theorieblog.de | Die Zukunft der Solidarität – (keine) zwei Meinungen

21. Juni 2019, Wachinger & Wallaschek

„Solidarität“ ist, nicht zuletzt im Kontext der diversen ‚Krisen‘ der jüngeren Vergangenheit, in aller Munde und erfährt auch aus politik- bzw. sozialwissenschaftlicher Perspektive (wieder) zunehmend Aufmerksamkeit. Deshalb kann es nicht überraschen, dass auch Heinz Budes jüngst unter dem Titel „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ (Hanser 2019, 176 Seiten) veröffentliche Überlegungen eine rasche Rezeption erfahren haben. Hier auf dem Theorieblog schlägt sich dies darin nieder, dass wir mit einer ‚doppelten‘ Lesenotiz von Stefan Wallaschek und Marie Wachinger gleich zwei Perspektiven auf Budes Buch bekommen. Wie immer dürfen natürlich aber auch hier weitere Eindrücke gerne im Kommentarbereich ergänzt werden.

 

Solidarität als ‚aktive Indifferenz‘?

Krisenzeiten sind Solidaritätszeiten. Es scheint einen engen Zusammenhang aus erfahrener Krise und der zunehmenden Anzahl an Solidaritätsforderungen und -bekundungen in der öffentlichen Debatte zu geben. Im deutschen und europäischen Kontext mag dies zu einem gewissen Teil daran liegen, dass multiple Krisen (Eurokrise, Migrationskrise, Brexit, Klimakrise) erlebt wurden und ‚mehr Solidarität‘ als Lösung präsentiert wurde. Die akademische Debatte um Solidarität scheint dies zu reflektieren, da die Solidaritätsforschung in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. Der Soziologe Heinz Bude versucht mit seinem jüngsten Essay die Idee der Solidarität einem breiteren Publikum näherzubringen.

Bude beginnt mit der Feststellung, dass „eine Sprache der Solidarität für dieses Elend im Reichtum“ fehle (S. 9). Die Individualisierung sowie der Kapitalismus würden den sozialen Zusammenhalt in gegenwärtigen Gesellschaften einschränken. Überdies plädieren rechte Gruppierungen für eine ‚exklusive Solidarität‘, wodurch linken Kräften eine eigene Sprache der Solidarität abhandengekommen sei. Heinz Bude lässt sich in seinen Ausführungen zu Solidarität von Albert Camus inspirieren, insofern er für eine „aktive Indifferenz“ (S. 10) gegenüber Solidarität plädiert. Daher geht es Bude explizit nicht darum, Solidarität zu verteidigen oder dafür zu argumentieren. Er möchte aus einer Position der Gleichgültigkeit heraus die begrifflichen Grenzen und Möglichkeiten solidarischen Handelns ausloten. Im Nachfolgenden möchte ich Budes Argumentation knapp rekonstruieren, bevor ich drei Kritikpunkte anbringe. In meiner Kritik werde ich auf den theoretischen Gehalt von Solidarität bei Bude eingehen sowie semantische und argumentative Unklarheiten im Buch aufzeigen.

Jedes der 12 Kapitel widmet sich verschiedenen Aspekten der Solidarität, wobei kein roter Faden in der Reihenfolge der behandelten Themen zu erkennen ist. Das erste Kapitel ist dem rational-choice Ansatz gewidmet und fragt, ob Solidarität überhaupt möglich ist oder nicht vielmehr immer von Selbstinteresse getrieben sei (und das ‚Trittbettfahren‘ rhetorisch als Solidarität verpackt würde). Das zweite Kapitel ist ideengeschichtlich das interessanteste, da es über die begrifflichen Ursprünge von Solidarität reflektiert. Bude fragt, wie die religiöse Idee der Gleichheit aller Gotteskinder für eine gegenwärtige Solidarität säkularisiert werde, inwiefern die rechtliche Fundierung von geteilter Schuld in ‚obligatio in solidum‘ begründungswürdig ist, wie tragfähig der Freundschaftsbegriff aus der Antike ist, wenn er doch Sklaven und Frauen nicht als Gleiche begreift und inwieweit die gewaltförmige Revolution gegen die Monarchie oder die Überwindung des Kapitalismus durch die ArbeiterInnenbewegung ein sinnvoller Bezugspunkt der Verbrüderung aller darstellt. Der Autor verwirft weder alle ideengeschichtlichen Grundlagen von Solidarität als unzureichend, noch macht er im Kapitel deutlich, für welche ideengeschichtlichen Grundlagen er schließlich plädiert. Damit mag Bude nah an die selbst präferierte ‚aktive Indifferenz‘ gegenüber Solidarität heranreichen. Für den Rezensenten stellt sich jedoch die Frage, warum das vorherige gelesen wurde und warum offenbar nichts aus der ideengeschichtlichen Rekonstruktion von Solidarität gelernt werden kann. Mit der Diskussion von Émile Durkheims klassischer Studie zur Arbeitsteilung in Kapitel 3 beginnt Bude eine Diskussion über institutionalisierte Solidarität. Das soziale Band zwischen Individuen hat sich von vormodernen Gesellschaften (mechanische Solidarität) zu modernen Gesellschaften gewandelt (organische Solidarität) und funktional ausdifferenziert. In modernen Gesellschaften identifizieren sich Individuen nicht mehr über Ähnlichkeit, sondern über Differenz.

Bude zeigt auch auf, dass Solidarität sehr voraussetzungsvoll ist. So baue Solidarität auf das reziproke Vertrauen, dass andere ebenso handeln, wie man selbst vorher gehandelt hat. Solidarität benötige eine gewisse soziale Zugehörigkeit, welche jedoch erst notwendig erscheint, wenn ihr Fehlen festgestellt würde. Und Solidarität setze auch eine gewisse Freiwilligkeit solidarischen Handelns voraus, während im Sozialstaat verpflichtende Institutionen wie die Sozial- oder Rentenversicherung wirken. Ebenso ist die organisierte Solidarität in Gewerkschaften nicht völlig zwangslos, wie Bude festhält. Erst durch die Geschlossenheit des Auftretens, die Einigkeit über gemeinsame Ziele und die Frontstellung gegen die ‚Herrschaft des Kapitals‘ entstehe die Motivation zur Solidarität. Dies führt jedoch auch zur Exklusion derer, die nicht mitmachen. Mit der Diskussion der Voraussetzungshaftigkeit von Solidarität, kommt Bude damit zum gleichen Schluss wie bereits Herfried Münkler 2004 als dieser darauf hinwies, dass Solidarität gewissermaßen dem Böckenförde-Theorem unterliege: Solidarität lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht erfüllen könne.

Heinz Bude diskutiert damit pointiert einige theoretische Problemlagen des Solidaritätsbegriffs und demonstriert seine umfangreiche Expertise, wenn es um Sozialpolitik und soziale Ungleichheit in Deutschland geht. Indem Bude jedoch am Ende eines jeden Kapitels weder das Diskutierte resümiert noch einen größeren theoretischen Rahmen herstellt, um die genannten Aspekte zu verbinden, bleibt unklar, was die Schlussfolgerung aus den jeweiligen Kapitel ist.

In einem etwas überraschenden Einschub (S. 91-134) behandelt der Autor in kurzen Kapiteln Themen, die eher am Rande mit Solidarität zu tun haben. Während der erste Teil zu kooperativem Verhalten, Empathie und Grenzen der Empathie (S. 91-114) noch zur begrifflichen Bestimmung von Solidarität gezählt werden kann, werden danach Fragen der Achtsamkeit behandelt und in welcher sozialen Beziehung wir Menschen zu Pflanzen stehen.

Im vorletzten Kapitel (S. 135ff) geht Bude auf den Gerechtigkeitsbegriff ein und während er lange über den Zusammenhang von Staat, Gerechtigkeitstheorie und Zivilgesellschaft referiert, bricht Bude auf S. 143 komplett mit dem Kapitelthema und widmet sich der AfD, diskutiert exklusive und inklusive Solidaritätsvorstellungen, die Erosion eines ‘Wir‘, bezieht sich auf verschiedene Solidaritätsbewegungen im 20. Jahrhundert (Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung) und diskutiert dabei v. a. den Frauenkampf für gleiche Rechte, Anerkennung und Selbstbestimmung.

Das letzte Kapitel (S. 150ff) widmet sich schließlich dem Zusammenhang zwischen Ungleichheiten und Solidarität. Bude zeigt auf, dass der Abnahme globaler Armut die Zunahme regionaler und nationaler Armut entgegenstehen. Ungleichheiten innerhalb von OECD-Staaten sind teils ebenso groß wie zwischen Industrieländern und Schwellenländern und ebenso wie der Reichtum nimmt auch die relative Armut in vielen Ländern zu. Dies wird von Bude dann als Belastung des solidarischen Bandes innerhalb von Gesellschaften bewertet. Der Autor legt die die sozialen Spaltungen dar, die sich quer durch Gesellschaften, Regionen und globale soziale Beziehungen ziehen. Damit tritt die Frage nach der Solidarität jedoch in den Hintergrund. Warum und wie der Zusammenhang zwischen steigender Ungleichheit und der Erosion von Solidarität zu verstehen ist, bleibt vage und wird von Bude nicht weiter expliziert.

Heinz Bude schließt mit einer existentialistischen These, die er sogar zum „wesentlichsten Satz zur Sache [deklariert]: Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.“. (S. 163) Was Solidarität damit ausmacht und wie sie sich von Nähe unterscheidet, bleibt unklar.

Mein erster Kritikpunkt ist die semantische Unschärfe im Buch. Was Solidarität zu ‚einer großen Idee‘ macht, wie es im Buchtitel heißt, wird trotz aller gegenteiliger Bekundungen des Autors, dass genau gesagt werden soll, worum es sich bei Solidarität handelt, nicht eingelöst. Vielmehr scheint Bude je Kapitel ein anderes Verständnis anzulegen ohne dieses kenntlich zu machen oder zu erklären, warum dies der Fall ist oder warum das notwendig sei. Es werden viele Aspekte, die in der theoretischen Diskussion um Solidarität eine Rolle spielen, angerissen (Freiwilligkeit, Empathie, Reziprozität, Institutionalisierung, Gerechtigkeit), aber es fehlt eine eingehendere Diskussion, welche Konsequenzen eine Fokussierung auf eine der Aspekte haben könnte. Überdies verwundert sehr, dass Fragen der europäischen oder transnationalen Solidarität kaum von Bude besprochen werden. Eurokrise, europäische Migrationskrise, Brexit oder auch die Klimakrise werden von ihm offenbar nicht als Krisen der Solidarität verstanden.

Mein zweiter Kritikpunkt ist argumentativ-stilistischer Art. Bude argumentiert weniger als dass er Feststellungen trifft, die kaum empirisch oder argumentativ unterfüttert werden („Im Zweifelsfall sind wir also alle Trittbrettfahrer“, S. 18 oder „Solidarität ist oft sinnlos fürs Ganze und teuer für mich selbst“, S. 163). Überdies sind die Kapitel argumentativ und inhaltlich teils wenig kohärent und konsistent. Bude springt in den Kapiteln zu verschiedenen Themen und es bleibt unklar, wie diese zusammenhängen oder warum diese behandelt werden müssten. So wird Sigmund Freud herangezogen, um eine Aussage von Marquis de Sade zur Französischen Revolution zu erklären (S. 27), die Organisationsmacht der Gewerkschaften erscheine als Foucaultsche „Pastoralmacht“ (S. 42) und Bude meint, dass das „Arbeitsleben also ein ‚gefährdetes Leben‘, um Judith Butler zu zitieren“, sei (S. 45), ohne dies weiter zu erläutern, nur um in den folgenden Absätzen zu anderen Themen und TheoretikerInnen zu referieren. Ebenso wird im Kapitel zur Anerkennung von Pflanzen im solidarischen Miteinander eine Kritik am ‚Unsichtbaren Komitee‘ geäußert. Bude kritisiert das humanistische und Mensch-bezogene ‚wir‘ des AutorInnen-Kollektiv (S. 133). Es wird jedoch nicht ersichtlich, warum gerade das AutorInnen-Kollektiv kritisiert wird.

Mein letzter Kritikpunkt ist, dass Bude die bisherige Solidaritätsforschung fast nicht zur Kenntnis nimmt. Es finden sich nur vereinzelt Verweise auf die aktuelle Forschung und allein Durkheim scheint relevant zu sein. Das suggeriert jedoch dem interessierten Publikum, dass nicht mit akademischen Zeitschriften und Büchern tagtäglich umgeht, dass Bude den Geistes- und Sozialwissenschaften aufzeigen würde, sich mehr mit Solidarität zu beschäftigen. Nun könnte eingewendet werden, dass in einem eher populärwissenschaftlichen Buch Quellen und Verweise auf ein Minimum reduziert werden, da es eher um die Kommunikation der Inhalte geht. Bei rund 200 Endnoten bei etwa 160 Seiten zeigt sich aber, dass Bude durchaus viele Verweise setzt. Aber eben nicht zur theoretischen und empirischen Solidaritätsforschung wie sie u.a. von Sally Scholz, Andrea Sangiovanni, Ashley E. Taylor, Kurt Bayertz, Michèle Knodt, Steinar Stjernø, Christian Lahusen oder Hauke Brunkhorst betrieben wird.

Damit bleibt die Arbeit von Heinz Bude weit hinter den Erwartungen zurück. Auch wenn sich einzelne Kapitel anregend lesen, Bude sein umfangreiches Wissen zum deutschen Sozialstaat und sozialer Ungleichheit sehr gut vermittelt und meist im letzten Teil des Kapitels interessante Fragen zu Solidarität aufwirft, bleiben in den meisten Fällen zentrale Fragen unbeantwortet und Begrifflichkeiten unklar. Besonders die Frage, welche Erkenntnisse und Argumente aus den jeweiligen Kapiteln zu ziehen sind, um eine Sprache der Solidarität zu entwickeln und wie diese sich zur existenzialistischen Kernthese am Buchende verhalten, wird von Bude nicht geklärt. Für TheoretikerInnen und IdeengeschichtlerInnen der Solidarität kann dies wiederum als Aufforderung verstanden werden, weitere Begriffsarbeit zu leisten und theoretische Debatten um Solidarität zu führen, um sie (auch) einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren.

 

Stefan Wallaschek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbundprojekt ‚SOLDISK – Solidaritätsdiskurse in Krisen‘ an der Universität Hildesheim und Doktorand an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS), Universität Bremen. Sein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit ‚Mapping Solidarity in Europe. Discourse Networks in the Euro Crisis and Europe’s MIgration Crisis‘.

 

 

Welche Solidarität?

Solidarität ist nicht nur auf eine Weise zu definieren – im Gegenteil: Der alltägliche Gebrauch des Begriffs ist voller Widersprüche. Ist zum Beispiel das gemeinsame Streiken für bessere Arbeitsbedingungen mit demselben Begriff gut beschrieben wie eine faire Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU? Oder das öffentliche Bekunden von Solidarität mit verfolgten Akademikerinnen und Akademikern in der Türkei mit der oft als Solidarität bezeichneten Loyalität unter Mitgliedern einer kriminellen Bande? Dass es kontroverse Verständnisse eines Begriffs gibt, ist bei vielen anderen großen Ideen ähnlich: Wer mehrere Menschen nach ihrem Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit oder Demokratie befragt, wird aller Voraussicht nach lauter unterschiedliche Antworten erhalten.

Bei „Solidarität“ jedoch gilt dies in besonders hohem Maße, was sicher teils daran liegt, dass der Begriff historisch betrachtet einen Bedeutungswandel vollzogen hat, dass er insgesamt (noch) nicht das gleiche Ausmaß an Aufmerksamkeit unter Theoretikerinnen und Theoretikern erfahren hat, und dass er in vielen unterschiedlichen Kontexten verwendet und daher ideologisch nur schwer eingeordnet werden kann.

Der Begriff droht inflationär zu werden: Große Worte, bei denen niemand so genau weiß, was sie bedeuten, klingen eben schnell leer. Internationale Solidarität wird eingefordert mit Appellen zur „Flüchtlingsverteilung“, zur „Rettung Griechenlands“, zu freiwilligen Handlungen, zur Unterstützung eines guten Zwecks oder angesichts einer Krisensituation. Doch auch als Lösung für das Problem unserer sich immer weiter spaltenden Gesellschaften und immer globaleren Krisen wird die Solidarität beschworen.

So auch im neuen Buch von Heinz Bude („Solidarität – die Zukunft einer großen Idee“). Laut Bude gibt es „keinen moralischen Zwang zu Solidarität“, obwohl sie sich „für das Zusammenleben als förderlich erweisen kann“ (S. 11) – sie sei also freiwillig. Sie basiere auf dem Mitgefühl, sei aber nicht als Synonym für Barmherzigkeit zu verwenden. Sie sei nicht dasselbe wie Gerechtigkeit, aber jeweils sei das eine für das andere notwendig. Und vor allem, schreibt Bude, sei sie Resultat der existenziellen Erfahrung des Alleinseins in der Welt: „Niemand muss solidarisch sein, man muss nur eine Ahnung davon haben, was man verliert, wenn man vergisst, was wir uns schulden“ (S. 33).

Bude vermisst Solidarität in der heutigen Arbeitswelt, die uns zur „Selbstsozialisation in Eigenbetrieblichkeit“ (S. 71) erziehe und sich daher von der (metaphorischen) Fabrik aus der sozialistischen Theorie unterscheide, die Solidarität einst zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern, geeint durch die unterdrückende Herrschaft der Bourgeoisie hervorbrachte. Er schreibt auch über die Nachkriegszeit und wie sie eine Quelle der Solidarität gewesen sei: „Der Vertrag, den die Überlebenden und Davongekommenen im Bewusstsein der Toten miteinander eingingen, beruhte auf dem Empfinden eines verborgenen Bandes“ (S. 82-83). Dieses Band habe, so Bude, sogar zwischen bestimmten Überlebenden und Tätern bestanden – darüber kann man sicher streiten.

Im Kontrast kritisiert Bude den Hype um Achtsamkeit, die uns in ihrer Ichbezogenheit nur noch indifferenter allem Gemeinsamen gegenüber werden lasse. Er beschreibt Solidarität, die nicht nur global ist, sogar über die Menschheit hinausgeht, indem er Donna Haraways neustes Werk über das Anthropozän und das Danach zitiert.

Es gibt also viele interessante Anhaltspunkte über Solidarität in diesem Buch: Sie scheint in vielen Lebensbereichen vonnöten zu sein, ob nun in der Arbeitswelt, im gesellschaftlichen Zusammenleben, sogar über Generationen hinweg. Auch dass Bude erwähnt, steigende Individualisierung verhindere eine stärkere Solidarität, ist ein Gedanke, der stärker ausgeführt werden könnte. Es bleibt jedoch insgesamt ein wenig diffus, ob Solidarität nun einfach eine Hilfeleistung ist oder eine spezifischere Art Handlung, eine emotionale oder rationale Haltung, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen wir solidarisch sein sollten und ob sie rein instrumentellen oder auch moralischen Wert hat. Die existenzielle Einsicht, allein nichts ausrichten zu können in der Welt, könnte beispielsweise darauf hindeuten, dass Solidarität Mittel zum Zweck (einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit) sei, doch stellt Bude sie gleichzeitig als etwas dar, das das Leben „reicher und lebendiger“ (S. 11) macht, was auf einen anderen, eigenständigen Wert hinweist.

Wie passt es außerdem zusammen, dass Solidarität laut Bude freiwillig, doch der Sozialstaat eine „Form institutionalisierter Solidarität“ (S. 45) ist? Ist nicht jede Institution höchstens das Echo einer ehemals freiwilligen solidarischen Handlung? Die Diskussion über die Freiwilligkeit von Solidarität sollte ferner verstärkt darauf eingehen, dass das Prinzip der Reziprozität ganz wesentlich für Solidarität ist: Ich muss mich darauf verlassen können, dass auch jemand für mich einstehen wird, wenn es nötig ist. Ansonsten ist es schwer, Solidarität von der reinen Mildtätigkeit abzugrenzen.

Zuletzt ist da die große Frage nach der Reichweite von Solidarität. Nicht zufällig wird solidarisches Verhalten oft zwischen kleinen oder homogenen Gruppen beschrieben, mit der Ausnahme von Émile Durkheim, der – wie Bude auch beschreibt – Solidarität als sozialen Zusammenhalt in Gesellschaften mit unterschiedlich stark ausgeprägter Arbeitsteilung definiert. Die Basis für Solidarität ist meiner Ansicht nach eine Gemeinsamkeit – ob nun ein gemeinsames Ziel, eine Eigenschaft, ein Projekt, oder eine Erfahrung. Das grenzt die Reichweite von Solidarität zwar ein, lässt sie aber auch konkret bleiben. Es wäre ja schließlich auch problematisch, für eine sehr große Gruppe von Menschen von weitreichenden Gemeinsamkeiten auszugehen: Das könnte dazu führen, dass innerhalb einer solchen Solidargemeinschaft einzelne Interessengruppen andere dominieren oder Minderheiten nicht zu Wort kommen. Eine solche Gefahr sehe ich beispielsweise im Fall der EU, wo oft unspezifisch für transnationale Solidarität plädiert wird, während sich viele Menschen, die nicht direkt von EU-Freizügigkeit und Binnenmarkt profitieren, von gerade dieser EU im Stich gelassen fühlen. So etwas kann auch entgegengesetzte Effekte wie steigenden Nationalismus oder Fragmentierung haben. Spezifischere Solidaritätsprojekte, ob nun für eine gerechtere Besteuerung oder bei der Bewältigung von gemeinsamen Herausforderungen wie Migration oder Klimawandel halte ich für aussichtsreicher. Dadurch wird aber auch höchst fraglich, ob die existenzielle Erfahrung des Menschseins genügend normative Kraft für eine solidarische Gemeinschaft auf globaler Ebene mit sich bringt.

Wenn Bude sagt, es gebe ein Bedürfnis nach Solidarität, in einer Gemeinschaft zu sein, „wo wir zugleich losgelöst, unterschieden und gebunden sein können“ (S. 56), ist es ein progressives, inklusives Bild von Solidarität, ganz anders als das, das manchmal von nationalistischer oder rechtspopulistischer Seite propagiert wird (Stichwort „Wir sind das Volk“). Er hat Recht damit, für ein neues „Wir“ zu plädieren, das „experimentell, ungesichert, verhalten“ sei und „jederzeit von einer Vergangenheit der Gewalt, der Ignoranz und des Verrats heimgesucht werden“ (S. 114) könne. Das Buch leistet damit einen Beitrag dazu, den Begriff der Solidarität weg von den Sonntagsreden und hin zum Hier und Jetzt zu führen. Doch um nicht in die Falle der konzeptionellen Leere zu tappen, hätte ich mir ein wenig mehr Tiefgang gewünscht.

 

Marie Wachinger promoviert an der Freien Universität Berlin zum Begriff der Solidarität in Bezug auf die Europäische Union.


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