Heimat als normativer Anker?

— Nach Cornelius Moriz‘ Argument für Heimat als Gebot der Solidarität, macht Christian Aldenhoff nun die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte für einen skeptischen Blick auf Heimat!? im politischen Bereich fruchtbar. —

Muss Heimat als Begriff in der entsprechenden gegenwärtigen Debatte von den Akteuren der „politischen Mitte“ zurückerobert werden? Der Versuch, die Herkunft einer Person als bedeutsam für die Konstitution von Werten zu statuieren, ist nicht neu. Sowohl auf lokaler, regionaler als auch auf nationaler Ebene dürfte es Anknüpfungspunkte für etwas geben, was viele im jeweiligen Kontext mit Heimat verbinden können. In individueller Hinsicht kann eine solche Vorstellung möglicherweise eine sinnvolle Funktion bei der eigenen Konstruktion von Identität haben. Als politischer Begriff ist Heimat jedoch für die Begründung normativer Werte prinzipiell ungeeignet. Im Folgenden wird argumentiert, dass der Begriff politisch verwendet zwangsläufig zu einer Form der Ausgrenzung führt, die es zu vermeiden gilt. Im Hinblick auf die Verwendung des Begriffs etwa durch Rechtspopulisten erscheint dies evident. Aber auch anspruchsvollere Ansätze wie der von Alasdair MacIntyre entgehen dieser Problematik nicht. In einer pluralen Gesellschaft sollte die vornehmliche Aufgabe der Politik darin bestehen, zwischen unterschiedlichen Auffassungen keine unüberbrückbaren Hürden zu schaffen, sondern zwischen ihnen zu vermitteln. Es ist daher für politische Akteure aller Couleur nicht ratsam, Heimat als Begriff in normativer Hinsicht zu gebrauchen.

Sofern Heimat als Begriff nicht nur zum Ausdruck bringen will, in welchem Teil der Erde ein Mensch geboren wurde, sondern darüber hinaus einen normativen Gehalt haben soll, muss dies besonders begründet werden. Einen solchen Versuch hat Alasdair MacIntyre unternommen. Zwar verwendet er nicht direkt den Begriff der Heimat. Stattdessen stellt er auf den Begriff des Patriotismus ab, den er als eine Tugend etablieren will. Inhaltlich besteht jedoch eine unverkennbare Nähe. Patriotismus stellt bei MacIntyre auf eine Haltung ab, bei der die Mitglieder einer Gemeinschaft sich mit bestimmten moralischen Vorstellungen identifizieren, die sie als ihre Errungenschaften begreifen. Verfestigte Traditionen verstetigten sich so zu einem verbindenden Projekt dieser Gemeinschaft. Heimat im Sinne eines solchen Projekts ist demnach nicht beliebig, sondern die Gemeinschaft, aus der man stammt. Sie habe konstitutive Auswirkungen für die eigene Konstruktion von Werten. Nur die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften könnten vollständig verstehen, welche Werte, genauer: welche konkrete Interpretation von Werten für sie zu gelten hätten. So könnten unterschiedliche Gemeinschaften den Wert der Freiheit schätzen. Was mit diesem jedoch en détail zum Ausdruck gebracht werde, ergebe sich insbesondere aus den Geschichten, die zur Bildung der jeweiligen Gemeinschaften beigetragen hätten. Diese seien aber gerade nicht identisch, weshalb auch das jeweilige Begriffsverständnis nicht vollständig austauschbar sei. Aus dieser Relativität der Werte folge, dass jede Gemeinschaft zunächst nur die eigenen Normen anerkennen könne. Zwischen Konflikten von unterschiedlichen Gemeinschaften könne daher nur bedingt in einem Dialog vermittelt werden. Wo dies jedoch scheitert, habe jede Gemeinschaft das Recht, ihre Interessen mit den für notwendig gehaltenen Mitteln durchzusetzen.

Eine solche Auffassung steht in sichtbaren Kontrast zu jenen Theorien des politischen Liberalismus, die Werte und Rechte primär vom Individuum ableiten. Kennzeichnend für die meisten solcher Ansätze ist, dass ein Primat des Rechten vor dem Guten angenommen wird. Danach hat jeder Mensch formale Rechtspositionen, die insbesondere dessen Freiheit schützen sollen, damit man für sich selbst herausfinden kann, welche Konzeption des Guten man anstreben will. Der Staat selbst verhält sich gegenüber einer bestimmten Konzeption des Guten neutral. Begrenzt werden die individuellen Rechte vornehmlich durch die Anerkennung, dass allen anderen ebenfalls diese Rechte zustehen. Jede Theorie der Menschenrechte basiert auf solchen Voraussetzungen, sofern damit der Anspruch einhergeht, dass sie bereits durch ihre universelle Begründbarkeit Geltung beanspruchen können. Sie gelten somit für alle Menschen gerade unabhängig von historischen, kulturellen und geographischen Umständen. Ein solches Verständnis von Politik kann Heimat als Kategorie nicht verorten, da hierdurch die Neutralität des Staates bei der Zuschreibung von Rechten aufgehoben würde.

Welche Auffassung verdient den Vorzug? Zunächst erscheint die Beobachtung von Kommunitaristen wie MacIntyre oder Sandel zutreffend, dass Werte oder ein bestimmtes Verständnis von Begriffen wie Gerechtigkeit besonders durch die Umstände der Erziehung und des Umfeldes, in dem man aufgewachsen ist, beeinflusst werden. Menschen sind sozial situiert und können vermutlich nur bedingt von den Einflüssen ihrer Umgebung abstrahieren.  Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass es für die Identitätsbildung von Menschen hilfreich sein kann, ein bestimmtes Gefühl der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu teilen. Es ist für Einzelne nachvollziehbar, wenn sie in einer komplexer werdenden Welt eine damit einhergehende Vereinfachung von Sachverhalten suchen. Es sollte jedem Menschen offenstehen, sich in entsprechenden Vereinen oder Vereinigungen freiwillig zu engagieren. Die Pluralität solcher Vereinigungen kann dazu beitragen, eine selbstgewählte Identität auszubilden, selbstverständlich begrenzt durch die Anerkennung der Rechte aller anderen Mitmenschen. Nicht jede Form der Vereinfachung ist bereits problematisch. Vermutlich sind bestimmte Formen sogar notwendig, um unseren Alltag meistern zu können.

Ob daraus jedoch gefolgert werden kann, dass Normen nur dann intersubjektiv verständlich gemacht werden können, wenn man die Bedeutung der zu Grunde liegenden Begriffe in einem bestimmten historischen Kontext erlernt hat, ist damit noch nicht gesagt. Zunächst ist es keinesfalls ausgemacht, dass es keine normativen Konzeptionen gibt, welche kulturübergreifend gelten würden. Das Tötungsverbot etwa wird von jeder Gemeinschaft anerkannt. Ähnliches dürfte für das Gebot gelten, dass ein Versprechen einzuhalten ist oder dass man die Wahrheit sagen soll. Abweichungen finden sich jedoch innerhalb der Rechtfertigungen, wann dieses Verbot zu suspendieren ist. Dass man aber nach Rechtfertigungstatbeständen sucht, setzt voraus, dass man die Geltung der Grundnorm bereits anerkannt hat.

Politik sollte sich daher zunächst darauf konzentrieren, möglichst viele Gemeinsamkeiten sowohl zwischen Bürger*innen als auch zwischen Staaten zu finden, die als gemeinsame Grundlage für eine friedliche und freiheitliche Koexistenz dienen können. Es gilt zunächst auszuloten, wie weit die gegenseitige Akzeptanz von Werten und Normen reicht. Das Ziel sollte darin bestehen, eine Begründung von Normen anzustreben, welche für jede Person zustimmungsfähig ist.

Dabei ist anzuerkennen, dass der stetige gesellschaftliche Wandel immer wieder nach einer neuen Aushandlung verlangt. Die Idee eines bestimmten Projekts einer Gemeinschaft, wie es sich MacIntyre vorstellt, passt hiermit jedoch nicht zusammen. Die Idee einer Wahrung einer bestimmten Vorstellung von Heimat stellt eine rückwärtsgewandte Projektion dar, deren Inhalt durch die Deutungshoheit von derjenigen Instanz bestimmt wird, welche diese entwirft. Durch eine solche Fokussierung wird der Blick für gemeinsame Vorstellungen von normativen Prinzipien verstellt, da die jeweilige Konzeption von Heimat ein Autoritätsargument darstellt, welches von anderen Personengruppen, welche angeblich nicht die gleiche Herkunft teilen, nicht in Frage gestellt werden kann.

Dieser Anspruch gilt auch für die politische Praxis, selbst im gegenwärtigen, emotional aufgeladenen politischen Klima. Politische Forderungen sollten stets den Anspruch erheben, dass alle sie als legitim betrachten können. Sofern Rechtspopulisten entgegen dieser Forderung dennoch versuchen, über bestimmte emotionale Assoziationen ein ausgrenzendes Verständnis von Heimat zu mobilisieren, kann die politische Antwort nicht sein, ein eigenes letztlich ebenfalls arbiträres Konzept von Heimat entgegenzustellen. Es stellt sicher keine kleine Herausforderung dar, in einem emotional aufgeladenen Klima mit rationalen Argumenten wie der allgemeinen Geltung von Menschenrechten zu überzeugen. Dennoch stellt dies gegenüber der strategischen Verwendung des Begriffs der Heimat den politisch verantwortungsvollen Umgang dar.

 

Christian Aldenhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“ an der Universität Passau und promoviert über das Thema „Informationelle Privatheit als Rechtsbegriff“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Rechtsphilosophie sowie das Datenschutz- und Lauterkeitsrecht.

3 Kommentare zu “Heimat als normativer Anker?

  1. Ein schöner und interessanter Beitrag, allerdings stellt der Autor die Position von MacIntyre meines Erachtens etwas verfälscht dar. Seine Idee von „Gemeinschaft“ ist – anders als der Autor es nahelegt – gerade kein Plädoyer für eine „rückwärtsgewandte Projektion“, die sich einer „neuen Aushandlung“ ihrer Werte und Normen irgendwie verschließen würde. Vielmehr vollzieht sich für MacIntyre die Suche nach dem Guten auch innerhalb einer Gemeinschaft ganz wesentlich im Modus einer „Vorwärtsbewegung“ und somit im Horizont einer Tradition, für die es geradezu konstitutiv ist, dass sie „durch Kritik und Erfindung die Grenzen dessen überschreitet, was bisher in dieser Tradition gefolgert worden ist“ (VT, 295f.). Auch bestreitet er nicht, dass eine gemeinschaftszentrierte Tugendethik als ihr Gegenstück „eine Vorstellung vom moralischen Gesetz braucht“ (VT, 268). Von einem fortschritts- und diskursfeindlichen Konservatismus à la Burke ist MacIntyre so weit entfernt, wie man nur sein könnte.

  2. Sofern Rechtspopulisten entgegen dieser Forderung dennoch versuchen, über bestimmte emotionale Assoziationen ein ausgrenzendes Verständnis von Heimat zu mobilisieren, kann die politische Antwort nicht sein, ein eigenes letztlich ebenfalls arbiträres Konzept von Heimat entgegenzustellen.

    Aber genau das wir von teilen der Union praktiziert. Traurig aber wahr. Ich sehe auch ein Problem darin das in den Medien die AFD in jedem dritten Satz erwähnt wird. Das ist so, als ob ich einen Fliegenschiss zum Dünger von einem Hektar Land mache. Wir müssen sie stellen, in jeder Talkshow, antworten von ihnen einfordern und wir werden erkennen wie sie tatsächlich ticken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert