theorieblog.de | Den Staat wieder spüren – Heimat und Infrastruktur

23. Oktober 2018, Nolte & Westermeier

— Amina Nolte und Carola Westermeier richten zum Start der letzten Woche unserer Heimat!?-Reihe den Blick auf die Bedeutung von Infrastruktur und damit auf die materielle Dimension von Heimat und Heimatpolitik. —

„Zusammenhalt“ und „gleichwertige Lebensverhältnisse“ sind die erklärten Ziele des Bundesministeriums des Innern, für Bau und – seit dieser Legislaturperiode – Heimat. Viele öffentliche Beiträge, die sich mit dem Heimatbegriff beschäftigen, haben darauf aufmerksam gemacht, dass Diskurse um Zugehörigkeit auch immer Ausgrenzungsprozesse erzeugen und dass ein Gefühl von Heimat mitunter Ergebnis eines langen Prozesses sein kann. Was in diesen Diskussionen wenig Beachtung gefunden hat, sind die sich konkretisierenden politischen Maßnahmen, die keineswegs nur auf Identitätsdiskurse und Leitkultur abzielen, sondern eine durchaus handfeste materielle Dimension implizieren. Ganz konkret geht es dem Bundesministerium in Bezug auf Heimat weniger um Emotionen und Identitäten als „um Infrastruktur, um Kultur, um Daseinsvorsorge. Da müssen sehr handfeste strukturpolitische Entscheidungen getroffen werden,” wie der Abteilungsleiter des neuen Heimatministeriums kürzlich im STERN erklärte. Auf diese Weise bekommt der eher abstrakte und umstrittene Heimatbegriff mittels des scheinbar unproblematischen Begriffs der Infrastruktur eine konsensfähige materielle Grundlage. Denn angesichts maroder Straßen, schlechter Netzversorgung und chronisch überlasteter Bahntrassen wird der Aufruf zum Infrastrukturausbau gemeinhin sehr begrüßt. Der Ausbau und Betrieb von Infrastrukturen als zentralen Versorgungssystemen, die Gesellschaft erst ermöglichen, steht jedoch in einem engen Zusammenhang mit dem Ausbau der Sicherung eben dieser Systeme. Infrastrukturpolitik, hier verstanden als techno- und biopolitische Regierung der Gesellschaft, wird somit zum Gegenstand sicherheitspolitischer Bedenken und Maßnahmen, durch die staatliche Akteure in Kooperation mit privaten Anbietern ihren Zugriff auf die Bevölkerung unhinterfragt ausbauen können. Der Zusammenhang von Heimat, (privatisierter) Infrastruktur und Sicherheit soll deshalb in diesem Beitrag einer kritischen Analyse unterzogen werden.

Mit Bezug auf Infrastruktur als Mittel und Weg der „Heimatpflege” nutzt das Ministerium den bekannten Begriff der Daseinsvorsorge. Geprägt von Ernst Forsthoff im Jahr 1938, bezeichnet Daseinsvorsorge die staatliche Bereitstellung aller unmittelbar zum Lebenserhalt notwendigen Leistungen und Güter. Er umfasst die Verbindung des Staates zu seinen Bürgerinnen und Bürgern in Form von deren Durchdringung mit daseinserhaltenden Maßnahmen und Strukturen – und damit gleichzeitig auch die Notwendigkeit zum permanenten Schutz eben jener Versorgungssysteme, um deren reibungsloses Funktionieren permanent zu gewährleisten. Infrastrukturpolitik, so zeigt sich im Zusammenhang zur proklamierten Heimatpolitik sehr deutlich, ist Techno- und Biopolitik zugleich. Denn der Zugriff des Staates auf das Leben (und Sterben) seiner Bürger*innen und der sie versorgenden Systeme steht dabei im ständigen Wechselverhältnis von Freiheits- und Sicherheitsdynamiken.

Infrastrukturen als Lebensadern moderner Gesellschaften sollen schaffen, was angesichts zunehmender Globalisierung und unter dem Primat des „mehr Markt, weniger Staat“ auf der Strecke geblieben ist: gleichwertige Lebensverhältnisse und das Gefühl von staatlicher Vor- und Fürsorge. Allerdings ist die Versorgung entlegener Gegenden für viele private Versorger schlichthin zu aufwendig und wenig profitabel. Das hat Innenminister Seehofer als Problem benannt: „Heimat geht verloren, wenn der Ortskern verfällt, die Nachbarhäuser leer stehen, wenn Infrastruktur verlorengeht, wenn in den Städten Wohnungen nicht mehr bezahlbar sind oder in strukturschwächeren Räumen geliebte Menschen wegziehen, weil sie nur an anderen Orten bessere Lebenschancen sehen.”

Heimat als Zusammenhalt, Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit – das sollen die Menschen in Deutschland deutlicher erfahren und zwar vor allem mittels handfester Strukturmaßnahmen. Investitionen in neue Infrastruktur, der Ausbau existierender Infrastruktur und eine bessere Anbindung von ruralen Gebieten an infrastrukturelle Versorgungsnetze sollen die Menschen den Staat wieder spüren lassen. Infrastrukturelle Maßnahmen dienen jedoch stets den dem doppelten Zweck von Versorgung und Kontrolle. Denn der Ausbau und Betrieb von Infra-Strukturen erweist sich zugleich auch als Regierungstechnik. Staatliche Institutionen nutzen sie, um Handeln durchzusetzen, um Menschen sehen, zählen, ordnen und steuern zu können. Bereits Michael Mann hat die „infrastrukturelle Macht“ des Staates als politisches Ordnungsprinzip in Demokratien hervorgehoben. Die infrastrukturelle Durchdringung der Gesellschaft mit staatlichen Leistungen umfasst dabei eben nicht nur die einseitige Bereitstellung von Ressourcen (Wasser, Strom, Internet, Straßen, öffentliche Verkehrsmittel etc.), sondern zugleich auch das Erfassen, Ordnen und Intervenieren in die Abläufe des gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst.

Dieser doppelte Nutzen von Infrastruktur lässt erahnen, warum das Heimatministerium als Teil des Innenministeriums ein besonderes Interesse am Ausbau von Infrastrukturen haben könnte. Dem Zugriff des Staates auf und durch Infrastrukturen liegt nämlich ein Ordnungsprinzip zugrunde. Infrastrukturen ermöglichen gesellschaftliche Abläufe und Routinen, die Zirkulation von Personen, Gütern und Daten sowie die Aufrechterhaltung hochkomplexer interdependenter Systeme. Sie werden Teil sicherheitspolitischer Erwägungen, indem sie den Zugriff des Staates eben nicht nur ermöglichen, sondern ihn durch ihre ‚Kritikalität‘ und potentielle Vulnerabilität geradezu erfordern. Über die Sicherung dieser Grundstrukturen moderner Gesellschaft beansprucht das Heimatministerium in einem klassischen securitizing move somit Zuständigkeit für einen Politikbereich, dem es eigentlich nicht an Zuständigkeiten mangelt. Infrastrukturpolitik ist bereits Angelegenheit verschiedenster Stellen, u.a. des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie der Bundesländer und Kommunen. Heimatpolitik entpuppt sich somit bei genauerer Betrachtung als Sicherheitspolitik.

Vor dem Hintergrund staatlicher Sicherheitsbemühungen bekommt der derzeit vorangetriebene Ausbau der digitalen Infrastruktur eine weitere Facette, denn hier sind die zentralen Akteure nicht staatliche, sondern privatwirtschaftliche. Bekanntlich ist mit der gewöhnlichen Nutzung des Internets das Produzieren von Daten nahezu unvermeidlich. Dass die Daten dabei nicht von staatlichen Autoritäten, sondern von privaten Firmen gesammelt werden, widerspricht der Logik der Regierungstechnik nicht, sondern ist eher ein Hinweis auf ihren zeitgenössischen Charakter: Insbesondere auf dem Feld der Infrastrukturen bauen Staat und Privatwirtschaft aufeinander auf, ergänzen einander, sind interdependent. In zahlreichen Bereichen, die lange Zeit in öffentlicher Hand lagen, haben private Akteure die einstmals staatlichen Aufgaben übernommen, oder Staatsbetreibe wurden in private Unternehmensformen überführt.

Dass Innenminister Seehofer nun den „vermeintlichen Siegeszug des ökonomischen Liberalismus“ kritisiert und dem neoliberalen Denken „ordoliberales Handeln“ entgegen zu setzen gedenkt, könnte man als Maßnahme gegen zunehmende ökonomische Ungleichheit verstehen. Als Einsicht, dass Flexibilisierung und Prekarisierung ein handfestes Problem für das konservative Projekt darstellen. Neoliberale Politiken haben die materiellen Werte derer zerstört, die sie unter der Ägide des freien Marktes einführten. Der Erwerb des klassischen konservativen Glücks, des Eigenheims, ist dank rasant gestiegener Immobilienpreise für viele Angehörige der Mittelklasse (insbesondere die Nicht-Erbenden) schlicht undenkbar. Dass der Staat sich auch aus dem Wohnungsbau größtenteils zurückgezogen hat, ist ein weiterer Grund für den eklatanten Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Ballungsräumen.

Wenn nun ordoliberales Handeln und ein stärkerer Staat gefordert werden, bedeutet das nicht, dass der Staat seine Aufgaben von privaten Akteuren zurückholt. Vielmehr werden für private Akteure ‚Anreize‘ geschaffen, um in Infrastrukturen zu investieren, die bisher eher unrentabel erschienen. So geschieht es derzeit beim vieldiskutierten Breitbandausbau in ländlichen Gebieten. Dieser passiert oftmals in Form von Kooperationen öffentlicher und privater Akteure. Bürger*innen werden – teilweise schriftlich von ihren Bürgermeister*innen – aufgefordert, sich langfristig an private Anbieter zu binden, die im Gegenzug den Glasfaserausbau versprechen. Dies geschieht jedoch nur unter der Bedingung, dass genügend Einwohner eines Ortes solche Absichtserklärungen abgeben. Die Verträge mit diesen Anbietern sind allerdings deutlich kostspieliger als die der marktüblichen DSL-Anbieter. Außenbereiche bleiben dabei oftmals außen vor. Ein wirklich flächendeckender Ausbau ist nicht rentabel für die privaten Anbieter.

Eines dieser Unternehmen ist die „Deutsche Glasfaser“, die den Heimatbegriff in ihrer Werbung vereinnahmt (siehe Fotos): „Für Sie, Ihre Heimat, Ihre Zukunft“ – lautet ein Slogan. Der Vertragsabschluss wird zur Heimatpflege, denn die Einbindung in die digitale Infrastruktur sichert nicht der Staat, sondern die Bürger*innen. Was der Staat seine Bürger*innen hier fühlen lässt? Zusammenhalt muss man sich leisten können.

 

Amina Nolte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied im SFB „Dynamiken der Sicherheit“ der Universitäten Gießen und Marburg. Sie promoviert zum Konzept der „kritischen Infrastruktur“ und den darauf bezogenen Prozessen von Versicherheitlichung in urbanen Räumen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Fragestellungen zu Mobilität, Affekt und Materialität im Verhältnis zu Infrastruktur(en).

Carola Westermeier ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied im SFB „Dynamiken der Sicherheit“ der Universitäten Gießen und Marburg. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Beziehungen von politischer Sicherheit und Finanzmarktstabilität nach der Finanzkrise. Insbesondere befasst sie sich mit der Beziehung von Sicherheits– und ökonomischer Expertise. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt auf der Konstitution und Sicherung digitalen Infrastrukturen.


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