In der zweiten Runde unseres Buchforums wird Markus Patbergs „Usurpation und Autorisierung – Konstituierende Gewalt im globalen Zeitalter“ kommentiert von Esther Neuhann.
Das Phänomen, das Markus Patberg in seinem Buch Usurpation und Autorisierung einer Reflexion aus Sicht der Politischen Theorie unterziehen möchte, ist die „suprastaatliche Verfassungspolitik“ (10). Wenn unter einer Verfassung „die rechtliche Grundordnung eines politischen Systems“ (9) verstanden wird, ist Verfassungspolitik der Modus, in dem diese Grundordnung gestaltet wird, „sei es im Gründungsmoment oder bei Revisionen“ (9). Bei suprastaatlicher Verfassungspolitik handelt es sich also um die politische Gestaltung der rechtlichen Grundordnung von politischen Systemen oberhalb der staatlichen Ebene, etwa der Europäischen Union.
In meinen Rückfragen an Patberg werde ich mich insbesondere auf das vierte und fünfte Kapitel des Buches beziehen.
Im vierten Kapitel möchte Patberg die verbreitete Skepsis gegenüber konstituierender Gewalt als „vermeintlich paradoxale und mythische Kategorie“ (9) zurückweisen. Dabei geht es noch nicht speziell um konstituierende Gewalt jenseits des Staates, sondern konstituierende Gewalt simpliciter. Die ‚Rettung‘ der konstituierenden Gewalt ist für Patbergs Argumentation entscheidend. Das liegt daran, dass er sich die Frage, wann das Zustandekommen bzw. die Veränderung von (supranationalen) Verfassungsnormen normativ richtig ist, darüber erschließen möchte, die folgende vorgelagerte Frage zu beantworten: Wer ist das „Subjekt konstituierender Gewalt jenseits des Staates“ und wie kann sich konstituierende Gewalt „legitim artikulieren“ (14)? Wenn sich konstituierende Gewalt prinzipiell einer vernünftigen Betrachtung entziehen würde, könnte er seine Forschungsfrage nicht beantworten. Daher diskutiert er in diesem Kapitel zunächst drei theoretische Modelle verfassungsgebender Gewalt (Ackerman, Colón-Ríos und Kalyvas). Patberg würdigt alle drei Modelle, kommt aber zu dem Schluss, dass sie alle noch keine hinreichende Lösung (aber wichtige Bausteine) für „den theoretischen Konflikt zwischen Offenheit und Begrenzung und das praktische Problem der Artikulationsformen des pouvoir constituant“ (143) bereitstellen. Und diese beiden Schwierigkeiten tragen gerade dazu bei, der Kategorie der konstituierenden Gewalt ihren (vermeintlich) mystischen oder paradoxalen Charakter zu verleihen. Eine vollständig adäquate Theorie verfassungsgebender Gewalt, so die These dieses Kapitels, steht also noch aus, weshalb sich Patberg ihrer Ausarbeitung widmet.
Im fünften Kapitel möchte Patberg der Vermutung entgegentreten, dass Habermas, von dem er seine Methode übernimmt, entweder die Aufgabe einer rationalen Rekonstruktion der Verfassungspolitik selbst schon unternommen hat, oder, dass es in einem Habermas’schen Framework überflüssig sei, diese Aufgabe gesondert anzugehen (vgl. 175). In Bezug auf die erste Alternative konzentriert sich Patberg darauf zu zeigen, dass das „System der Rechte“ (ein Herzstück von Habermas’ Rechts- und Demokratietheorie) als das Ergebnis einer rationalen Rekonstruktion der „demokratische[n] Praxis in ihrer verfassten Form“ (176, meine Hervorh.) und nicht der Praxis verfassungsgebender Gewalt gesehen werden muss. Anschließend leistet er dort eine rationale Rekonstruktion nationaler Verfassungspolitik, die zu einer Ergänzung von Habermas’ Demokratie- und Rechtstheorie führt (188-196), die Patberg grundsätzlich befürwortet. Die rationale Rekonstruktion nationaler Verfassungspolitik stellt für die Behandlung suprastaatlicher Verfassungspolitik (später im Buch: Kapitel 6 und 7) eine wichtige Grundlage dar.
Das vierte und fünfte Kapitel sind also Schritte auf dem Weg – oder räumen Hindernisse aus dem Weg – zu Patbergs eigenen Vorschlägen, an welchen normativen Prinzipien die legitime Ausübung von konstituierender Gewalt (innerstaatlich sowie jenseits des Staates) sich bemessen lassen muss und in welchen institutionellen Formen dies möglich wäre. Diese wegbereitenden Schritte möchte ich in drei Bemerkungen in Teilen problematisieren und davonausgehend meine Lesart von Patbergs Buch benennen.
Im Einzelnen möchte ich erstens (1.) aufwerfen, dass man in Faktizität und Geltung (im Folgenden: FuG, ich zitiere die 4. Auflage in der Suhrkamp-Ausgabe 1994) durchaus Stellen finden kann, in denen Habermas sich mit Verfassungspolitik als Revision auseinandersetzt (Bezug Kapitel 5). Patberg unterscheidet zum Ende des Buches zwischen drei Stufen der Aktivierung konstituierender Gewalt: der vorstaatlichen, der innerstaatlichen (Revision) und der suprastaatlichen (260). Zweitens (2.) möchte ich die These in den Raum stellen, dass die Thematisierung von Verfassungspolitik als Gründung (erste Stufe) aus einer Habermas’schen Perspektive tatsächlich überflüssig ist (Bezug Kapitel 5). Zudem leuchtet mir auch die Auseinandersetzung mit dieser vorstaatlichen Stufe der Aktivierung konstituierender Gewalt bei Patberg nicht vollends ein (Bezug Kapitel 4 und 5). Und drittens (3.) möchte ich davonausgehend erläutern, warum sich Patbergs Buch für mich als Plädoyer für eine zweistufige Legislative liest.
1. In Kapitel VI. von FuG setzt sich Habermas ausführlich mit der „Rolle und Legitimität von Verfassungsrechtsprechung“ auseinander. Nun ist ein Verfassungsgericht nicht auf den ersten Blick eine Institution, die als verfassungspolitischer Akteur im Sinne Patbergs gelten kann (abgesehen von der Frage, ob sie ein legitimer verfassungspolitischer Akteur wäre). Denn das Verfassungsgericht soll nicht geltendes Verfassungsrecht revidieren (geschweige denn ursprünglich erlassen), sondern bestehendes Verfassungsrecht auslegen. Nun begleitet zumindest die Arbeit des deutschen und amerikanischen Verfassungsgerichts stets die Kritik, dass ihre Urteile ‚zu politisch‘ seien, in dem Sinne, dass sie ihre Rolle als Anwender geltenden Rechts überschritten und eher neues Recht schafften.
In Bezug auf Habermas’ Auseinandersetzung mit der Verfassungsrechtsprechung möchte ich eine Stelle hervorheben, an der es mir so erscheint, als würde Habermas dem deutschen Verfassungsgericht (faktische) verfassungspolitische Kompetenz zuschreiben. Dann könnte man sagen, dass Habermas sich an dieser Stelle sehr wohl mit Fragen der Verfassungspolitik zweiter Stufe auseinandersetzt.
So sei laut Habermas eine Aufgabe des deutschen Verfassungsgerichts die „abstrakte[] Normenkontrolle“ (FuG 295), d.h. die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von einfachen Gesetzen, unabhängig vom konkreten Fall. Für Habermas betrifft diese Funktion „unmittelbar“ „die Tätigkeit der Legislative“ (FuG 297) oder gehört gar „unbestritten zu den Funktionen des Gesetzgebers“ (FuG 296). Man könnte in Bezug auf Patbergs Definition von Verfassungspolitik auch sagen: Bei der abstrakten Normenkontrolle werden „die Spielregeln kollektiv verbindlichen Entscheidens selbst zum Gegenstand“ (9) in dem Sinne, dass die Normen, die aus diesen Spielregeln hervorgegangen sind, überprüft werden (und damit auch die Spielregeln zur Disposition stehen).
Für Habermas „[bedarf] [d]ie Übertragung dieser Kompetenz [zur abstrakten Normenkontrolle, E.N.] auf ein Verfassungsgericht [der Judikative, E.N.] […] zumindest einer komplexen Begründung.“ (FuG 296) Es ist für ihn ebenso denkbar, dass die Aufgabe der abstrakten Normenkontrolle, die für Habermas eine „Selbstreflexion“ der Legislative (FuG 295) darstellt, auch – und aus Sicht der Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtstaats womöglich besser – von einer legislativen Institution übernommen werden könnte (vgl. FuG 295 und 297).
Damit soll gesagt sein, dass sich in Bezug auf die Aktivierung der konstituierenden Gewalt als Revision (oder einer Legislative zweiter Ordnung) womöglich bei Habermas mehr gewinnbringende Anschlusspunkte gefunden hätten als Patberg offengelegt hat (vgl. insb. 181f.). Darüber hinaus wäre es interessant zu erfahren, wie Patberg das Verhältnis der Legislative zweiter Ordnung zu Verfassungsgerichten, der Judikative zweiter Ordnung, sieht.
2. Wenn sich für die konstituierende Gewalt im vorstaatlichen Sinne bei Habermas allerdings tatsächlich keine Anschlusspunkte finden lassen, dann scheint mir das aus Habermas’ Perspektive konsequent. Patbergs eigener Umgang mit der konstituierenden Gewalt erster Stufe mutet stattdessen eher ausweichend an.
Zunächst möchte ich eine Überlegung von Tobias Lieber präsentieren, die für die Themen von Patbergs Buch zumindest erwägenswert ist. Lieber schreibt:
„Wo […] die klassische Verfassungstheorie trennt zwischen einer anarchischen und prä-institutionellen pouvoir constituant sowie einer institutionell gebändigten pouvoir constitué, da unterscheidet Habermas zwischen den formellen und den informellen Sphären der politischen Willens- beziehungsweise Meinungsbildung. Der jegliche Institutionalisierung rechtfertigende Diskurs wird den Institutionen nicht zeitlich vor, sondern eher aus ihnen heraus verlagert.“ (Tobias Lieber: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, Tübingen 2007, S. 113f.)
Anders gesagt: Die Einsicht, dass ein rechtlich institutionalisiertes Verfahren immer nur annäherungsweise die normative Idee der Demokratie realisieren kann, wird bei Habermas nicht einfach darauf zurückgeführt, dass jede Institutionalisierung faktisch durch eine willkürliche Macht (die anarchische konstituierende Gewalt) zustande gekommen ist und deshalb notwendig fehlerhaft sein muss. Stattdessen ist für Habermas jede institutionelle Ordnung prinzipiell ergänzungswürdig durch nicht formalisierte Prozesse. Vielleicht hat Habermas also mit der Betonung der Zweigleisigkeit der Demokratie das Problem der konstituierenden Gewalt (erster Stufe) verlagert. Die nicht formalisierten Prozesse behalten bei Habermas allerdings, im Gegensatz zu Patberg, ihren unkontrollierbaren Charakter (vgl. etwa FuG 434f.).
Auch für die erste Stufe verfassungsgebender Gewalt nennt Patberg nämlich ein „Set nicht-juridischer Prinzipien“ (191), an der sich legitime Verfassungsgebungsprozesse orientieren müssen. Die erste Stufe verfassungsgebender Gewalt ist die einzige Stufe, die als ungebändigte oder anarchische in Frage kommt, denn die dritte „suprastaatliche Stufe“ (260) bezeichnet Patberg erhellenderweise als „externe Variante der regulierten Verfassungsänderung [Stufe 2, E.N.]“ (ebd.), d.h., dass sie sich immer schon auf verfasste Systeme bezieht (anders als die erste Stufe).
Ich möchte nun die Frage stellen, ob die Tatsache, dass Patberg dieses „Set nicht-juridischer Prinzipien“ für die „vorstaatliche Stufe“ (260) anbieten kann, nicht letztlich darauf schließen lässt, dass die Verfassungspolitik, die sich daran orientieren soll, doch gewissermaßen als in einem weiten Sinne zugehörig zur zweiten Stufe (Revision) gelten muss. Dafür muss man sich vor Augen führen, dass Patberg mit der Methode der Rationalen Rekonstruktion auf diese Prinzipien kommt. Aber welche Praxis unterzieht er der Rationalen Rekonstruktion? Die verfassungsgebende Praxis derjenigen, die sich schon darüber einig sind, dass sie gemeinsam in einer „Grundordnung eines Systems der Selbstgesetzgebung freier und gleicher Bürger“ leben wollen (188, Hervorh. entfernt, E.N.). Damit, dass es selbstwidersprüchlich wäre, wenn diese Praxis etwa selbst Gleichheit (als eines der nicht-juridischen Prinzipien Patbergs) nicht verkörperte, stimme ich mit Patberg überein (vgl. etwa 320). Dadurch hat er auf den ersten Blick den entscheidenden „Offenheit-Begrenzungs-Konflikt“ (Kapitel 4) gelöst, da die nicht-juridischen Prinzipien konstitutiv (und nicht beengend) für die Praxis sind (196). Aber damit lässt sich noch nichts darüber aussagen, warum eine Gruppe von Menschen überhaupt in einer demokratischen Grundordnung leben wollen sollte.
Das veritable anarchische – oder offene – Moment der verfassungsgebenden Gewalt befindet sich vor – oder in Habermas‘ Fall neben – der Tatsache, dass es eine verlässliche Einigung gibt, demokratisch zusammen leben zu wollen oder zu leben. Wenn man wiederum dieses anarchische Moment ausschalten wollte, müsste man dies, wie es etwa Rainer Forst versucht, in Bezug auf die moralische Ebene tun (zum Übergang der moralischen zur politisch-rechtlichen Ebene bei Forst im Vergleich zu Habermas vgl. Forst: „The Justification of Basic Rights. A Discourse-Theoretical Approach“, in: Netherlands Journal of Legal Philosophy, 2017, S. 21).
3. Davonausgehend sehe ich den Ertrag von Patbergs Buch insbesondere darin, dass er überzeugend dafür argumentiert, dass sich auch die Verfassung eines demokratisch (bereits) verfassten politischen (Rechts)Systems einem demokratischen Zugriff nicht entziehen darf. Dieser Zugriff (Revision) muss dabei allerdings unterschieden werden von der einfachen Ausübung legislativer Gewalt, es sollte also eine zweistufige Legislative geben. Eine zweistufige Legislative scheint mir deshalb normativ wünschenswert zu sein, weil sie auch dasjenige gewährleistet, was Ingeborg Maus der Gewaltenteilung von (einfachgesetzlicher) Legislative und Judikative zuschreibt: das „freiheitssichernde Auseinanderziehen der Entscheidungen über Entscheidungsprämissen und der inhaltlichen Entscheidungen selbst“ (Ingeborg Maus: „Perspektiven des ‚reflexiven Rechts‘ im Kontext gegenwärtiger Deregulierungstendenzen. Zur Kritik herrschender Konzeptionen und faktischer Entwicklungen“, in: Kritische Justiz, 1986, S. 405). Patberg zeigt gelungen auf, inwiefern dieses „freiheitssichernde Auseinanderziehen“ im „globalen Zeitalter“ durch die „Usurpation“ verfassungsgebender Gewalt durch nationalstaatliche Exekutivgewalten gefährdet ist und wie man dieser Gefahr begrifflich und institutionell entgegentreten kann.
Esther Neuhann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Leibniz-Forschungsgruppe Transnationale Gerechtigkeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Dissertation „Zeitstrukturen des Rechts. Über die Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit“ hat sie vor kurzem eingereicht.
1. Das “ … Auseinanderziehen der Entscheidungen über Entscheidungsprämissen und der inhaltlichen Entscheidungen selbst“ ist doch DIE, – zumindest eine der diskursive(n) (discurrere= auseinanderlaufen) Bewegung(en) per se -, – und bei weitem nicht in einer Zweistufigkeit erschöpft bzw. damit erschöpfbar, – auch nicht bei Beschränkung auf nur eine Sphäre wie Staatlichkeit, Verfassungskonstituierung, informell-prästaatliche Normationen/Wertsetzungen, „Geburtlichkeiten“ wie Born-ierungen, Natio-nen usw.
2. stößt jedes konsequentere „Auseinanderziehen“ der Entscheidungsprämissen notwendig ins „Paradoxale“ vor, wie die Diskursgeschichte zumindest seit 1800 belegt, – dessen potentielle „Lösungen“ im „Vernünftigen“ wesentlich legitimations- u. damit wirkungs-/geltungs-schwächer ausfallen, als die antagonal-diametralen „Widersprüche“ darin aufgestellt sind, z. B. als sinnstiftende Bornierungen u. ä. , so dass zu deren „Bewältigung“ – im Sinne eines Aushaltens der Widersprüchlichkeiten im „dennoch Weiterleben/-machen“ – hohe Subjektlasten in- und extrinsisch zu tragen sind, – mit dem Effekt des erheblichen Transzendenzbedarfes von der übersteigenden/übersteigerten Subjektivität (vergl. im Vorkommentar die „Subjektsurrogate“ als pseudogeniale „Führer“ usw.) bis zur Jenseitigkeitsorientierung.
3. bleibt es seltsam, bei diesem skrupulösen Detailniveau doch noch von Suprastaatlichkeit zu sprechen, wo doch diejenige Staatlichkeit offenbar gemeint ist, die sich lediglich oberhalb der hist. m. o. w. kontingenten Einzelstaaten etabliert. Was sich da vollzieht, ist selbst Staatswerdung, – auch wenn das entstehende Bild davon vieles hist. Bekannte aus den Einzeslstaaten zunächst „vermissen“ lässt.
(Witzigerweise wird die Verweigerung der Anerkennung dieser Staatlichkeit oft damit begründet, diese neuen Staatlichkeiten oberhalb der Einzelstaaten verfügten ja kaum bis gar nicht über „eigene“ Finanz- Personal- und Sachmittel, – so, als ob nicht auch in allen Einzelstaaten die Mittel je aus Untergliederungen stammten!)
4. darf man vor diesem Hintergrund gespannt sein, wie Patberg bzw. seine Rezensent/inn/en der >> „Usurpation“ verfassungsgebender Gewalt durch nationalstaatliche Exekutivgewalten … begrifflich und institutionell entgegentreten“ << zu können glauben.