Zur demokratischen Repräsentation des Volkes. Ein Tagungsbericht aus Leipzig

Wer das Volk zu vertreten, in seinem Namen zu sprechen oder es als „Wir“ selbst zu verkörpern beansprucht, tritt nicht gerade bescheiden auf: Nicht nur behauptet man, den Willen des gesamten Volkes zu kennen, sondern auch, ihn als einzige Instanz oder Gruppe legitimerweise artikulieren zu können. Als Objekt der politischen Repräsentation schlechthin wird das Volk von vielen Seiten umworben. Diesen oftmals konkurrierenden Repräsentationsansprüchen widmete sich die studentisch organisierte Tagung „‚Im Namen des Volkes‘ – Zur Kritik eines politischen Anspruchs“, die am 8. und 9. November 2018 in Leipzig stattfand und von Marvin Neubauer, Max Stange, Charlott Resske und Frederik Doktor veranstaltet wurde. Die Organisator*innen nahmen dabei die derzeit unter anderem von populistischen Parteien angezweifelte Legitimität repräsentativer Demokratien zum Anlass, um die vielerorts diagnostizierte Notlage der Demokratie als Krise der politischen Repräsentation zu untersuchen. Dieser Krise und ihrem Gegenstand näherten sich die Vortragenden aus den Geistes- und Rechtswissenschaften aus drei verschiedenen Richtungen: So wurden grundlegende theoretische Reflexionen über die Funktionsweise von politischer Repräsentation angestrengt, divergierende Abwägungen zwischen Allgemeinwohl und Partikularinteressen artikuliert und mit Nachdruck auf die temporale Dimension von Repräsentation hingewiesen.

Theorie der Repräsentation

Als wichtiger Stichwortgeber fungierte Oliver Lembcke, der den fiktionalen Charakter von politischer Repräsentation betonte – ein Motiv, das im Laufe der Tagung von vielen Redner*innen aufgegriffen wurde. Die Krise der Repräsentation lässt sich laut Lembcke dadurch erklären, dass ihr fiktionaler Charakter in repräsentativen Demokratien keinen angemessenen Ausdruck findet. Dabei sei das fiktionale Moment jeder Repräsentation bereits im semantischen Kern des Begriffs angelegt, der darauf verweist, etwas Abwesendes wieder anwesend zu machen. Das Ideal der repräsentativen Demokratie als der möglichst weitgehenden Identität von Repräsentation und Repräsentierten müsse vor diesem Hintergrund auf seine demokratische Qualität untersucht werden – welcher Art ist das Abwesende und wie wird es anwesend? Der deutliche Vertrauensverlust in das bestehende Parteiensystem, von dem sich die Repräsentierten zunehmend nicht mehr vertreten fühlten, lasse auf eine Krise dieses Ideals schließen. Davon ausgehend forderte Lembcke, das fiktionale Moment der Repräsentation als notwendig zu akzeptieren und stärker herauszustellen. Er sprach sich für ein Eingeständnis einer grundlegenden Theatralität des Politischen aus: Repräsentant*innen sollten ihre „verantwortete Gestaltungsmacht“ ernst nehmen und glaubwürdig ihre Individualität als Politiker*innen, d.h. ihr Schauspieler*innentum ausweisen. Erst wenn sie so für etwas Eigenes stehen, könnten die divergierenden Positionen sichtbar werden, aus denen sich die vermeintliche Einheitlichkeit des Allgemeinwillens bzw. des Volkes zusammensetzt.

Christian Schmidt hingegen problematisierte die von Lembcke betonte Fiktionalität und kennzeichnete den Volksbegriff als Phantasmagorie. Laut Schmidt offenbart eine genealogische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Volk“ seine enorme Vielfalt, der jedoch in der Regel nicht Rechnung getragen werde. Früher habe sich ein Volk über die Abgrenzung von einem Souverän als Einheit konstituieren können. Heute hingegen sei es nicht mehr nur allein einer Regierung unterworfen, sondern Subjekt und Objekt dieser Regierung zugleich. Diese Doppelrolle sei nur mittels einer Projektion möglich: Es muss der Anschein einer widerspruchslosen Einheit, einem dem Allgemeinen getreuen Abbild erweckt werden. Diese Einheit aber erscheine erst in den Verwaltungen, Rechtsprechungen und Regierungspraktiken, die sie produzieren – erst in ihnen gebe es „das Volk“. Wird sich nun positiv auf das Volk bezogen, werde damit gezwungenermaßen ein partikularer Wille zum Allgemeinwillen erhoben (wie besonders drastisch an der nationalsozialistischen Kategorie des „Volkswillen“ deutlich geworden sei).

Dabei offenbare bereits der immer wieder neue Appell an das Volk, dass dieses eben nicht selbstverständlich da ist. So werde der Volksbegriff zu einem politischen Projekt, das sich aufgrund seines fiktionalen Charakters als etwas Unheimliches, eben als eine Phantasmagorie erweise. Diese These stützte Schmidt mit dem Verweis auf die Leere des Ortes der Macht, die laut Claude Lefort das Zentrum demokratischer Ordnungen kennzeichnet und von niemandem dauerhaft ausgefüllt werden kann. Den gesellschaftlichen Partikularitäten und Widersprüchlichkeiten, die den kontinuierlichen Streit um die temporäre Neubesetzung des Zentrums ermöglichen, werde der Volksbegriff nicht gerecht.

Pirmin Stekeler-Weithofer vollzog seine Grundlegung der Repräsentation, indem er ausgehend von der Praxis der Rechtsprechung fragte: Wer sagt eigentlich „wir“, wer repräsentiert „uns“? Wer repräsentiert Wille und Wohl des Volkes, d.h. der Bevölkerung eines Staates? Die von der Formel „Im Namen des Volkes“ begleitete Urteilsverkündung ergehe von einem generischen Wir. Genealogisch sei das Volk also das, was lange Zeit mit „Gott” gefasst wurde: die Artikulation des Allgemeinen. Als Ausdruck des Allgemeinen sei „Volk“ eine viel umfassendere Kategorie als jeder Text und jede Klientel, die deshalb unter keinen Umständen aufgegeben werden dürfe. In diesem Sinne sprach sich Stekeler-Weithofer für eine politische Theologie aus, deren Untersuchungsgegenstand nicht die Rede von Gott, sondern die Rede vom Allgemeinen ist.

Allgemeinwohl oder partikularer Protest?

An dieser Allgemeinheit hielt auch Winfried Thaa fest, der das Verhältnis von Partikularinteresse und Allgemeinwohl in den Fokus stellte und die Prekaritäten repräsentativer Demokratien diskutierte. Thaa beharrte auf der notwendigen Ausdifferenzierung einer eigenen politischen Handlungssphäre, die die Austragung gesellschaftlicher Konflikte überhaupt erst ermögliche. Gesellschaft bedürfe (in erneuter Anlehnung an Lefort) einer Bühne, auf der ihre Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten qua Repräsentation sichtbar gemacht und ausgehandelt werden können. Den Faden der theatralischen Fiktion des Volkes weiterspinnend, argumentierte Thaa, dass partikulare Anliegen auf dieser Bühne idealerweise in der „Kostümierung“ argumentativ versierter Ausdrücke des Allgemeinwohls auftreten müssten. Diese Repräsentation gesellschaftlicher Differenzen stehe gegenwärtig jedoch vor einigen Herausforderungen, wie etwa der Anpassung der Formen des politischen Wettbewerbs an die Logik des Marktes sowie nur schwer lösbaren Identitätskonflikten, die durch die Vorstrukturierung des politischen Raumes durch präformierte Identitäten aufträten. Die größte Gefahr der Krise der repräsentativen Demokratie aber sah Thaa in aktuell vorgebrachten Alternativen, die er als antipolitisch kennzeichnete. Konflikte etwa, die durch die Expertise von Sachkundigen oder die Vorgaben von Kommissionen entschieden werden und in denen somit die differenzielle Repräsentation durch Erkenntnis ersetzt werde, würden fast zwangsläufig in anderer Form wieder aufbrechen. Auch die Moralisierung von Streitfragen, die dem politischen Konflikt bestimmte Werte als nicht verhandelbar voraussetzt, führe letztendlich in den meisten Fällen nur zu einer umso intensiveren Rückkehr des moralisch Verdrängten.

Christian Volk näherte sich der Krise der repräsentativen Demokratie durch eine Reflexion über Proteste. Im Fokus seiner Überlegungen standen Protestbewegungen, die politisieren, sich also laut Volk nicht mit Umverteilungen zufriedengeben, sondern eine neue Interpretation der demokratischen Ordnung selbst fordern und sich gegen deren gegenwärtige Reproduktionsbedingungen stellen. Politisierender Protest wirke jedoch nur dann auch demokratisierend, wenn er sich für eine Erweiterung des Kreises der Privilegierten einsetze und versuche, neue diskursiv-demokratische Räume zu schaffen (wie z.B. die General Assembly der Occupy-Bewegung). In Abgrenzung zu Thaa vertrat Volk die Ansicht, dass eine Fokussierung auf das Allgemeinwohl nicht der richtige Maßstab für Protestbewegungen sei. Aufgrund ihrer Stellung im politischen System – weit entfernt von jeder exekutiven Verantwortlichkeit – seien moralisierende Positionen („No Border! No Nation! Stop Deportation!“) als erster Schritt ins politische Feld legitim. Die politische Verantwortung demokratisierender Protestbewegungen liege stattdessen in der Sichtbarmachung des jeweiligen Konfliktes und der Bereitschaft zur Verständigung – ohne letztere ginge das demokratisierende Potenzial dieser Initiativen verloren.

Temporalität der Repräsentation

Darüber hinaus wurde auch die (oft vernachlässigte) zeitliche Dimension politischer Repräsentation in den Blick genommen. In ihrem Vergleich der Verfassungen von Bonn und Weimar plädierte Clara Maier für eine historische Verortung politischer Ordnungen und ihrem jeweiligen Verständnis von Demokratie und Repräsentation. Gegen einen theoretisierenden Zugriff bestimmte Maier die Bonner Republik historisch als post-diktatorische Demokratie und zeigte auf, dass in der bundesrepublikanischen Verfassung nicht die demokratische Partizipation, sondern der Rechtsstaat als primäres Instrument zur Überwindung der NS-Diktatur vorgesehen sei. Aus dieser historischen Perspektive werde deutlich, dass das gegenwärtige Demokratiedefizit vor allem als ein Defizit der demokratischen Verortbarkeit zu verstehen sei. Diesem sollten demokratische Gesellschaften begegnen, indem sie aus einer verstärkten Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte (und Geschichtlichkeit) neue demokratische Formen entwickeln.

Dieser historischen Perspektive stellte Nejma Tamoudi eine zukunftsgewandte an die Seite. Sie konstatierte, dass die Debatte um repräsentative Demokratien fast ausschließlich in Bezug auf die Gegenwart geführt werde. Jedoch habe unser politisches Handeln mittlerweile so weitreichende Konsequenzen für zukünftige Generationen, dass diese stärker beachtet werden müssten. Denkbar werde dies mit dem Begriff des „sozialen Imaginären“, der das Bild bezeichne, das eine Gesellschaft über die Zeit hinweg von sich produziert. In diesem Bild konstituierten sich politische Repräsentation und soziale Wirklichkeit wechselseitig. Allerdings werde letztere nie vollständig abgebildet werden können. Übrig bleibe ein „epistemischer Rest“, entlang dessen das soziale Imaginäre bestehende Traditionen fortschreibt. Politische Repräsentation wird vor diesem Hintergrund zur (notwendig unvollständigen) Abbildung dessen, was das soziale Imaginäre immer wieder (re-)produziert. Tamoudi plädierte dafür, dieses imaginative Moment ideologisch neu zu besetzen: Zukünftige Generationen sollten als utopische Dimension in unser Denken über und unsere Begrifflichkeiten von politischer Repräsentation einfließen – und so unserem sozialen Imaginären gleichsam einen kritischen Spiegel aus der Zukunft vorhalten.

Rückblick und Ausblick

Der Begriff des Volkes erweckte auf der Tagung einen produktiven Dissens: Beharrten manche Redner*innen auf den logischen wie strategischen Unzulänglichkeiten der Berufung auf das Volk und den von ihr produzierten Ausschlüssen, insistierten andere auf dem integrativen Potenzial der im Volk ausgedrückten Allgemeinheit, die nicht zuletzt auch partikularen Interessen zugutekäme. Eine geteilte Erkenntnis war jedoch, dass dem Volk immer auch ein fiktionales Moment innewohnt: Dass es schwerfällt, sich das Volk als eine unisono sprechende Einheit vorzustellen, liegt nicht zuletzt daran, dass es im Akt der Anrufung erst als solche produziert wird.

Dem Mangel sowohl historisierender als auch zukunftsgewandter Ansätze in der Debatte über politische Repräsentation stellten sich genealogische Untersuchungen von Begriffen wie Volk und Demokratie sowie ein verstärkter Fokus auf die Repräsentation zukünftiger Generationen entgegen. Somit gelang es der Tagung, eine vielfältige Standortbestimmung zu vollziehen und mögliche Auswege aus der Krise der Repräsentation zu skizzieren. Unentschieden blieb, ob diese Wege mit „dem Volk“ oder ohne es gegangen werden sollen.

Sebastian Dute studiert Politikwissenschaft (B.A.) und Geschichte (B.A.) an der Universität Leipzig. Freda von dem Bussche studiert Philosophie (B.A.) an der Universität Leipzig.

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