– Nachdem Tine Stein und Samuel Salzborn die Debatte kontrovers eröffnet haben und nachdem Michel Dormal am Dienstag bereits den Blick auf „Heimat!?“ in der Kritischen Theorie gelenkt hat , plädiert Stefan Vennmann heute ebenfalls aus Perspektive der Kritischen Theorie dafür, den Begriff in seiner Ambivalenz zu verstehen. –
Der Begriff ‚Heimat‘ dient gegenwärtig rechtspopulistischen, völkischen und neonazistischen Akteuren. Diese versuchen den politischen Raum mittels rassistischer und ontologischer Kategorien, die vermeintlich unterschiedlichen ‚Ethnien‘ ein wie auch immer geartetes naturgegebenes ‚Sein‘ und somit bestimmte Eigenschaften attestieren, einer Rebiologisierung zu unterziehen. Eine Kritik an diesem Verständnis ist aus emanzipatorischer Perspektive notwendig. Dennoch verkommt diese Kritik häufig zum Beißreflex, der den philosophischen Gehalt des Begriffs Heimat unzureichend reflektiert. Vom Begriff soll sich verabschiedet, stattdessen auf Termini wie Solidarität rekurriert werden und ‚Heimat‘ ‚ganz einfach‘ den Rechten überlassen werden. Die biologisierte Dominanz eines auf Exklusivität und Ausgrenzung konzentrierten Heimatbegriffs ist zwar gegenwärtig wie historisch wirkmächtig, es sollte aber nicht vorschnell geurteilt werden, einem kritisch-philosophischen Begriff von Heimat komme eine solche Komponente sui generis zu. Insbesondere mit Bezug auf Theodor W. Adorno soll im Folgenden dafür plädiert werden, den Begriff in seiner Ambivalenz zu verstehen.
Der Ablehnung des völkischen Verständnisses ist aus politischen Gründen definitiv zuzustimmen, begriffsanalytisch scheint hier aber das philosophisch komplexe Phänomen der Heimat der Pauschalisierung geopfert zu werden. Es muss keine vollständige Etymologie geleistet werden, um festzustellen, dass dem Begriff auch andere Attribute zugeschrieben werden können. Während Oswald Spengler den völkischen „Drang nach Geltung und Macht, der pflanzenhaft und rassenhaft mit der Erde, der ‚Heimat‘, verbunden bleibt“ illustrierte, wird Heimat mit anderer Akzentuierung auch von progressiven Denker*innen verwendet.
Progressive Regressivität
Erich Mühsam schrieb, dass Volk und Vaterland einem emanzipatorischen Verständnis von Heimat entgegenstünden. Für ihn ist der Heimatbegriff durch die Spaltung der Menschen in Klassen, mit der Unterwerfung vieler unter die abstrakte Herrschaft des Kapital, seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt. Heimatverständnis besitzt lediglich noch der Bauer, der als Bestandteil des von ihm beackerten Grundes Heimatliebe statt Vaterlandsbewusstsein empfindet. Im Bauer manifestiert sich die Heimatliebe, sofern er nicht als Ausgebeuteter dem bäuerlichen Naturgefühl schon völlig entfremdet ist. Die Pflicht, sich einer als Heimatliebe getarnter Vaterlandsliebe – und damit Staat, Nation und Kapital – zu unterwerfen, kennen die Bauern nicht. Sie haben wahre Heimatliebe, eine natürliche Verbundenheit zu den Früchten der Erde, durch die sie sich gegen das Gift nationalistischer Einflüsse immun zeigen.
Tatsächlich ist diese Verbundenheit mit Natur und Boden ein zentrales Motiv, die historisch wie gegenwärtig in neurechter Theorie und Praxis ein Zurück zur Natur fordert. Ernst Jünger etwa phantasierte den Waldgang als ersten Schritt aus der durch Technologie beherrschten modernen Zivilisation herbei, indem er den Wald mit völkischer Mystik anreicherte. So ist es kaum verwunderlich, dass Götz Kubitschek und seine Familie in der ostdeutschen Provinz auf einem alten Rittergut – als ‚die rechten Hippies‘ bezeichnet – ein Leben abseits der ‚hedonistischen Massenkultur‘ leben. Ein Verständnis von Heimat, selbst wenn es im Ideal auf die Assoziation freier Menschen in einer freien Gesellschaft bezogen ist, das sich in Kategorien von Natur und Bodenbezogenheit ausdrückt, birgt das Risiko zum Rückfall in völkische Ideologie. Wie sehr sich gerade die Landbevölkerung zum Nationalsozialismus bekannte, muss Mühsams Vorstellungen, Bauern und Bäuerinnen verkörperten qua Naturgebundenheit das revolutionäre Subjekt, erschüttert haben. Eine Reflexion seiner falschen Hoffnung in die revolutionäre Heimatliebe konnte nicht mehr stattfinden, die SS ermordete den Anarchisten im Juli 1934.
Heimat, dialektisch verstanden
Dieser falschen Hoffnung versucht Adorno, der sich als „mit Schimpf und Schande Vertriebener“ dennoch dafür entschied, nach Deutschland zurückzukehren, mit einer dialektischen Betrachtung zu entgehen. Für Adorno, der zur Emigration gezwungen wurde, ist Heimat das, was nicht ist: Die Gleichzeitigkeit von abstrakter Utopie, konkreter Hoffnung und Vertrauen in die eigene Erfahrung. Adorno erkennt, dass ein einseitiger Bezug auf Heimat philosophisch unbefriedigend sein muss. Heimat gerät in diesem Sinne völlig zu Recht unter „Verdacht von Schwäche und Sentimentalität“, denn solche Gefühle würden unweigerlich die Gefahr bergen, unreflektiert in Vorstellungen zurückzufallen, unter denen der Begriff heute firmiert. Adorno war also nicht einfach vom „subjektiven Bedürfnis, vom Heimweh, motiviert“, sondern erkannte, dass der Bezug auf Heimat und Tradition, der sich auf ein konkretes Stück Land bezieht problematisch, sogar barbarisch ist, meint er doch damals wie heute einen völkischen Exklusionsmechanismus. Der in der Dialektik der Aufklärung illustrierte Rückfall in die Barbarei und der totale Verrat an der Aufklärung durch die Verbrechen der Nazis zwingen nicht zuletzt auch zur Reflexion der Denktradition kritischer Theorie, die Adorno als Dialektik von Traditionellem und Antitraditionellem versteht. Mit dieser Dialektik meint er die Anerkennung der persönlichen Erfahrung in und mit einer wie auch immer gearteten Heimat für die individuelle Entwicklung in Form kultureller Sozialisation sowie die gleichzeitige, radikale Ablehnung des real umgesetzten Prinzips völkischer Heimatverständnisse. Heimat ist – gerade in Deutschland – nur als etwas Beschädigtes erfahrbar.
Für Adorno fließt die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse dennoch mit einem abstrakten Begriff von Heimat zusammen. Denn die eigene Erfahrung kann der „Bildung von Stereotypen am ehesten“ entgegenarbeiten – und das insbesondere dort, wo das eigene Spezifische bis ins Innerste vermittelt ist, man selbst mit den sozialen und politischen Konstellationen, mit Sprache und Kultur vertraut ist. Darüber hinaus habe die wissenschaftliche Erfahrung in Amerika ermöglicht, die eigene Entwurzelungserfahrungen in Kritik zu wandeln, da es Adorno in der Fremde gelang, den problematischen Gehalt des Heimatbezugs ‚von außen‘ zu betrachten. Mit der Rückkehr nach Deutschland schien Adorno dieser vorherige analytische Blick aus der Distanz das Nachleben des Nationalsozialismus in der demokratischen Nachkriegsgesellschaft noch treffender kritisierbar zu machen. Hier fallen seine eigene Sozialisation in der deutschen Gesellschaft mit der durch Vertreibung erst möglich gewordenen Kritik von außen zusammen, die zur dialektischen Erkenntnis über das Verhältnis zum ambivalenten Begriff der Heimat führt.
Das Verhältnis zu Heimat und Tradition muss daher stets distanziert, kritisch und sogar ablehnend bleiben. Es darf nicht dem Schmelztiegel der Kollektividentität, des Ausschlusses und der Abgrenzung verfallen. Heimat, als das was nicht ist, soll sich auf die Freiheit aller berufen, die historische Erfahrung zur emanzipatorischen Kraft transformieren und gerade nicht in reaktionäre Vergangenheitshuldigung verfallen. Kaum verwunderlich, dass Adorno auf den Begriff der Autonomie zurückkommt, um den Heimatbegriff seiner mythischen-völkischen Autorität zu entreißen. Adorno plädierte für eine Abkehr von Begriffen wie Tradition und Heimat, um gleichzeitig aus den Trümmern, in die ganz Europa im Namen eines völkischen und expansiven Heimatverständnisses gelegt wurde, ein reflexives Begriffsverständnis zu entwickeln. Solche Begriffe seien nur insofern zu benutzen, als dass sie sich der Exklusivität versagen und stattdessen in einem emanzipatorischen Verständnis erblühen.
Den positiven Bezug auf Heimat also gebetsmühlenartig und mit Verweis auf seine völkische Besetzung als reaktionär zu stigmatisieren, erscheint undifferenziert, da ein solches Stigma im Gewand der Kritik die philosophische Reflexion in progressiver Absicht negiert. Es kann wohl zu Recht gefragt werde, ob es besonders passend ist, sich angesichts der aktuellen politischen Situation ausgerechnet auf den Heimatbegriff zu beziehen, da er diskursiv gegenwärtig mit völkischen Attributen ausgestattet ist. Die politische Intervention einer diskursiven Umdeutung, die auf seine positiven Elemente lenkt und ihn völlig aus der völkischen Stigmatisierung löst, scheint zum Scheitern verurteilt. Dennoch dringt die völlige Ablehnung nicht zum Kern vor, denn wie Jean Améry passend formulierte, müsse man „Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“. In eben jene Kategorie werden viele derjenigen fallen, die sich vermeintlich kritisch zum Begriff äußern und ihn pauschal ablehnen. Nicht nur, dass die Forderung eines kosmopolitischen und hyperindividuellen Überall-in-der-Welt-Zuhause-Seins als Trend einer Amalgamierung von ideologischem Heimatverzicht, zunehmender Flexibilisierungstendenzen globaler Arbeitsmärkte und damit als Apologie neoliberaler Zersetzung von Sozietät interpretiert werden kann. Darüber hinaus leugnet die pauschale Ablehnung ebenso wichtige philosophische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts, die die erzwungene Heimatlosigkeit und die Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit zum Movens insbesondere der Anstrengungen jüdischer Exil-Intellektueller machte.
Stefan Vennmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der TU Dortmund und promoviert am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen zur Kritischen Theorie kollektiver Schuld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Theorie, Theorien kollektiver Schuld und Verantwortung, Antisemitismus und die Philosophie der Neuen Rechten.
Améry hat das sehr treffend auf den Punkt gebracht. Dabei kann man Heimat haben, auch ohne sie physisch zu besitzen. Die Sehnsucht nach der Heimat ist eigentlich die Sehnsucht nach bestimmten Umständen. Aber die Welt entwickelt sich ständig weiter, sodass geografische Lage, die man als Heimat bezeichnete, sich nach 30 Jahren so weiterentwickeln kann, dass man mit der geografischen Lage nicht mehr die gleichen Gefühle verbindet. Diese kann man aber an einem anderen Ort wiederfinden, der uns an den anderen Ort vor 30 Jahren erinnert. Somit ist Heimat für mich ein gewisser Zustand, der reproduzierbar ist und nicht an einen gewissen Ort gebunden ist.
Der Unterschied zwischen einer Verneinung des Begriffs Heimt, die Vennmann hier problematisiert und des von ihm angebotenen negativen Heimatbegriffs, scheint zunächst eher schmal.
Sofern „Heimat, als das was nicht ist“, ein formales Surplus gegenüber dem Satz, ‚Heimat ist nicht‘ besitzt, muss der Ort einer darauf fußenden „philosophische Reflexion“ genauer bestimmt werden. Das heiße, die Voraussetzungen zu bestimmten, unter denen sich diese zwei Sätze – die Heimat als falsche Kategorie bestimmen – wesentlich unterscheiden.
Indem Heimat, als falsche Konkretion einer negativen Utopie der Geborgenheit, gegen die Vereinzelung des Subjekts der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird, kippt Vennmans feinsinnige Kritik letztlich in Kitsch. Darin wird jedoch genau jenes Moment erfasst, auf das seine Kritik sich richtet. Kitsch ist das, was nicht ist. Heimat ist Kitsch im besten Loos’schen Sinne: Soziale Verbundenheit als ein Ornament auf gesellschaftlichen Verhältnissen, deren komplexe Form und Funktionalität eine solche Verbindung längst an kompensiert haben. (1) In eben dieser ornamentalen Äußerlichkeit unterscheidet sich „Heimat, als das was nicht ist“, von einer nicht-seienden Heimat. Sie wird praktiziert, ist darin seiend ohne ein ontologisches Sein. Eine Marx’sche Antwort auf die Erkenntnis würde sich zunächst nicht auf das Negative eines Heimatsbegriffs richten, sondern auf eine banalere Erkenntnis: Wir sind tatsächlich nirgendwo auf der Welt zuhause. Wie könnte auch jemand, der über die Mittel zur Reproduktion seiner Existenz – wie den eigenen Lebensort – nicht verfügt, diese sein Eigen nennen? Oder plakativer: „Die Arbeiter[*innen] haben kein Vaterland.“ (2)
Heimat zeigt sich hierin nicht als ein negatives Versprechen, sondern als konkrete Abwesenheit. Dafür steht das von Vennmann herangezogene Beispiel des Staats Israel par excellence. Denn das real-historische Fundament Israels ist ja eben nicht die Verbindung des Volkes Israels mit ihrer judäischen Heimat, sondern die Katastrophe der Shoa. So ist Israel auch kein Ort der Geborgenheit, sondern ein permanent bedrohter und minimaler Schutzraum. Dieses Minimum vermittelt kein utopisches Versprechen, sondern leitet sich einzig und allein aus jenem materiellen Zwang ab, der sich für Jean Amery in der auf seinen Arm tätowierten ‚Auschwitznummer‘ materialisierst:
„Sie ist auch verbindlicher als Grundformel jüdischer Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“ (3)
Nur in diesem Sinne kennt Heimat, wer keine Heimat hat. Heimat ist kein negativ-utopisches Versprechen, Heimat ist der konkret materielle Fluch einer Existenz, die gerade nicht allerorts zu Hause sein kann. Wenn es ein resilientes Versprechen in Bezug auf Heimat gibt, dann ist dieses – im Horkheimer’schen Sinne – weniger in negativer Utopie, als in der Realität bürgerlicher Gesellschaft zu finden: Ein individuelles Subjekt das in Gesellschaft bei sich sein kann. Das heißt, die subjektive Autonomie zu wählen wo man zu Hause ist, nicht die vorgefundene Identität mir den eigenen Umständen.
Darin ist Vennmanns begriffliche Grundunterscheidung absolut richtig. Es reicht nicht, die Heimat zu verneinen. Es bedarf einer Überwindung jener Verhältnisse, die das Bedürfnis nach Heimat selbst bedingen. (Heim-)Weh spricht: Vergeh!
1 Loos, Adolf (2000): Ornament und Verbrechen. Adolf Loos: Ornament und Verbrechen: Aus-gewählte Schriften; die Originaltexte. Wien. S. 192-202.
2 Marx, Karl / Engels Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. MEW 4. Berlin. S. 479.
3 Jean Améry (2002): Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Werke Bd. 2. Stuttgart. S. 168.
Lieber Felix,
danke für die Denkanstöße. Ich verstehe deinen Text nicht als prinzipielle Kritik an meinem Text, sondern vielmehr als seine konsequente Weiterführung. Auch wenn ich deinen Punkt zum Israelbezug inhaltlich völlig teile, bin ich mir nicht klar, wo ich mich auf diesen Sachverhalt geäußert haben soll. Mit den Erfahrungen jüdischer Exil-Intellektueller verwieß ich eher auf die unmittelbar (in meinem Fall) Adorno und Améry zum Nachdenken gebracht haben. Hier ging es mir mehr um die Erfahrung mit der NS-Verfolgung und -Vernichtungspolitik, auch hier verstehe ich deine Auführungen als Weiterentwicklung der von mir nur skizzierten Thesen. Deinem emphatischen Ausruf zur Überwindung der Verhältnise, die das Bedürfnis nach Heimat erst hervorbingen, stimme ich ebenso vollig zu.
Nur in diesem Sinne kennt Heimat, wer keine Heimat hat. Heimat ist kein negativ-utopisches Versprechen, Heimat ist der konkret materielle Fluch einer Existenz, die gerade nicht allerorts zu Hause sein kann. Wenn es ein resilientes Versprechen in Bezug auf Heimat gibt, dann ist dieses – im Horkheimer’schen Sinne – weniger in negativer Utopie, als in der Realität bürgerlicher Gesellschaft zu finden: Ein individuelles Subjekt das in Gesellschaft bei sich sein kann. Das heißt, die subjektive Autonomie zu wählen wo man zu Hause ist, nicht die vorgefundene Identität mir den eigenen Umständen.
Zuhause ist ein Ort, an dem immer alles gut sein sollte. )