Denker des Staates und der Freiheit, Verfechter des Bürgerethos. Ein Nachruf auf Ernst-Wolfgang Böckenförde

Die Politikwissenschaft hat mehrere Nachbardisziplinen, mit denen sie Schnittmengen im Forschungsinteresse, im Gegenstand und auch einige der Grundbegriffe teilt. Für eine an politischer Ordnung orientierte Politische Theorie und Ideengeschichte ist besonders die Rechtswissenschaft von Interesse, die ebenso normative, systematische und historische Perspektiven vereint. Ein herausragender Vertreter seines Fachs, von dessen Werk die Politische Theorie und Ideengeschichte profitiert hat und weiterhin profitieren wird, ist Ernst-Wolfgang Böckenförde, der am 24.2.2019 im Alter von 88 Jahren in Au bei Freiburg verstorben ist. Er hat als ausgebildeter Rechtswissenschaftler und Historiker mit besonderem Interesse für die normativen Fragen der Begründung politischer Ordnung ein großes Oeuvre hinterlassen, das sich über mehr als fünf Jahrzehnte erstreckt. Zugleich hat er auch als politischer Denker den Lauf der Zeit kritisch begleitet und sich immer wieder mit Stellungnahmen in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet. Als Bundesverfassungsrichter übte er von 1983 bis 1996 eines der höchsten Ämter aus und wirkte an entscheidenden Urteilen mit. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass er neben wenigen anderen Vertretern seiner Generation, wie Jürgen Habermas oder Ralf Dahrendorf, zu den bekanntesten Wissenschaftlern und öffentlichen Intellektuellen in der siebzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik gehört.

Das Böckenförde-Diktum – eine liberale Formel

Dies hängt gewiss auch mit seinem berühmten Satz über die „nicht garantierbaren Voraussetzungen des freiheitlichen Staates“ zusammen. Das Böckenförde-Diktum ruft allerdings gerade bei vielen Angehörigen der Politikwissenschaft nicht nur angesichts der hohen Frequenz seiner Zitation in staatstragenden Sonntagsreden, sondern vor allem vor dem Hintergrund seines als konservativ wahrgenommenen Gehalts Kritik hervor. Auch der von Böckenförde verwandte Begriff der Homogenität gilt vielen als problematisch. Gegen Böckenförde wird die Auffassung vertreten, dass es keines einigenden Bandes für die Gesellschaft bedürfe und dass vielmehr die Verfahren der rechtsstaatlichen Demokratie in einer pluralen Gesellschaft hinreichend für die Produktion eines notwendigen Minimums an Konsens seien. In dieser Lesart geht aber ein entscheidender Zug seines Denkens verloren oder kommt gar nicht erst in den Blick: Böckenförde ist in seinem Plädoyer für die Freiheit ein zutiefst liberaler Denker, der zugleich von der sozialen Verantwortung des Staates ausgeht.

Das Bewusstsein, dass Demokratie auch erfordert, Andersartigkeit anzunehmen, und sich manches Mal in einer Minderheitenposition wiederzufinden, die sich der Mehrheit (unter Wahrung der Grundrechte) beugen muss, findet in Böckenfördes berühmten Diktum und seiner Bezeichnung des freiheitlichen Staates als Wagnis Ausdruck: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.“ In den Passagen, die im Aufsatz zur Entstehung des Staats als Säkularisierung folgen, führt Böckenförde aus, dass der Verfassungsstaat nicht mit den autoritativen Mitteln des Rechts und auch nicht mit einem Bekenntnis zu einer vermeintlichen Werteordnung als freiheitliche Ordnung erzwungen werden kann. Wie er immer wieder betonte, müssen die Bürger die Aufrechterhaltung der demokratischen Kultur selbst wollen und diese in ihren Haltungen und Praktiken stets erneuern. Der Staat kann diese nicht oktroyieren, ohne seine eigene liberale Grundordnung zu verletzen und lebt insofern von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Er kann auch die Bürger nicht zu sozialem Zusammenhalt zwingen – auch dieser muss von innen heraus, aus der Gesellschaft entfaltet werden.

Vor diesem Hintergrund müsste deutlich werden, warum die Vereinnahmung des Diktums zum Zwecke der Zurückweisung ethnischer und religiöser Pluralität seinen eigenen Arbeiten zuwiderläuft. Böckenförde war Demokrat, und als solcher unterstrich er wiederholt, dass Pluralität nicht nur ein gesellschaftliches Faktum, sondern ein wünschenswerter Zustand ist. Gerade deshalb ist für ihn die Demokratie ein Wagnis: weil man ständig angesichts der demokratisch geschätzten Pluralität daran arbeiten muss, gesellschaftlichen Zusammenhalt und rechtsstaatlich-demokratische Gesinnung zu schützen und von innen heraus zu erneuern.

„Ferner gehört zur Freiheit und Gleichheit, dass niemand für seine eigene politische Auffassung Alleingeltung in Anspruch nimmt und der politischen Überzeugung des Gegners die Diskussionswürdigkeit und ihr demokratisches Lebensrecht abspricht.” Dieses Credo führte Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits in seiner ersten Publikation aus, dem Aufsatz „Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“ aus dem Jahre 1957. Sein Aufsatz war ein leidenschaftlicher Aufruf an die Kirche, Demokratie sowie Freiheit und Gleichheit der Einzelnen als Grundpfeiler der politischen Ordnung anzuerkennen und im Kontext der politischen Ordnung den Anspruch aufzugeben, in moralischen Fragen ein Wahrheitsmonopol zu vertreten.

Inhaltliche Spannbreite des Werks

Religion und Verfassungsstaat blieben Fixpunkte in seinem Werk. Seinen Aufsatz zur Rolle der katholischen Kirchen im Jahr 1933 betrachtete er selbst – sowohl promovierter Jurist als auch Historiker – als sein wichtigstes geschichtswissenschaftliches Werk. Hier zeigte der junge Wissenschaftler in erschütterndem Detail, wie nicht nur herausragende Würdenträger, sondern auch vielfältige Untergruppierungen, katholische Berufsverbände und gesellschaftliche Laienverbände die Machtergreifung der Nazis begrüßten und unterstützten, weil sie sie zunächst als Chance erachteten, kirchliche Privilegien zu sichern. Böckenförde kehrte später noch einmal zum Thema des Nationalsozialismus zurück, als er 1985 (!) das wohl allererste juristische Seminar der Nachkriegszeit zur Rolle der Staatsrechtslehre in der NS-Zeit durchführte. Sein 1997 verfasster Artikel zum Bürgerverrat an den Juden Deutschlands bildete den Abschluss seiner Auseinandersetzung mit Weltkrieg und Holocaust. Hier zeigte er, dass der Mord an den Juden nicht als Staatsverbrechen allein, sondern auch als Verrat eines jeden deutschen nicht-jüdischen Bürgers an seinen Mitbürgern jüdischen Glaubens verstanden werden muss.

Die thematische Bandbreite Böckenfördes reicht von Texten zum Verhältnis der katholischen Kirche zu Demokratie und Freiheit und zur generellen Bedeutung des Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats über grundrechtsdogmatische Studien zur Gewissensfreiheit, bis hin zu Analysen zu Methoden der Verfassungsinterpretation sowie Theorien der Grundrechtsinterpretation. Böckenfördes Kritik an einer Entwicklung zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat bei Zurückdrängung der Spielräume des Gesetzgebers wurde zu einem seiner wichtigsten Beiträge zur bundesrepublikanischen Rechtsdogmatik. Immer wieder untersuchte er das Recht und die Verfassung in wechselnden historischen und politischen Konstellationen. Bedeutsam sind auch seine primär ideengeschichtlichen Arbeiten zur Rechtsbegründung bei Hobbes, die Analyse der sozialen Grundlagen des deutschen Konstitutionalismus unter Rückgriff auf Lorenz von Stein, und insbesondere die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie von der Antike bis zur frühen Neuzeit, die auch Kapitel enthalten, die in politikwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen in der Regel fehlen, insbesondere zum christlichen politischen Denken.

In demokratietheoretischer Hinsicht prägte er den Begriff der „Legitimationskette“: in einer repräsentativen Demokratie müssten alle politischen Entscheidungen letzten Endes auf das Volk zurückgeführt werden, wobei die Kette lang sein möge, aber nicht unterbrochen werden dürfe, was er insbesondere für die demokratischen Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union anmahnte. Das Legitimationskettentheorem hat nicht nur die deutsche Rechtsprechung beeinflusst, sondern wird auch international in der Verfassungstheorie rezipiert, wie generell seine Schriften weithin übersetzt worden sind, von Polen, Frankreich, Italien, über Japan und Südkorea bis nach Kolumbien, Chile und Brasilien. Ein wichtiger Beitrag zur Verfassungstheorie war sein Plädoyer, in der Verfassung kein politisches Programm zu sehen, sondern vielmehr eine Rahmenordnung, in der politische Programme ausgehandelt und entwickelt würden. Dies legte Böckenförde vor allem im Kontext der Grundwertedebatte der späten 1970er Jahre dar, als er für Bundeskanzler Schmidt (zusammen mit dem katholischen Sozialphilosophen Oswald von Nell-Breuning) eine wichtige Rede schrieb, in der dieser argumentierte, der Staat müsse in Bezug auf Weltanschauungen neutral bleiben. Ob der Staat ein sittlicher Staat sein müsse, fragte Böckenförde in einem eigenen Aufsatz zur Theorie des Staates kurz darauf. Er verneinte – der liberale Staat könne dies nicht leisten. Gleichwohl könne er indirekt auf Wertedebatten in der Gesellschaft einwirken: durch die Gestaltung der Schulbildung im Sinne der Ausbildung und Einübung kritischer Urteilskraft, über die Qualität der öffentlich-rechtlichen Medien, und nicht zuletzt müsse die politische Elite durch die Vorbildlichkeit in Sachen Gesetzestreue einen Beitrag leisten. Freilich müssten auch bei der indirekten Wirkung des Staates stets alle bürgerlichen Freiheiten gewahrt werden, weshalb der Staat auch in religiösen Fragen neutral bleiben müsse. Die Gewissensfreiheit bezeichnete er einmal als „Kardinalfreiheit“ – ohne diese könne auch von den anderen Freiheiten keine Rede sein.

Auch als Konsequenz letzterer Position setzte sich Böckenförde für die positive genauso wie die negative Religionsfreiheit ein. Der staatliche Raum müsse religiös neutral sein, so insbesondere die Gerichte und Regierungsgebäude. Der Raum der Schule sei aber nicht ein Raum, in der der Staat repräsentiert sei (anders als in den Gerichten), sondern eine Sphäre, in der Staat und Gesellschaft zusammenwirkten. Folglich gelte es hier die positive Religionsausübung des Einzelnen zuzulassen, was auch beinhalte, einer muslimischen Lehrerin zu erlauben, ein Kopftuch zu tragen. Zur Achtung positiver Religionsfreiheit gehöre auch, religiöse Feiertage einzurichten, und dieses Privileg müsse auch deutschen Muslimen zuteilwerden: so unterstützte er die Einrichtung eines muslimischen gesetzlichen Feiertages.

Freiheit und Gleichheit – über diese Schwelle der Moderne, errungen mit der französischen Revolution, führte für Böckenförde kein Weg zurück. Er war nicht nur ein politischer Denker, der das Grundprinzip des Liberalismus vertrat, sondern er betonte im übrigen auch vor dem Hintergrund einer über fünfzigjährigen Mitgliedschaft in der SPD, dass der demokratische Verfassungsstaat ein sozialer Rechtsstaat sein müsse. Der Staat stehe in der Pflicht, die Lebensverhältnisse zu schaffen, in denen Bürger ihre Rechte wahrnehmen können. Ohne einen der kapitalistischen Marktwirtschaft durch den Staat gesetzten Ordnungsrahmen, in dem für sozialen Ausgleich gesorgt und ein Maß gesetzt wird, das die gesellschaftlich Mächtigen begrenzt, liefe die Freiheit leer. Einer seiner letzten Essays widmete sich im Zuge der Finanzmarktkrise im Jahr 2009 der Kritik des entgleisten globalisierten Kapitalismus.

Neben Lorenz von Stein kann auch Hermann Heller, der mit seinem Konzept der sozialen Homogenität dafür plädierte, dass in einer Demokratie die sozialen Unterschiede nicht zu groß sein dürften, in diesem Zusammenhang als bedeutsam für ihn angeführt werden. Seine Spuren werden in Böckenfördes Werk gegenüber denen Carl Schmitts häufig übersehen, obgleich Böckenförde selbst sagte, seine Demokratietheorie sei vor allem von Heller geprägt. Carl Schmitt und Ernst-Wolfgang Böckenförde – dieses Verhältnis bleibt dagegen bis auf weiteres opak. Böckenförde betonte mehrfach, wieviel er von Schmitt gelernt habe, von seiner begrifflichen Schärfe, seiner Analyse des Rechtsstaats in der Verfassungslehre, seiner Sicht auf den Begriff des Politischen, und auf das Erbe des Religiösen für die Prägung der politischen Moderne. Jedoch seine Sichtweise insbesondere des demokratischen Verfassungsstaates fällt gegenteilig aus. Böckenförde war ein sozial-liberaler Etatist, der die individuelle Freiheit des Einzelnen und die soziale Verantwortlichkeit des Staats betonte, und zugleich auf die Notwendigkeit eines ethischen Fundaments in der Gesellschaft verwies.

Böckenförde, der Verfassungsrichter

Als Böckenförde 1983 auf Vorschlag der SPD an das Verfassungsgericht berufen wurde, leistete er bei der Vereidigung zum Bundesverfassungsrichter (im Unterschied zu vorangegangenen Vereidigungen) den Eid mit der religiösen Beteuerung ab. Er wollte die innersten Bindungskräfte, die das Anrufen des göttlichen Beistands zu mobilisieren vermag, erbitten – wofür? Dafür, dass er sich als Richter allein auf die positive Rechtsordnung stützen möge und in Absehung persönlicher politischer und religiöser Überzeugungen das Recht allein nach den Maßstäben der Verfassung auslegen werde; nur so könne das Vertrauen in die letztlich kontrollfreie Instanz der Verfassungsgerichtsbarkeit gewahrt werden. Civis simul et Christianus – an einen Richter, der als Person an die Wahrheit der geschichtlichen Gottesoffenbarung geglaubt hat und der im übrigen als Gelehrter ein sensibler Kenner der christlichen Rechtstheologie, insbesondere des thomistischen Naturrechts gewesen ist, hat dies eine besondere Anforderung gestellt.

Elfmal hat sich Böckenförde der Mühe eines Sondervotums unterzogen und in zwei Fällen haben seine Minderheitenvoten den Rahmen für eine Revision der ursprünglichen Rechtsprechung gegeben. Die Auslegung der Verfassung hat er nachhaltig auch durch seine Schriften und öffentlichen Interventionen beeinflusst, so auch in der Gretchenfrage des Grundgesetzes: wie hältst Du’s mit der Menschenwürde. Böckenförde sah angesichts der neueren biomedizinischen Forschung und ihrer Anwendungsmöglichkeiten gerade für das ungeborene Leben die Axt ans Fundament gelegt, wenn der Geltungsbereich der Menschenwürde auf Menschen beschränkt würde, die bestimmten Kriterien genügen müssten. Die Menschenwürde begriff Böckenförde als ein Prinzip, das auch unabhängig seiner rechtlichen Positivierung einen unbedingten Geltungsanspruch erhebt – ganz im Einklang mit dem vor kurzem verstorbenen Philosophen Robert Spaemann, seinem Münsteraner Kommilitonen aus dem Collegium Philosophicum, dem er ein Leben lang verbunden blieb.

Wir können Ernst-Wolfgang Böckenförde für vieles dankbar sein: für seine unparteiische und vorbildliche Amtsausübung als Verfassungsrichter, für seine über fünf Jahrzehnte währenden Schaffen an wissenschaftlichen Untersuchungen und zeitkritischen Stellungnahmen und insbesondere für seine immer wieder vorgetragene Einsicht, dass die Geltung der Verfassung nicht allein vom klugen Arrangement der Institutionen im demokratischen Rechtsstaat lebt, sondern dass Bürgerinnen und Bürger – in verfassten wie in ideellen Ämtern – diese Ordnung auch in der Praxis tragen, gestalten, und erneuern müssen, Gemeinsinn und Solidarität zeigen, sich gesetzestreu verhalten und dem Anderen mit Respekt und Toleranz zu begegnen haben, soll sie auf Dauer gelingen. Sein Auftrag an uns alle bleibt, diese Einsicht immer wieder neu auf die sich weiter entwickelnde politische Ordnung zu beziehen, von der wir nicht wissen, ob sie sich am Ende des 21. Jahrhunderts noch in den Kategorien des modernen Staates erfassen lassen wird.

Mirjam Künkler und Tine Stein sind die Herausgeberinnen einer Auswahl der Schriften Ernst-Wolfgang Böckenfördes in englischer Übersetzung bei Oxford University Press und haben mehrere Themenschwerpunkte zu Böckenförde in Zeitschriften (Constellations, Oxford Journal of Law and Religion, German Law Journal) ediert.

2 Kommentare zu “Denker des Staates und der Freiheit, Verfechter des Bürgerethos. Ein Nachruf auf Ernst-Wolfgang Böckenförde

  1. Wir haben auf der Webseite der Maecenata Stiftung folgenden Nachruf veröffentlicht:

    Fast auf den Tag 50 Jahre nach Karl Jaspers verstarb am 24. Februar 2019 Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der Philosoph Jaspers hatte kurz nach dem 2. Weltkrieg mit seinem Traktat „Die Schuldfrage“ Aufmerksamkeit erregt. 1966, wenige Jahre vor seinem Tod, legte er eine Streitschrift vor, die den Titel trug: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ Seine Kritik richtete sich im wesentlichen gegen die Macht der Parteien, die ihn an der Voraussetzung des Grundgesetzes „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ zweifeln ließ. Seine Kritik an der Parteienherrschaft der Bundesrepublik war grundsätzlicher Natur. „Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben“, schrieb er.

    Dies verbindet ihn mit dem Juristen Böckenförde, dessen berühmtestes Zitat als Böckenförde-Diktum bekannt geworden ist: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Heribert Prantl nannte es in seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung „das E = mc2 der Staatsrechtslehre“. Böckenförde war Richter am Bundesverfassungsgericht, vor allem aber bedeutender Staatsrechtslehrer, der das Recht nicht administrierte, sondern im Sinne der Freiheit und Verantwortlichkeit zu gestalten suchte. Professor für Öffentliches Recht, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte und Rechtsphilosophie an mehreren deutschen Universitäten, gläubiger Katholik und Sozialdemokrat, individualistischer Kämpfer für die Freiheit und rätselhafterweise ein Stück weit Verehrer von Carl Schmitt, bleibt er vor allem im Gedächtnis als politischer Wissenschaftler, der dem im deutschen politischen Denken tief verwurzelten Hegelschen Gedankengut argumentativ entgegentrat.

    Böckenförde stand, ebenso wie vor ihm Jaspers, für eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Hegel auf höchstem Niveau und für die geradezu penetrant vorgetragene Forderung, Staatshandeln wieder auf das zu reduzieren, was es in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft sein sollte: nicht Herrschaft über, sondern Dienst am Volk. „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, – der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt.“ Von dieser Überhöhung des Staates durch Hegel im 19. Jahrhundert zehrte nicht nur der Nationalsozialismus. Geistige Unabhängigkeit statt political correctness war sein Markenzeichen.

    Als mit Robert Putnam in den 1990er Jahren die Theorie des Sozialkapitals, das in den freiwilligen Bürgerbewegungen und -netzwerken entsteht, aber in Staat und Wirtschaft verbraucht wird, als politik-theoretisches Fundament der Zivilgesellschaft aufkam, war das von Böckenförde zuerst 1976 formulierte Diktum wieder aktuell. Es hat dem Gedanken Auftrieb gegeben, den Staat als weniger wichtig, andere Beiträger zu gesellschaftlichen Prozessen aber, weil eben die Voraussetzungen für einen funktionierenden Staat schaffend, als wichtiger zu erachten, als dies in der deutschen öffentlichen Debatte üblich ist.

    Dafür ist gerade die Zivilgesellschaft diesem, auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Mentor zu Dank verpflichtet. Persönlichkieten wie er und Jaspers sind rar geworden. Um so mehr gebührt ihnen ein ehrendes Gedenken.

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