DVPW 2018: Die liberale Demokratie vor neuen Herausforderungen?!

Zum Jahresausklang blicken wir in den nächsten beiden Wochen zurück auf den 27. Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, der von 25. bis 28. September in Frankfurt am Main stattgefunden hat. Der heutige Text bildet den Auftakt für insgesamt vier Tagungsberichte, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf die Diskussionen in den zahlreichen Panels zurückschauen: Tobias Adler-Bartels berichtet heute über die diagnostizierten Herausforderungen der liberalen Demokratie, Manon Westphal verfolgt die Debatten um innovative demokratische Praktiken (13.12.), Anton Haffner, Laura Gorriahn und Daniel Staemmler nehmen sich die Diskussionen um soziale Bewegungen vor (18.12.) und Sebastian Berg und Ann-Kathrin Koster interessieren sich für materielle Grenzen der Demokratie (20.12.). Nicht verpassen: Am 19.12. präsentieren wir Euch Tim Königs Twitter-Auslese, die mit einer umfassenden Analyse des digitalen Gezwitschers rund um „#dvpw18“ aufwartet!

„Grenzen der Demokratie“ – das Thema des 27. Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft zielte auf die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Polarisierungen, die sich schon in der Doppeldeutigkeit des Kongressmottos selbst widerspiegeln: Während rechtspopulistische Bewegungen oder autokratische Regime die Limitierung einer weiteren Demokratisierung fordern, macht der politikwissenschaftliche Diskurs gerade diese vielfältigen Negationen, Pathologien und Herausforderungen der imperfekten liberalen Demokratie und deren progressive Überwindung zum Thema.

Die einführende Podiumsdiskussion zu den „Grenzen der Demokratie“ benannte zentrale Herausforderungen, die im weiteren Kongressverlauf in einzelnen Panels vertieft wurden. Zunächst verwies Wolfgang Merkel in seinem Beitrag auf die externen Kosten der territorialen Entgrenzung durch die Globalisierung und vertrat gestützt auf Robert Dahl die These, dass sich kleinere Gemeinschaften besser demokratisieren lassen als große heterogene Einheiten wie bspw. die Europäische Union. Somit stand die Frage im Raum, in welchem Verhältnis eigentlich die räumliche Ausdehnung zur Qualität der (liberalen) Demokratie steht (1). Dass die Demokratie keine voraussetzungslose Herrschaftsform ist, sondern auf soziale Räume der gesellschaftlichen Integration sowie einen gewissen Loyalitätsvorschuss ihrer Bürger*innen angewiesen ist, daran erinnerte Tine Stein. Im Zuge der jüngsten Diskussionen um Echokammern und Filterblasen stellt sich aber dann die drängende Frage wie eine ‚demokratische Sittlichkeit‘ (Stein) in den digitalen Öffentlichkeiten gewährleistet werden kann (2). Inwiefern eine streitbare Demokratie die Polarisierung politischer Diskurse aushalten und kanalisieren muss, thematisierte Nicole Deitelhoff und verband dies mit einem Plädoyer für eine mutige politische und politikwissenschaftliche Streitkultur. Aus der Perspektive eines solchen den Dissens betonenden Demokratieverständnisses können die gegenwärtigen populistischen Bewegungen dann auch als eine Bereicherung der Demokratie betrachtet werden, um die in der empirischen Demokratietheorie konstatierte ‚Repräsentationslücke‘ (Merkel) zu schließen. Offen bleibt dabei jedoch, welche Ursachen und Motive die Konjunkturen des Rechtspopulismus beeinflussen (3). Mit Blick auf die politische Ideengeschichte ist die liberale und repräsentative Demokratie ohnehin ein relativ junges Phänomen und die Kritik ihrer Institutionen, Akteure und Normen war zu allen Zeiten Teil ihres Selbstverständnisses – der Rekurs auf die Geschichte der Demokratiekritik verrät uns dementsprechend immer auch etwas über den Umgang mit gegenwärtigen Herausforderungen (4).

(1) Größe und Demokratie – Empirische Grenzen der normativen Grenzenlosigkeit?

Das von Dirk Jörke und Andreas Nölke geleitete Panel „Größe und Demokratie“ erinnerte zunächst daran, dass die Idee der Demokratie bis zur Neuzeit untrennbar mit kleinen (Verwaltungs-)Einheiten und direktdemokratischer Partizipation verknüpft war. Erst in der Debatte zwischen Federalists und Anti-Federalists – in der paradoxerweise die semantische Diskreditierung des kleinräumigen antiken Demokratie-Begriffes erst die Vorstellung einer modernen Demokratie im Flächenstaat ermöglichte – wurde Größe zum politischen Argument, wie Jörke eingangs rekonstruierte. Jedoch blieb die These einer Verknüpfung von Quantität und Qualität – je größer die Demokratie, desto liberaler ihre Ordnung – nicht lange unwidersprochen. Skadi Krause verwies hierzu auf Alexis de Tocqueville und seine Betrachtungen „Über die Demokratie in Amerika“ (1835), in der die Unabdingbarkeit lokaler und kommunaler Selbstverwaltung für eine demokratische Willensbildung betont wurde.

Das zweite Teil des Panels reflektierte am Beispiel der Europäischen Union die Grenzen der demokratischen Ausdehnung. Während in der (politikwissenschaftlichen) Theorie großen politischen Einheiten grundsätzlich eine höhere Umsetzungskapazität zugesprochen wird, weist die politische Praxis der EU in Bezug auf die jüngsten Krisen (Eurokrise, Migrationskrise, Brexit) hier ein massives Defizit auf, wie Andreas Nölke konstatierte. Mögliche Auswege aus diesem europäischen Krisenmodus erörterte Fritz W. Scharpf in seinem Vortrag und kontrastierte hierzu ausführlich die Optionen einer Europäischen Republik sowie einer europäischen demoicracy als Antworten auf die mangelnde Handlungslegitimation der gegenwärtigen EU-Politik.

(2) Digitalisierung – Die privaten Grenzwärter der Öffentlichkeit

Das von Jeanette Hofmann und Thorsten Thiel geleitete Panel „Öffentlichkeit als digitale Plattform: Herausforderung für die Demokratie?“ ergründete verschiedene Aspekte des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit, als dessen wesentliche Merkmale die algorithmische Verarbeitung bzw. Strukturierung von Daten, die massenhafte Archivierung und dementsprechende Verfügbarkeit von Informationen sowie die Vernetzung von analogen und digitalen Welten benannt wurden. Bezogen auf die Öffentlichkeit als konstitutive Voraussetzung einer demokratischen Ordnung beobachtete Claudia Ritzi eine prinzipielle Enthierarchisierung von Standpunkten, potentiell entgrenzte Nutzungsmöglichkeiten sowie einen grundsätzlichen Wandel der individuellen Meinungsbildung in den digitalen Echokammern. Ging mit dem Kollektivsingular Öffentlichkeit bereits im analogen Zeitalter eine allzu grobe Simplifizierung einher, so wird im Zuge der digitalen Transformation die Pluralität der fragmentierten Öffentlichkeiten (im Plural) offensichtlich.

Die Erforschung des digitalen Wandels dient jedoch auch als Indikator für das sich Wandelnde selbst – die (bundesrepublikanische) Medienlandschaft. So wird die eindeutig strukturierte one-to-many-Kommunikation der etablierten Print- und Fernsehmedien durch das many-to-many-Prinzip des Internets ersetzt und auch die Dekonventionalisierung der formellen (bspw. Zwei-Quellen-Prinzip des Pressekodex) sowie informellen Normen des digitalen Medienbetriebs stellen die Funktion der analogen Massenmedien als informationelle gatekeeper grundsätzlich infrage. Während für redaktionell kuratierte Medien – durchaus intransparente – qualitative Kriterien als Maßstab für die Relevanz von Nachrichten gelten, zielen die algorithmisch strukturierten Intermediären (digitale Plattformen, die Vermittlungs- und / oder Filteraufgaben erfüllen) alleine auf quantitative Merkmale – gesellschaftlich relevant ist, was Reaktionen bei den Nutzern hervorruft, wie Christian Stöcker verdeutlichte. Problematisch im politischen Zusammenhang wird es allerdings, wenn in sozialen Medien die individuellen Präferenzbeurteilungen der Nutzer*innen unabhängig von ihren normativen Standpunkten als gleichwertig beurteilt werden. Leonhard Dobusch verwies denn auch noch einmal eindringlich auf das vorrangig monetäre Interesse der Betreiber von digitalen Plattformen.

(3) Grenzen der Erkenntnis – Rechtspopulismus & Identitätspolitik

Im Zuge des globalen Siegeszugs rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien ist die Erforschung dieses ideologischen Zusammenhangs von der Peripherie des Faches ins Zentrum gerückt. Die Frankfurter Podiumsdiskussion „Rechtspopulismus heute – oder: Wieviel Identität verträgt die Demokratie?“ widmete sich allerdings weniger dem Rechtspopulismus als konkreter politischer Bewegung, sondern betrachtete diesen vielmehr als Ausdruck einer gesellschaftlichen Pathologie, dessen Ursachen entweder auf sozioökonomische oder kulturelle Zusammenhänge zurückzuführen sind. Dieser verengte Blick auf die rechtspopulistische Herausforderung ist auf die Verknüpfung des Themas mit der jüngst – u.a. von Mark Lilla und Francis Fukuyama – angestoßenen Debatte um eine vermeintlich fehlgeleitete oder tatsächliche ‚Identitätspolitik‘ zurückzuführen.

Die von Dirk Jörke eingangs geforderte Repolitisierung der sozialen Frage führt die Ursachen des Rechtspopulismus vorrangig auf die ökonomische Spaltung der Gesellschaft durch einen entfesselten Neoliberalismus zurück. Der Vorwurf stand im Raum, dass die identitätspolitischen Bewegungen den ‚Hauptwiderspruch‘ aus den Augen verloren haben. Heike Mauer insistierte demgegenüber auf die eminent soziale Dimension der feministischen Anerkennungskämpfe, die jedoch von großen Teilen der Politikwissenschaft weitestgehend ignoriert würden. Die sozialen Kämpfe der people of colour oder der LGBTQ lassen sich schwer auf einen einfachen sozialstrukturellen Nenner bringen, wie Vanessa Thompson mit Verweis auf die komplexeren Klassenverhältnisse der Gegenwart verdeutlichte. Auch ein Blick auf die vermeintlichen Nebenwidersprüche kann helfen, den Aufstieg des Rechtspopulismus zu erklären. So interpretierte Christian Volk die unerfüllte Sehnsucht des Individuums nach Gemeinschaft als ein wesentliches Movens der rechtspopulistischen Wähler, die durch ansprechende Formen der Artikulation (Volk vs. Elite) ihren alten politischen Milieus den Rücken kehren.

Eine weitere Kontroverse entzündete sich anhand der identitätspolitischen Selbstzuschreibungen der aktivistischen Minderheiten. Winfried Thaa kritisierte die nicht intendierten Folgen und zweifelhafte Vorbildfunktion der Identitätspolitik, denn ein solidarischer Bezug zwischen den unterschiedlichen Gruppen sei aufgrund der vorpolitischen Zuschreibungen unmöglich, solange diese nicht in konkrete politische Forderungen übersetzt werden. Gegen diesen Vorwurf wurde die soziale Konstruktion jeder politisch relevanten symbolischen Kategorie angeführt und auf die unheilvolle Allianz von Neoliberalismus und Sozialdemokratie verwiesen, welche ein Haupthindernis für die Herausbildung von transnationaler Solidarität darstelle. Die Debatte entfernte sich mit dieser Diskussion deutlich von ihrem eigentlichen Gegenstand und offenbarte vielmehr grundsätzliche erkenntnistheoretische und letztlich auch gesellschaftspolitische Differenzen der sozialwissenschaftlichen Teilbereiche.

(4) Statt eines Ausblicks – ein Blick zurück

Globalisierung, Digitalisierung und Rechtspopulismus – die Herausforderungen der liberalen Demokratien erscheinen eng mit gegenwärtigen Entwicklungen verbunden. Das von Veith Selk und Thomas Biebricher geleitete Panel „Die Grenzen der Demokratie: Diskurse der Demokratiekritik im 19. und 20. Jahrhundert“ bot dabei interessante Anknüpfungspunkte für eine kritisch-historische Einordnung der jüngsten Entwicklungen.

Dass die gegenwärtige rechtspopulistische Herausforderung an eine lange Tradition der Demokratiekritik anknüpft, verdeutlichte Sara Gebh mit Verweis auf die Persistenz der Demokratiefeindschaft seit der Antike. Hierzu rekonstruierte sie drei paradigmatische Modi der Demokratiekritik: die philosophische (am Beispiel Platons), die theologische (Thomas von Aquin) sowie die staatszentrierte (Thomas Hobbes). Die dahinterstehende demokratiekritische Logik lässt sich als ein syllogistischer Schluss beschreiben: Setzt man Freiheit als eine notwendige Bedingung für Demokratie und behauptet weiterhin, dass die entgrenzte (politische) Freiheit konsequenterweise zu Konflikten führe, so sei Demokratie zwangsläufig nur als konfliktbehaftete und instabile Ordnung vorstellbar, die letztendlich in den Bürgerkrieg münde. Anhand von Montesquieu und Benjamin Constant legte Gebh dar, dass die neuzeitliche Demokratiekritik die prämoderne Angst vor dem Konflikt um zwei markante Strategien der Entpolitisierung erweitere: Einerseits werden politische Konflikte durch eine Übertragung auf das Feld des ökonomischen Wettbewerbs zivilisiert, andererseits immunisiere die Privatisierung der individuellen Freiheit die Politik von öffentlich artikulierten individuellen Ansprüchen. Auch wenn diese Kontinuitätsthese der Demokratiekritik weiterer Unterfütterung bedarf, so bot sie doch eine plausible Erklärung für die ungebrochene Attraktivität des vormodernen antidemokratischen Denkens in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen.

Die Diskussion um die Größe der demokratischen Ordnung wurde von Thomas Biebricher aufgegriffen, der die jungkonservative und ordoliberale Kritik der Massendemokratie in der deutschen Zwischenkriegszeit reflektierte. Beide politische Lager – zum Teil mehr retrospektive Konstruktionen, denn historische politische Bewegungen – waren sich einig in der Ablehnung des gesellschaftlichen Pluralismus, setzten aber auf unterschiedliche Strategien im Umgang mit den neuen Massen. Die Jungkonservativen um Ernst Jünger oder Carl Schmitt wollten die Massen für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren – sei es in Form von Schmitts Legitimationsfigur der homogenen Masse oder Jüngers Romantisierung der heroischen Gemeinschaft der deutschen Soldateska. Dagegen setzten ordoliberale Denker wie Alexander Rüstow, Walter Eucken oder Wilhelm Röpke auf die Einhegung der Massen durch einen autoritären und einheitlichen ‚starken‘ Staat sowie einer Entpolitisierung qua Verrechtlichung (Wirtschaftsverfassung). Beide Strategien erfahren in jüngster Zeit sowohl im nationalen wie internationalen Kontext eine neue Konjunktur und die Politikwissenschaft täte gut daran, die populistische Herausforderung – welche die demokratische Sprache imitiert, ohne die liberalen Normen zu adaptieren – und ihre historischen Formationen weiter zu beleuchten.

Tobias Adler-Bartels ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie & Ideengeschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht im Bereich der vergleichenden Ideologieforschung und promoviert zu  Sprache und Ideologie des zeitgenössischen konservativen politischen Denkens in der Bundesrepublik Deutschland.