theorieblog.de | „An unexpected source of power“: Nicole Doerrs Entdeckung politischer Übersetzung für deliberative Theorie und Praxis

22. Mai 2019, Schwenk

Nicole Doerr (2018). Political Translation. How Social Movement Democracies Survive. Cambridge University Press.

Nicole Doerrs Buch Political Translation analysiert nicht nur Machtverhältnisse in basisdemokratischen, mehrsprachigen Gruppen. Es erforscht auch ein Handlungsmodell, das solidarische Verständigung über Subjektpositionen hinweg ermöglicht: Politische Übersetzung. Als empirisch verankertes Konzept zeigt politische Übersetzung, dass gemeinsames Erwägen und Entscheiden (lat. deliberare) weder eine „realpolitisch nicht umsetzbare Utopie“ bleiben muss, noch eine bloße Inszenierung demokratischer Abläufe bei gleichzeitiger Durchsetzung harter Interessen. Political Translation ist ein bedeutsames Plädoyer für deliberative Verfahren – und steht im Kontrast zu den zunehmend fatalistischen, zynischen und autoritären Antworten auf die Probleme demokratischer Repräsentation und Entscheidungsfindung.

Miss-Verständigungen durch gesellschaftliche Machtverhältnisse

Doerrs demokratische Antwort auf das egalitäre Defizit von öffentlicher Deliberation ist dringlich, da Problematisierungen von Sprechpositionen längst nicht nur akademische und radikal aktivistische Zirkel aufwirbeln. Dass manchen Sprechenden qua der vergeschlechtlichten und rassifizierten gesellschaftlichen Verhältnisse mehr Gehör geschenkt wird als anderen, ist zentrales Motiv in verschiedenen Kulturproduktionen, so auch im vielverkauften Romanwerk von Elena Ferrante. Sie schildert literarisch jene Erfahrungen des Nicht-Gehört-Werdens, auf die Nicole Dörr in ihrer empirischen Forschung immer wieder stößt. Ein anschauliches Beispiel bietet die Schilderung einer Streikorganisation in einer Wurstfabrik im Neapel der 1970er Jahre. Die Fabrikarbeiterin Lila gibt solidarisch gesinnten linken Studierenden ihre detaillierten Aufzeichnungen über den Arbeitsalltag in der Fabrik. Obwohl letztere, wie der Roman schildert, Lila wirklich als Gleichberechtigte behandeln wollen, scheitert die Zusammenarbeit. Bei allen taktischen Entscheidungen wird Lila nicht mehr gehört. Dieses Nicht-gehört-werden ist doppelter Art. Nicht nur wird Lilas Stimme in Diskussionen über zentrale Entscheidungen marginalisiert. Auch die Prekarität ihrer Situation und das von ihr eingegangene Risiko werden ausgeblendet. Die Aktion führt zu blutigen Auseinandersetzungen und Lila verliert ihren Job. Sie entrinnt der drohenden Armut letztlich durch einen Deal mit der Camorra, von den Streikorganisator_innen hält sie sich danach fern.

Auch in Political Translation gründet die entmächtigende Erfahrung von Aktivist_innen, in einem doppelten Sinne nicht gehört zu werden, weniger in einer bewussten Entscheidung von Privilegierten nicht zuzuhören, als in ihrer Unfähigkeit, sich in andere Subjektpositionen und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Begrenzungen hineinzuversetzen (S. 7 & 29). Deshalb spricht Doerr von positional misunderstandings, also Miss-Verständigungen, die dominanten, aber weitgehend unreflektierten Sprechpositionen geschuldet sind.

Die Entdeckung politischer Übersetzung

Auf solche Miss-Verständigungen, durch die die Argumente marginalisierter Subjektpositionen als nicht relevant abgestempelt werden, trifft Nicole Doerr wiederholt als teilnehmende Beobachterin der Vorbereitungstreffen von Sozialforen für globale Gerechtigkeit während der 2000er. Im ersten Kapitel zeigt sie wie diese vor allem auf nationaler Ebene die Koalitionen aus linken sozialen Bewegungen und NGOs scheitern lassen. Bei einem mehrsprachigen Vorbereitungstreffen für das europäische Sozialforum 2003 in Paris entdeckt sie hingegen das transformative Potential von Simultanübersetzer_innen, die solche Pattsituationen verhindern können. Als die Moderation des Treffens wiederholt auf autoritative Weise einen Antrag ignoriert, der Delegationsplätze für Einwander_innen ohne deutschen Pass fordert, stellt das freiwillige Übersetzungskollektiv aus Protest gegen die Moderation seine Arbeit ein. Doch ohne Simultanübersetzung kann die Sitzung nicht fortgeführt werden. Das Druckmittel und die empathisch geführten Verhandlungen des Kollektivs haben Erfolg: teilnehmende deutsche Gewerkschaften und linke Parteien geben zwei „ihrer“ Listenplätze auf, so dass dem Antrag der vormals ignorierten Sprecherin stattgegeben werden kann (S. 15 & 42).

Die Bedingungen erfolgreicher politischer Übersetzung

Kapitel zwei bis vier loten die Möglichkeiten und Grenzen politischer Übersetzung aus. Kapitel zwei vergleicht die gescheiterte Organisation des deutschen Sozialforums mit jener erfolgreichen des US-amerikanischen Sozialforums in Atlanta 2007. In beiden Fällen droht die Finanzierung durch institutionalisierte Akteure die Koalitionen zu spalten. Im deutschen Fall beschließen die professionalisierten NGOler und Gewerkschaftler „Wolfgang, Harald und Peter“ in Eigenregie den Veranstaltungsort des deutschen Sozialforums, was zum Scheitern der Koalition führt. Dass die professionalisierten US-amerikanischen Organisator_innen externe Finanzierung ablehnen, da dies viele Graswurzel-Vereinigungen ausschließen würde, rettet die Koalition. Diese Strategie, die mit einer freiwilligen Machtabgabe an Aktivist_innen aus Graswurzel Vereinigungen einhergeht, geht auf. Das US-Sozialforum findet unter federführender Beteiligung von „minority groups and resource-poor local activists“ statt. Es ist politisch und medial damit so erfolgreich, dass zivilgesellschaftliche Sponsoren sich an zukünftigen Foren unbedingt beteiligen wollen (S. 76-77).

Kapitel drei und vier analysieren zwei Bürgerforen in einer kalifornischen Kleinstadt im Großraum Los Angeles. Die meisten Einwohner arbeiten als Dienstleistungsangestellte, ein Fünftel lebt unterhalb der Armutsgrenze. 70 % sind Latinos, von denen viele nicht gut genug Englisch sprechen, um sich in der Fremdsprache politisch zu engagieren. Ein bilinguales Bürgerforum, ins Leben gerufen durch die Initiative dreier engagierter Stadtverordneter, soll dies ändern. Doch die Deliberation über ein Infrastrukturprojekt, das potentiell Mieterhöhungen mit sich bringt, wird so in die Länge gezogen, dass über die Gefahr von Mieterhöhungen nicht mehr verhandelt werden kann. Es stellt sich im Nachhinein heraus, dass die engagierten Stadtverordneten direkt an der Umsetzung des Projekts verdienen. Kapitel vier kontrastiert das städtische Forum mit SABAH, einem bilingualen Bürgerforum, das sich aus Protest zu Ersterem formiert. SABAH wird gerade für die an der Armutsgrenze lebenden, zum politisierenden Sammelbecken. Dass sie sich hier gehört fühlen, ist der kleinteiligen Arbeit politischer Übersetzer_innen zu verdanken. SABAH erwirkt erhebliche Zugeständnisse der Stadtverordneten bezüglich der Ausgestaltung des Infrastrukturprojekts. Doch vor allem erweitert es den Kreis an Latinas, die für ihre Community eintreten und nach den Prinzipien des politischen Übersetzens andere dazu ermuntern (S. 101 & 118).

Wie politische Übersetzung funktioniert

Doerr zeigt durch einen ethnographischen Vergleich ein- und mehrsprachiger Deliberationen, dass Vielsprachigkeit eine gute Voraussetzung für demokratischere und inklusivere Deliberation ist. Denn die Erfahrung des Nicht-verstanden-werdens der Teilnehmenden, erleichtere deren Sensibilisierung für merkmalsbezogene Unterschiede (class, race, gender) und deren Einfluss auf Verständigung. Doch es bedarf des Dazutuns von Übersetzer_innen, die dann einschreiten und parteiergreifend und damit politisch agieren, wenn jene mit dominanten Sprechpositionen ihre privilegierte Rolle nicht genügend reflektieren und Positionen gesellschaftlich Benachteiligter marginalisieren (S. 9 & 11). Politische Übersetzer_innen eskalieren den Konflikt nicht, sondern wachen als Justitia ohne Augenbinde über die egalitären Spielregeln. Politisches Übersetzen bedeutet das Einfordern der egalitären Überzeugungen im basisdemokratischen Alltag. Es soll Einsicht in und Reflektion über die eigenen historisch-gesellschaftlichen Privilegien und Sprechgewohnheiten durch bewusstseinsbildende Maßnahmen in Vorbereitungsworkshops, am Einlass zu Diskussionsrunden oder während Kaffeepausen fördern (S. 61-64). Die bewusste Aufgabe der so genannten neutralen Moderation und Organisation bedeutet auch Barrieren der Teilnahme abzubauen: Symbolisch-intellektuelle (durch die Erklärung von Fachbegriffen und einen Verzicht auf legalistische Sprechweisen), materielle (durch Kostenübernahme für ökonomisch schwächer Gestellter) und lokale (durch Veranstaltungsorte, die für alle sicher und zugänglich sind, unabhängig von Aussehen und Staatsbürgerschaft) (u.a. S. 67; 106; 157). Politisch Übersetzen heißt also die gesellschaftlich bedingte, und oftmals ungewollte, Hierarchisierung von Sprechpositionen auszugleichen, um günstigere Bedingungen für ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Miteinandersprechen zu schaffen (S. 124/125).

Wer ist wann politsche_r Übersetzer_in?

Leider bleibt es in Doerrs detaillierter Arbeit teils unklar, wer, wann und warum den Status eines politischen Übersetzers/ einer politischen Übersetzerin zugeschrieben bekommt. Diese fehlende Konzeptualisierung fällt vor allem in Kapitel drei ins Auge, wenn Stadtverordnete mit einem augenscheinlichen Interesse an Latino-Wählerstimmen (in einem Ort, in dem Latinos 70% der Bevölkerung ausmachen) als politische Übersetzer_innen gehandelt werden. Der Wettbewerb um politischen Einfluss und ökonomische Macht unter den Stadtverordneten überschneidet sich hier mit ihrem Interesse, basisdemokratische Partizipation und die Einbindung der Latinas in politische Prozesse zu fördern. Zwar hat das Kapitel klar die Funktion, die korrumpierende Wirkung jener Verflechtung in Machtverhältnisse aufzuzeigen (S. 79). Jedoch bleibt unklar, warum die Stadtverordneten dazu als politische Übersetzer_innen gehandelt werden müssen. Ein ähnliches Problem zeigt sich in der Analyse des Verhaltens von „Harald, Wolfgang und Peter“ während der Vorbereitung des deutschen Sozialforums. Zwar werden sie, anders als die Stadtverordneten, nicht als politische Übersetzer eingeführt. Jedoch werden die gescheiterten Verhandlungen auf positional misunderstandings zurückgeführt (v.a. S.56-57 & 69). Dass hier machtpolitische und/oder ökonomische Interessen auf Kosten des deliberativen Prozess durchgesetzt werden, läuft Gefahr durch die intersektionale und auf Rancière verweisende Chiffre eines positional misunderstandings verdeckt zu werden. Das Problem liegt weder im intersektionalen Ansatz begründet, noch im impliziten Verweis auf Rancières Begriff des mésentente. Es wurzelt in einem Hinzuziehen von Fällen, deren Schilderung es fragwürdig erscheinen lässt, ob es den einflussreichen Beteiligten tatsächlich um einen genuinen Versuch egalitärer Deliberation geht. Gerade jene Einschränkung der Fallauswahl wird aber in der Einleitung vorgenommen (S. 7).

Chancen und Grenzen intersektionalen politischen Übersetzens

Dass politische Übersetzung, wie sie in Doerrs Buch vorgestellt wird, sich hauptsächlich an intersektionalen Ansätzen orientiert, ist eine Stärke. Denn das Konzept der politischen Übersetzung geht genau auf jene Betroffenheiten ein, die auf Grundlage intersektionaler Analyse von Diskriminierungserfahrungen formuliert werden und zentrale Debatten über Inklusion und Teilhabe befördern. Diese wurden und werden gerade auch deshalb geführt, weil die Herstellung von Solidarität qua kollektiver Einsicht in die Funktionszusammenhänge von Ausbeutung und Ausgrenzung so oft scheitert.

Diese Ausrichtung begrenzt aber politische Übersetzung insofern als dass Formen von Kritik und politischer Solidarität, die sich an gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen orientieren, ins Hintertreffen geraten können. Politische Übersetzung, die vor allem am Ausgleich von Sprech- und Entscheidungsanteilen auf der Basis von Gruppenkategorien (im Sinne von „Merkmals-Containern“) ausgerichtet ist, droht jene Mechanismen, die am Fortbestehen der zu Diskriminierung führenden Verhältnisse maßgeblich beteiligt sind, aus dem Blick zu verlieren.

Eine breitere Konzeptionalisierung politischer Übersetzung, die Solidarität auch in einer Kritik der Funktionszusammenhänge gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion verankert, könnte helfen jene Aporien zu umschiffen, die sich aus einer vorwiegend intersektional gespeisten Solidarität ergeben. Eine davon ist, dass die Repräsentation von Menschen, die bestimmte Merkmale in sich vereinen, nicht zwangsläufig dazu führt, dass diese Personen für ihre Merkmals-Gruppe politisch einstehen oder den gesellschaftlichen Betrieb verändern. Diese Erfahrung wurde sowohl von Teilen der Frauenbewegung (parité), als auch von Teilen der Bürgerrechtsbewegung (affirmative action) gemacht. Eine weitere Aporie ist, nach welchem Koordinatensystem sich politische Übersetzer_innen positionieren, wenn aufgrund intersektionaler Diskriminierungsüberschneidungen unklar ist, wer einen historisch-gesellschaftlich legitimeren Anspruch hat, gehört zu werden. Da manche der Aporien des Ansatzes in den dokumentierten Lernprozessen der Aktivist_innen selbst auftauchen (S. 76), würde eine über den intersektionalen Ansatz hinausreichende theoretische Ausarbeitung des Konzepts dem empirischen Material nicht zuwiderlaufen. Durch politische Übersetzung ein Bewusstsein für jene patriarchalen, ökonomischen und rassifizierenden Organisationsprinzipien und ihre Dynamik zu schaffen, könnte eine Tendenz des angewandten Intersektionalismus – gesellschaftliche Missstände vornehmlich über Kategorien der Benachteiligung zu verstehen und mitunter auch zu bekämpfen – ausgleichen. Die Basis dafür bildet jedoch jene von empathischer Aufmerksamkeit geprägte Verständigung, die politische Übersetzer_innen schon heute befördern, indem sie Zuhörende wie Sprechende zu neuen Handlungsweisen animieren.

 

Was Political Translation zu so einem besonderen Buch macht, ist seine eigene Übersetzungsleistung. Ausgehend von Fragestellungen inklusiver, radikaldemokratischer Bewegungen, dokumentiert und übersetzt das Buch sie in die Sprache akademischer Debatten über Deliberation und überprüft die Bedingungen der Möglichkeit des Gelingens einer transformativen Praxis. Political Translation bedient sich aber nicht einseitig am Erfahrungsschatz dieser Bewegungen: Die erarbeiteten Erkenntnisse lassen sich mühelos in Impulse für die politische Arbeit „on the ground“ zurückübersetzen.

„[In] my new first sentence I am introducing an outside-the-circle
reader into the circle. I am translating the anonymous into the
specific, a ‚place‘ into a ’neighborhood‘ and letting a stranger in,
through whose eyes it can be viewed.“
Toni Morrison

Anna Schwenck ist Postdoktorandin an der Universität Oldenburg. Sie forscht zur Normalisierung neotraditionaler und neoliberaler Denk- und Handlungsmuster, den kulturellen Bedingungen politischer Legitimationsprozesse und staatlichen Versuchen Bürger_innen zu aktivieren.


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