theorieblog.de | Lesenotiz zu Hannah Arendts „Sechs Essays/Die verborgene Tradition“
18. Februar 2019, Albrecht
Lesenotiz zu Hannah Arendt: Sechs Essays/Die verborgene Tradition (= Kritische Gesamtausgabe/Complete Works. Critical Edition, Bd. 3, Göttingen 2019).
Für Politische Theoretiker*innen, die sich für Hannah Arendt interessieren, hatte das lange Warten im Herbst vergangenen Jahres endlich ein Ende: Die Veröffentlichung der Kritischen Arendt-Gesamtausgabe ist angelaufen. Aber hat sich das Warten auch gelohnt? Nach dem fulminanten Auftakt durch Band 6 The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buches, gibt der gerade erschienene Band 3 Sechs Essays/Die verborgene Tradition nun weiteren Aufschluss über diese Frage. Er ist Anfang Januar recht zeitnah nach dem Marx-Band als zweites Buch des voluminösen, insgesamt auf 17 Ausgaben angelegten Projekts erschienen. Laut Editionsplan sind die Sechs Essays zugleich der einzige für 2019 geplante Band.
Auch wenn es wahrscheinlich editorischer Pragmatik geschuldet sein dürfte, ist es insofern treffend die Sechs Essays an zweiter Stelle herauszubringen, als es sich tatsächlich um das zweite Buch handelt, das Hannah Arendt veröffentlicht hat. Das Buch erschien 1948 – zunächst nur unter dem ersten der beiden Titel als Sechs Essays –, fast 20 Jahre nach Arendts Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin, aber noch vor ihren großen ‚Hauptwerken‘ Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951/55), Vita activa (1958/60) oder Über die Revolution (1963/65). Es handelt sich sowohl konzeptionell-formal, als auch inhaltlich um ein „Buch des Übergangs“ (Barbara Hahn).
„Schreiben ist doch eine Form des Zurückkommens“ – Die Publikationsgeschichte der Sechs Essays
Zum einen ist das Buch schon seiner Entstehungsgeschichte und formalen Komposition nach Produkt und Sinnbild von Arendts persönlichem Übergang (von Deutschland in die USA und wieder zurück; wenn auch letzteres nur im Schreiben) – „eine[r] Autorin, die durch Sprachen und Kulturen wanderte“ (326), wie die Herausgeber*innen es auf eine Formel bringen, die ein wenig unterschlägt, dass es sich bei dieser Wanderung um eine Flucht- und Exilgeschichte handelt.
Die in der Essaysammlung enthaltenen Aufsätze sind alle zwischen 1943 und 1946 in New York entstanden, wo Arendt nach ihrer Flucht aus Deutschland, anschließendem Exil in Paris, erneuter Flucht aus dem Internierungslager Gurs über die Pyrenäen und Lissabon, 1941 schließlich angekommen war. Fünf der sechs Essays – mit Ausnahme des Kafka-Portraits ganz am Ende des Buches – wurden zuerst auf Deutsch verfasst, dann aber ins Englische übersetzt und so in überwiegend jüdischen (Exilanten-)Zeitschriften, wie The Menorah Journal, Jewish Frontier, Partisan Review oder Commentary veröffentlicht, in denen Arendt nach ihrer Ankunft in den USA schnell anfängt sich als Publizistin und politische Kommentatorin einen Namen zu machen. Die Aufsätze stellen also Arendts erste Versuche dar, „eine Stimme in der noch so fremden Sprache zu finden“ (454). Einigen davon hört man das hölzerne der ersten Gehversuche im Englischen noch an. Manche der Essays sind auch noch eher Übersetzungen im herkömmlichen Sinne; was für ihre späteren Texte – die Herausgeber*innen der Gesamtausgabe haben es im Theorieblog-Interview noch einmal ausdrücklich betont– nicht mehr zutrifft. Eher hat Arendt, wie es Ursula Ludz in der Einleitung zum Metzler-Handbuch formuliert hatte, „ein Werk in zwei Sprachen hinterlassen“.
Ab 1946 lässt Arendt ihrem früheren akademischen Lehrer Karl Jaspers und ihrem alten Studienfreund Dolf Sternberger die „deutsche[n] „Originalfassungen“ (449) dieser Aufsätze zur Veröffentlichung zukommen. Zusammen mit dem Romanisten Werner Krauss und dem Soziologen Alfred Weber, hatten die beiden nur ein gutes halbes Jahr nach Kriegsende die Monatszeitschrift Die Wandlung gegründet. Dabei stand Arendt der – wohl vor allem von Jaspers angeregten – Idee, sich an ein deutsches Publikum zu wenden zunächst ambivalent gegenüber. Auf der einen Seite erachtete sie, die anders als viele andere Exilanten, wie bspw. Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer, nie wieder fest nach Deutschland zurückgekehrt ist, „die Verführung, seine eigene Sprache wieder schreiben zu dürfen“ als „die einzige Heimkehr aus dem Exil […], die man nie ganz aus den Träumen verbannen kann“ (11). Auf der anderen Seite falle es angesichts des Geschehenen „einem Juden nicht leicht, in Deutschland zu veröffentlichen, und sei er ein Jude deutscher Sprache“ (11). Dass sie sich letztendlich doch dafür entschieden hat, geschah zum einen, wie sie später einräumte, „not out of ‚conviction‘, but out of friendship for Jaspers and an old friend of mine from our students’ days“ (452) und stand zum anderen unter der Bedingung, dass sie nicht als Deutsche oder Assimilierte akzeptiert, sondern „als Jude willkommen“ sein müsse (452).
Als der Verleger der Wandlung, Lambert Schneider, einige der bereits in der Zeitschrift veröffentlichten und einige noch unveröffentlichte Aufsätze schließlich zu einem Buch zusammenfassen will, reagiert Arendt erfreut. Geplant und strukturiert hat sie den Band allerdings nicht. Sowohl die Auswahl der Texte als auch die Anordnung im Buch entstammt „mit großer Wahrscheinlichkeit von Sternberger“ (450), dessen Rolle als organisierender Freund für die Etablierung von Arendts Frühwerk im deutschen Sprachraum kaum zu überschätzen ist. Die wohl von ihm gewählte Reihenfolge entspricht freilich nicht der Chronologie der Erstveröffentlichungen. Das Buch erhält weder Inhaltsverzeichnis noch Einleitung. Stattdessen stellt Arendt ihm eine Zuneigung an Karl Jaspers voran.
In den 1960er Jahren möchte der Wagenbach-Verlag den Band in leicht abgewandelter Form neu herausbringen. Nachdem Arendt und der Verleger Klaus Wagenbach länger über eine mögliche veränderte Zusammenstellung, den Titel und vor allem den Status des Buches verhandelt hatten – Arendt, deren Theoriebildung dafür bekannt ist, dass sie in aktuelle Debatten eingreift und schon deshalb immer tentativ ist, war nicht mehr mit allem einverstanden, was sie knapp 20 Jahre zuvor verfasst hatte – wird das Projekt aber aus ungeklärten Gründen nicht weiterverfolgt (vgl. 456ff.). Als 1976 dann doch noch eine Neuauflage – dieses Mal im Suhrkamp-Verlag – erscheint, wird diese um die beiden Essays Aufklärung und Judenfrage und Der Zionismus aus heutiger Sicht ergänzt. Die Neuauflage, bei der es sich streng genommen um ein neues Buch handelt, erscheint jetzt unter dem Titel Die verborgene Tradition und trägt den Untertitel Acht Essays. Arendt hat die Planung des Bandes noch begleitet („Die sechs Essays könnt ihr gerne haben“, 459), verstarb aber bevor er erschien.
Ein „ansehnlicher Band […], der die vielfältige Thematik von Hannah Arendts Denken und Schreiben zeigt“?
Diese Entstehungsgeschichte des Buches erklärt auch etwas die fehlende „innere Konzeption“ (457), die Karl Wagenbach während der Verhandlungen über die erste – nicht zustande gekommene – Neuausgabe anmahnte. Arendt reagierte mit Verständnis auf diesen Einwand. In der Lakonie, für die sie mittlerweile bekannt war, antwortete sie Wagenbach 1965: „Ich schickte Ende 1945, […] willkürlich was immer ich an deutschen Essays rumliegen hatte nach Heidelberg“ (457). Trotzdem leistet der Band meines Erachtens mehr, als einen Überblick über „die vielfältige Thematik von Hannah Arendts Denken und Schreiben“ (Sternberger, 449) zu geben. Ein möglicher Deutungsversuch besteht darin, die Essaysammlung eben nicht nur konzeptionell-formal, sondern auch inhaltlich als ein Buch des Übergangs zu begreifen.
Vor allem die ersten beiden Aufsätze des Bandes Über den Imperialismus und Organisierte Schuld stellen demnach Versuche das Geschehene zu verstehen dar. In Über den Imperialismus arbeitet Arendt anhand einer Auseinandersetzung mit dem ‚scramble for Africa‘ zum ersten Mal diejenigen Elemente des Imperialismus heraus, die sich, wie sie es später nennen wird, im Totalitarismus kristallisieren. In Organisierte Schuld stellt sie sich die Frage, die auch noch Generationen von Historiker*innen nach ihr beschäftigen würde, nämlich wie es möglich war, dass aus ‚ganz normalen Menschen‘ Massenmörder werden. Gegen die Thesen die von einem spezifischen „deutschen Nationalcharakter“ (36) ausgehen, verortet sie die Gründe dafür zum einen in einer allgemeineren Kritischen Theorie der Moderne, zum anderen sei das Nazi-System gerade so aufgebaut gewesen, dass es Komplizenschaft organisiere; eine These von der sie zumindest politisch später etwas abrücken wird (vgl. 457). Bei beiden Texten handelt es sich um Vorstudien für die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Der dritte Aufsatz des Bandes Was ist Existenzphilosophie? fällt hier ein bisschen aus der Reihe. Er war als Vortrag gedacht, der einem amerikanischen Publikum Kontinentalphilosophie näherbringen sollte. Insofern handelt sich zwar nicht im engeren Sinne um einen Versuch das Geschehene zu verstehen (obwohl Arendt später auch die philosophische Tradition – „an dieser Bescherung nicht ganz unschuldig“ – in ihren Verstehensversuch miteinbeziehen wird), aber ebenfalls um eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition aus der sie gekommen ist. Arendt, das sei hier erwähnt, hat sich von diesem Aufsatz später ausdrücklich distanziert (vgl. 357).
Die Texte in der zweiten Hälfte des Buches sind, gemäß dieser Deutung als Übergangsbuch, dann erste Versuche Arendts darüber nachzudenken, wie man nach dem Traditionsbruch – nachdem also die Tradition, aus der man gekommen ist, kein „Geländer“ mehr bietet – weiterdenken kann. Eine Möglichkeit dies zu tun entdeckt Arendt in der verborgenen jüdischen Tradition des Pariatums, jenes selbstbewussten Außenseiters, der seine Andersheit in eine Position der Stärke umwandelt. Vor allem im für die Neuauflage titelgebenden Aufsatz Die verborgene Tradition rekonstruiert sie in Heinrich Heine, Bernard Lazare, Charlie Chaplin und Franz Kafka vier unterschiedliche Spielarten eines solchen selbstbewussten Pariatums. Franz Kafka erhält ganz zum Ende des Bandes noch einmal ein eigenes Portrait. So wie Über den Imperialismus und Organisierte Schuld im späteren Werk der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aufgehen, geht Die verborgene Tradition aus einem früherem hervor: Bei den vier Paria-Typen handelt es sich um Weiterentwicklungen der Figur, die in den letzten beiden Kapiteln des Rahel Varnhagen-Buches das erste Mal auftaucht. Bleibt Rahels Pariatum, zu dem diese sich nach etlichen gescheiteren Assimilationsversuchen entscheidet, vor allem auf den sozialen Bereich bezogen, stellt besonders Bernard Lazare in der Verborgenen Tradition den Archetypen eines politischen Parias dar und wird damit zu so etwas wie einer Inkarnation von Arendts politischem Handlungsbegriff.
Eine editorische Herausforderung
An einem Werk, das auf so „eigentümliche Weise zustande gekommen“ (Arendt, 357) und seiner inhaltlichen Komposition nach nicht auf den ersten Blick zu durchdringen ist – Neu-Auflagen, Hinzufügungen und Bedenken der Autorin bezüglich mittlerweile revisionierter Thesen inklusive – können Herausgeber*innen historisch-kritischer Editionen zeigen was sie können. Und die für den Band verantwortliche Herausgeberin Barbara Hahn und ihre beiden Mitarbeiter*innen Barbara Breysach und Christian Pischel, können. Der Band druckt in Teil I zunächst die 6 Essays inklusive der Zuneigung an Jaspers, in der Version, in der sie ursprünglich als Sechs Essays erschienen sind, ab. Teil II enthält die beiden für die Neuversion von 1976 hinzugekommenen Aufsätze. Teil III dann die englischsprachigen Erstveröffentlichungen und Teil IV die Typoskripte (von denen allerdings leider nur 2 überliefert sind). Das eigentliche Prunkstück der Ausgabe bildet aber der fast 200 Seiten lange Anhang. Der gute erste Eindruck, den der Marx-Band hinterlassen hatte, wird hier bestätigt.
Entstehungs-, Übersetzungs- und Veröffentlichungsgeschichten der einzelnen Texte in den englischsprachigen Zeitschriften und in der deutschen Buchveröffentlichung werden in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert, kommentiert, mit Nachweisen versehen und kontextualisiert. Hierfür werden Briefwechsel zwischen Arendt und Herausgeber*innen der jeweiligen Zeitschriften ebenso mitherangezogen wie Briefe zwischen Arendt, Jaspers und Sternberger bzgl. der Wandlung sowie zwischen Arendt und den Verlegern der verschiedenen Buchversionen. Jeder der Aufsätze erhält zusätzlich einen eigenen umfangreichen Anmerkungsapparat in dem u.a. auch die Reaktionen auf die Aufsätze rekonstruiert werden. Die zweite Band der kritischen Gesamtausgabe bestätigen also was der erste bereits erahnen ließ: Für alle, die mit Arendts Schriften wissenschaftlich arbeiten wollen, ist dieses Editionsprojekt ein Segen. Einziger Wermutstropfen ist dementsprechend auch, dass der nächste Band erst für 2020 angekündigt ist. Dann geht es mit einem weiteren Buch des Übergangs weiter: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik wurde größtenteils von 1929 bis 1933 in Deutschland als Habilitationsschrift verfasst, aber erst 1938 im Pariser Exil vollendet. Erschienen ist sie erst 1957, dann in Großbritannien.
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