theorieblog.de | Heimat: Mit Adorno an der Trinkhalle

9. Oktober 2018, Dormal

– Nachdem Tine Stein und Samuel Salzborn die Debatte zu Begriff und Idee der Heimat in der letzten Woche kontrovers eröffnet haben, nimmt Michel Dormal „Heimat!?“ heute aus Perspektive der Kritischen Theorie in den Blick. –

Keineswegs geht es darum, den Heimatbegriff affirmativ zu rehabilitieren. Aber ihn einfach zu verwerfen, wäre ebenso billig. Unausgesprochen weist er auf Brüche und Ambivalenzen unserer Erfahrung hin. Hier sollte Politisches Denken ansetzen. Das Heimweh und die Sehnsucht nach dem vielleicht nur eingebildeten, jedenfalls aber meist verlorenen Glück, das wir mit Heimat und Kindheit verbinden, ist keineswegs politisch bedeutungslos. Es ist auch nicht so, dass Heimat primär eine Sache der radikalen Rechten wäre. Für letztere ist die Welt kein heimeliger Ort, sondern Schauplatz eines Kampfes, in dem man sich behaupten und zum Opfer bereit sein muss. Hingegen können wir bei einem ins Exil geflohenen Antifaschisten wie Jean Améry lesen, dass es „nicht gut ist, keine Heimat zu haben“.

Wie schon Tine Stein im Eröffnungsbeitrag anmerkt, lässt sich der deutsche Begriff Heimat nicht übersetzen. Jean Améry umschreibt ihn in Jenseits von Schuld und Sühne als „Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen“. Wir erkennen Heimat, weil wir immer schon mit ihr vertraut sind. Und wir trauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir dieser „Kenntnis-Erkenntnis“ vertrauen. Ich deute das so, dass Heimat da ist, wo eine unmittelbare Passung und glückliche Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt besteht. Darüber wo dieser Ort zu finden ist, gehen die Ansichten auseinander. Stadtviertel, Region und Nation sind nur einige Kandidaten. Für andere mag es der Dialekt oder, wie die WAZ anlässlich des „Tages der Trinkhalle“ im Ruhrgebiet meinte, der Kiosk um die Ecke sein. Manch hartgesottener linker Kritiker des Nationalismus lässt zugleich kein Heimspiel seines seit Jugendtagen geliebten Fußballvereins aus. Was Heimat ist, lässt sich schwer positiv definieren. Jeder verbindet damit andere Erfahrungen. Trotzdem dürfte die Vorstellung von Heimatlosigkeit intuitiv bei den meisten Menschen wohl ähnliche Assoziationen von Verlust, Unbehagen und Orientierungslosigkeit hervorrufen.

Was Heimat genau ist, ergibt sich strenggenommen immer nur im Blick zurück. Unterscheiden und benennen kann sie nur, wer nicht (mehr) ganz in ihr aufgeht. Kulturanthropologie und Migrationssoziologie wissen davon viel zu berichten: Was vorher schlicht alltägliche Lebenswelt und Routine war, lernt man erst in der Fremde als Heimat zu begreifen, zu schätzen – und zu vermissen. In den Worten des ins Exil geflohenen Améry „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“. Viele Migranten machen diese Erfahrung, sie ist aber keineswegs auf das Verlassen des Ursprungslandes beschränkt. In schwächerer Weise sind wir alle heimatlos, Emigranten, in dem Sinne, dass die vertraute Welt, in der wir aufgewachsen sind, irgendwann vergeht. Wir können nicht mehr dahin zurück, wo wir herkommen. Wer als Erwachsener die Orte seiner Kindheit wieder aufsucht, bei dem verbindet sich die vage Vertrautheit bald mit Entfremdung. Wo einst Wiesen waren, stehen Neubaugebiete. Die alten Nachbarn sind längst geschieden. Die frühere Schule aus Brandschutzgründen neugebaut. Und Trinkhallen im Ruhrgebiet werden heute öfter von freundlichen Tamilen betrieben als von kauzigen Figuren aus Peter-Thorwarth-Filmen. Wer Heimat sucht, dem gleitet sie aus den Fingern.

Trotzdem beschließt niemand geringeres als Ernst Bloch sein Hauptwerk mit der Verheißung von etwas, das „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. Auch bei Adorno ist ein verwandtes Motiv stark. In einem Brief schreibt er 1957 an Max Horkheimer, dass dem Versuch der Veränderung der Welt immer auch „etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes, Anachronistisches“ innewohne. Zwar setze man sich damit dem Vorwurf aus, reaktionär zu sein. Gleichwohl lebe die Sehnsucht nach Veränderung nicht zuletzt immer auch ein Stück weit vom „Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist“.  Dieses nostalgische, konservative Motiv sperrt sich gegen die Exzesse von rein in die Zukunft gerichteten politischen Projekten, die neue Menschen und eine radikal neue Gesellschaft erschaffen wollen. Die Veränderung der Welt beginnt mit Trauer und unterhält eine schwache Beziehung zu einem Verlorenen, von dem wir zehren, ohne es zurückholen zu können.

Bloch schließt daran gleichwohl zuletzt doch wieder die Utopie einer nichtentfremdeten Welt an. Auch Oskar Negt versteht Heimat ähnlich als positive Utopie. Für ihn bedeutet der Begriff die „konkrete Nähe einer Welt, welche die Menschen selbst herzustellen entschlossen sind und in der sie sich wohlfühlen, weil es ihre Welt ist“. In solchen Sätzen ist der problematische Horizont marxistischer Entfremdungskritik nicht zu übersehen. Problematisch ist nicht nur das zugrundeliegende Produktionsparadigma – die Vorstellung, dass Freiheit das bewusste Herstellen von Dingen sei, in denen wir uns dann als Schöpfer der Welt wiedererkennen können. Es wird damit auch schlicht zu viel versprochen. Heimat kann nicht hergestellt werden. Überzeugender scheint es mir, die Trauer über den Heimatverlust nur als ein mögliches Motiv einer Sorge um die Welt zu begreifen – einer Haltung, die nicht gleich das Verlorene in der Utopie retten will, wohl aber sich politisch verantwortlich fühlt, im Schatten dieses Verlusts die Welt für Menschen zumindest weiterhin gemeinsam bewohnbar zu halten. Bestenfalls in einzelnen, seltenen Augenblicken vermag dabei das Handeln die ‚seltsame Trauer aller Kreatur‘ aufzuhellen, wie Hannah Arendt mit René Char formuliert.

Heimat ist nicht nur flüchtig. Sie ist auch zufällig. Nach dem Krieg war der einzige Ort, an dem Adorno sich ohne Vorbehalte „im Grunde zuhause“ fühlte, das Städtchen Amorbach, der Urlaubsort der Kindheit. Amorbach war ihm lebenslang die Chiffre für das Glück, ohne Angst in gelungener Beziehung mit seiner Umgebung zu sein. Die Erinnerung machte sich an Kleinigkeiten fest. Das vertraute Geräusch des Amorbacher Kopfsteinpflasters glaubte Adorno Jahrzehnte später in Paris unwillkürlich wiederzuerkennen. Zugleich musste der erwachsene Rückkehrer aus der Emigration feststellen, dass der Zauber verflogen ist. Die Orte und Ortschaften, die ihm in der Kindheit so besonders und vertraut gewesen waren, erschienen, mit Abstand betrachtet, eigentlich austauschbar und ohne besondere Tiefe. Dennoch insistiert Adorno, dass an der ursprünglichen Glückserfahrung etwas dran gewesen sein müsse. Die Erfahrung besitzt einen Eigenwert, auch wo sie irrt. Sie wird nicht ungültig, wenn sich später herausstellt, dass es mit der Einzigartigkeit und Magie dieser Orte doch nicht so weit her ist: „dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung“. Im Grunde lasse sich das Glück nur in diesem Irrtum überhaupt erahnen; damit gewinnt dieser aber eine Art praktischen Wahrheitskern.

In der Negativen Dialektik machte Adorno aus diesem verschobenen Verhältnis schlechterdings das Modell metaphysischer Erfahrung in nachmetaphysischen Zeiten. Bei ihm war das auf das Individuum bezogen. In ähnlicher Weise, wobei die Analogie zugegebenermaßen gewagt ist, könnte Politische Theorie auch über das ‚öffentliche Glück‘ nachdenken, also über das Glück, als Mitglied eines Gemeinwesens unter Gleichen handeln zu können. In der Auseinandersetzung über den Stellenwert politischer Gemeinwesen in Zeiten von Migration und Globalisierung argumentieren Kosmopoliten häufig, dass Grenzen und partikulare Zugehörigkeiten zufällig sind und deswegen wenig normatives Gewicht hätten. Rechte lassen sich dagegen universalistisch denken, die normative Substanz etwa der Menschenrechte ist nicht an Nationalstaaten gebunden. Demgegenüber möchten andere Theoretiker am Wert des Besonderen festhalten. Denn die öffentliche Freiheit, als etwas, das im Sprechen und Handeln erfahren werden kann, ist notwendigerweise an bestimmte Erfahrungs- und Erscheinungsräume gebunden. Sie muss irgendwo beheimatet sein. Wo, ist historisch aber in der Tat mehr oder weniger zufällig. Dass Grenzen weder ursprüngliche demokratische Legitimität beanspruchen können noch von Natur gegeben sind, hat die Forschung hinlänglich gezeigt. Diese Antinomie trübt die Freiheit ein. Trotzdem gewinnen die Erfahrungsräume der öffentlichen Freiheit für die Menschen nicht weniger konkreten Sinn und Wert. Sie stiften, um Adornos Formulierung aufzugreifen, noch im Irrtum das Modell der Erfahrung. Das würde mit Blick auf die Migrations- und Kosmopolitismusdebatte einerseits zwar bedeuten, dass keine Gruppe einen alleinigen und exklusiven Anspruch auf den ‚Besitz‘ des Gemeinwesens hat. Andererseits würde diese Haltung uns aber doch einen gewissen Respekt vor den partikularen Erfahrungsräumen der Freiheit nahelegen, die wir nicht leichtfertig preisgeben sollten, nur, weil damit unweigerlich Trennungen eingezogen werden. Vielmehr besteht zwischen beidem ein eigentümlich verschobenes Verhältnis gegenseitiger Unverfügbarkeit. Auf diese Weise zu denken, führt nicht zu einer systematischen Theorie oder Ethik, auch nicht zu einem differenzierten, letztlich aber doch ins Allgemeine aufgelösten Konzept wie dem der Iteration. Stattdessen stellt es eine ständige Aufforderung zum politischen Urteilen dar.

Michel Dormal ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der RWTH Aachen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen der Formwandel der Demokratie, das Verhältnis von Demokratie und Nation und immer wieder mal auch die Kritische Theorie.


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