas auch ein Problem verbunden: das individuelle Subjekt büße seine Autonomie gegenüber einem als objektiv begriffenen Geist ein, der sich in der Sittlichkeit von Lebensformen manifestiert. Die Perspektive des beteiligten und sich selbst befragenden Subjekts werde bei Hegel von der Rolle des theoretischen Beobachters abgelöst, der die sittliche Verfassung eines existierenden Gemeinwesens unter normativen Gesichtspunkten betrachtet. Habermas gestand zu, dass Hegel wohl empirisch recht habe, dass sich die Moral nur im Kontext gemeinsamer Lebensformen verwirklichen könne, trotzdem lasse sich seiner Einschätzung nach daraus noch kein Vorrang normativer Sittlichkeit ableiten. Denn Hegels Misstrauen gegenüber der Selbstermächtigung des Subjekts, gegen dessen Recht, moralisch autonom über gerecht und ungerecht zu urteilen, sei letztlich nur der Versuch, die Moderne mit antiken metaphysischen Rechtsvorstellungen zu versöhnen. Auch wenn Hegel das Verdienst zukomme, Kants Perspektive detranszendentalisiert und in die soziale Wirklichkeit überführt zu haben, behalte mit dem modernen demokratischen Verfassungsstaat und der moralischen Sprengkraft der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte doch gleichsam Kant recht.

Wo Kant zu metaphysisch bleibt und Hegel das Subjekt unterschätzt, könne schließlich der Blick auf Marx weiterhelfen. Dieser entdecke eine soziale Macht, die sich im Herzen der Sittlichkeit verkapselt und zur Gewalt werden kann. Die Sphäre der Sittlichkeit, Hegels „zweite Natur“ gerate somit unter Ideologieverdacht, indem durch eine nicht legitimierte Herrschaft die politischen Subjekte am vernünftigen Gebrauch ihrer Freiheit gehindert werden und damit der Raum der Gründe selbst ideologisch verzerrt werde. Habermas hielt Marx am Ende jedoch für so fatalistisch wie Hegel, wenn er die Geschichte teleologisch interpretiert und davon überzeugt ist, dass die ökonomischen Krisen der bürgerlichen Gesellschaft schließlich zu einer neuen Form von sozialer Integration führen werden.

Dagegen stellte Habermas als „philosophisch nachdenklicher Wissenschaftler“, wie er sich selbst bezeichnete, die Notwendigkeit einer gemeinsamen politischen Kultur, die zwar eine neue Form der Sittlichkeit darstellt, jedoch weder in Fatalität noch in Teleologie münde, sondern vielmehr als verfassungspatriotisches Gewebe von Wertorientierungen zu verstehen sei, das sich aus Erfahrungen im produktiven politischen Streit speist. Diese durch staatsbürgerliche Solidarität gekennzeichnete liberale politische Kultur verbinde Moralität und Sittlichkeit, wobei die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte die Führung behalten müssten.

Der Vortrag hinterließ den Eindruck, als führe Habermas selbst noch einmal durch sein monumentales Werk – die zentralen Ideen seiner Diskursethik wie auch seiner Theorie des kommunikativen Handelns wurden durch das Gespräch zwischen Kant, Hegel und Marx plastisch inszeniert und auch seine rechtstheoretischen Überlegungen aus Faktizität und Geltung erhielten durch den Appell für eine verfassungspatriotische politische Kultur jenseits nationaler Egoismen eine höchst relevante Aktualisierung. Ein zutiefst beeindruckender Auftritt – die Worte der Staatssekretärin Ayse Asar vom „größten lebenden Philosophen“ übertrieben kein bisschen.

 

Regina Schidel ist Doktorandin am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Promotionsstipendiatin der Leibniz-Forschungsgruppe “Transnationale Gerechtigkeit” unter der Leitung von Rainer Forst. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Begriff der Menschenwürde und der Frage, wie rational und autonom stark eingeschränkte Menschen in einer rechtfertigungsbasierten Gerechtigkeitstheorie angemessen zu berücksichtigen sind.


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