theorieblog.de | Bericht: Critical Theory Berlin Summer School 2018 „Re-Thinking Ideology“
6. August 2018, Prinz
Die Summer School „Re-Thinking Ideology” (16.-20. Juli 2018) an der HU Berlin bot Einblicke in die Entwicklung neuer Ansätze zur Ideologiekritik sowie Impulse für die Methodologie von (immanenter) Sozialkritik, welche jeweils auf der Verbindung der Traditionslinie der Kritischen Theorie mit gegenwärtiger analytischer Philosophie aufbauten. Ideologie wird häufig mit der marxistischen Idee des „falschen Bewusstseins“ assoziiert. Ideologien sind demnach Bewusstseinsformen, die Menschen dazu bringen, entgegen ihren Interessen zur Reproduktion der sie unterdrückenden Herrschaftsverhältnisse beizutragen. Ideologische Bewusstseinsformen haben gleichzeitig subjektiv bedürfnisbefriedigenden Gehalt und laufen „objektiven“ Interessen zuwider. Die Assoziation von Ideologie mit „falschem Bewusstsein“ führt eine Hauptschwierigkeit heutiger Ideologiekritik direkt vor Augen. Die Idee des „falschen Bewusstseins“ impliziert eine Kluft zwischen Ideologiekritikern und denjenigen, die unter „falschem Bewusstsein“ leiden. Diese Kluft äußert sich in der paternalistischen Behandlung letzterer, denen jede Urteilskraft abgesprochen wird und deren Bewusstseinsformen und Handlungen als Ausdruck von Illusionen verstanden werden, während die Ideologiekritiker beanspruchen, Erkenntnis objektiver Interessen zu besitzen. Der Erfolg neuer Ansätze in der Ideologiekritik hängt davon ab, ob sie einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit finden.
Fünf Tage lang diskutierten die etwa 50 Teilnehmenden der Summer School in Kleingruppen und im Plenum Klassiker (Marx/Engels, Adorno, Du Bois, de Beauvoir, Althusser, Bourdieu) sowie gegenwärtige Texte (der Lehrenden Robin Celikates, Alice Crary, Robert Gooding-Williams, Sally Haslanger, Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Karen Ng, Martin Saar und Titus Stahl; siehe Programmheft). Die interpretative Tiefe und Breite der Diskussionen gegenwärtiger Ideologieverständnisse profitierte vom Rückgriff auf die unterschiedlichen historischen Ansätze. Die zeitgenössischen Texte, die nach Kommentierung durch Teilnehmende sowie Kurzvortrag durch Autor/in im Plenum diskutiert wurden, boten nicht nur einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand zur Ideologiekritik, sondern erlaubten den Teilnehmern, sich direkt in die Ausarbeitung neuer Perspektiven einzubringen.
Passend zum Motiv des Dialogs zwischen Kritischer Theorie und analytischer Philosophie stellte Raymond Geuss’ Abhandlung zu Ideologie in „The Idea of a Critical Theory“ (Cambridge, 1981) den Ausgangspunkt der Summer School dar. Dieser Text bot einen zumindest vorläufigen analytischen Referenzrahmen für die Interpretation von Ideologietheorien in klassischen und gegenwärtigen Texten. Geuss unterscheidet zwischen deskriptiven, pejorativen und positiven Verständnissen von Ideologie. Während Ideologie im deskriptiven Sinne als Gesamtheit gesellschaftsstrukturierender Bewusstseinsformen verstanden werden kann, und positive Ideologien politische Programme bezeichnen, die auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet sind, befasst sich Ideologiekritik vornehmlich mit Ideologie im pejorativen Sinne. Die Kritikwürdigkeit solcher Ideologien hat entweder (a) epistemische, (b) funktionale oder (c) genetische Gründe, das heißt, sie hängt (a) mit der Falschheit von Bewusstseinsformen beziehungsweise Vorstellungen, (b) mit deren Beitrag zur Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsformen, und/oder (c) mit der Art und Weise, wie Menschen zu diesen Bewusstseinsformen gekommen sind, zusammen. In jedem Fall stehen Bewusstseinsformen im Zentrum der Kritik. Geuss’ Text bietet sich daher an, um den Hauptdiskussionsstrang der Summer School in den Blick zu bekommen: die Frage, ob Bewusstseinsformen, Begriffe oder Praktiken im Zentrum von Ideologiekritik stehen sollten.
Ideologiekritik konzentrierte sich historisch auf Bewusstseinsformen und deren Auswirkungen auf Handlungen. Kritik am epistemischen Gehalt von Bewusstseinsformen und an ihrer Genese setzte an deren Falschheit beziehungsweise Widersprüchlichkeit an. So sei etwa die Genese von Bewusstseinsformen ideologisch, wenn sie von den Akteuren nicht eingestanden werden kann, ohne dass sie diese Bewusstseinsform aufgeben wollen. Es ist fragwürdig, ob solche Formen der Ideologiekritik Praktiken kritisieren können, die weder epistemisch defizitär noch in sich widersprüchlich sind (Haslanger, Sally: “Critical Theory and Practice“, Spinoza Lecture, Amsterdam: 2015). Ein Beispiel stellen gegenwärtige rassistische Ideologien dar, die dazu führen, dass die Stereotype, die sie verbreiten, Realität werden (z.B. zur angeblichen Kriminalität von Afro-Amerikanern und zur Kritik kognitivistischer Verständnisse von Ideologie, siehe Haslanger, Sally: “Racism, Ideology and Social Movements“, in: Res Philosophica, Vol. 94, No. 1, January 2017, S. 1–22). Werden Praktiken ins Zentrum von Ideologiekritik gestellt, liegt eine funktionale Interpretation der Kritikwürdigkeit von Ideologien nahe. Falschheit und Funktion sind durchaus analytisch trennbar (Geuss 1981, S. 32). Haslanger versteht Ideologien als unangemessene soziale Techniken, die habituell reproduziert werden. Deren Unangemessenheit hängt mit der Ungerechtigkeit zusammen, die sie verursachen. Da Haslanger davon ausgeht, dass Urteile über Ungerechtigkeit im Rückgriff auf relativ unproblematisch zugängliches moralisches Wissen zu erreichen sind, verlässt sie den Bereich der immanenten Kritik. Sie arbeitet nicht mehr mit den existierenden Ansichten der Akteure allein, um diese zu transformieren, sondern stützt sich auch auf Annahmen darüber, welche moralischen Urteile Akteure in der Lage sein sollten, zu treffen. Die Herausforderung, Maßstäbe für den Ideologiegehalt von Praktiken, über gutes und schlechtes Funktionieren, immanent zu entwickeln, bleibt bestehen.
Die Konzentration auf Praktiken als Ideologieträger brachte das Verhältnis zwischen aufklärender und realer Emanzipation (zurück) auf die Agenda. Haslangers Position stellt letztlich die Trennbarkeit der kognitiven und praktischen Elemente von Emanzipation in Frage und sieht erstere in letzteren aufgehoben. Sie sieht in sozialen Bewegungen die Hoffnungsträger für die Veränderung von ideologischen Praktiken. Überlegungen zur Praxis von Begrifflichkeit und der konstitutiven Bedeutung begrifflicher Unterscheidungen für Praktiken (etwa „slave vs. master“) boten eine Brücke zwischen der Konzentration auf Bewusstseinsformen und auf Praktiken an. Während aufklärende Emanzipation darauf abzielt, die Begriffsinhalte zu verändern, deren die Akteure sich bewusst sind („manifest concepts“ in Haslangers Vokabular), wird in der Theorie des „semantischen Externalismus“, auf welchen sich Haslanger stützt und die auch in Robert Gooding-Williams’ Beitrag eine Rolle spielte, eine Unterscheidung zwischen solchen „manifest concepts“ und den Begriffsinhalten, die sich in den Handlungen der Akteure offenbaren („operative concepts“) eingeführt. „Operative concepts“ können nur durch praktischen Wandel verändert werden. Dieser Umstand legt die Priorität realer Emanzipation in der Ideologiekritik von Praktiken nahe. Diese Priorität könnte dabei helfen, die Kluft zwischen Ideologiekritikern und Ideologien zu verringern.
Eine alternative Sichtweise, die ebenfalls die Bedeutung von sozialen Praktiken für Ideologiekritik betonte und die sich bei Jaeggi, Ng, Celikates und Stahl in unterschiedlichen Ausprägungen wiederfand, identifizierte Erfahrungsblockaden als Kern des Ideologiegehalts sozialer Praktiken. Dieser Ansatz betreibt Ideologiekritik als Kritik zweiter Ordnung, was bedeutet, dass nicht die substantiellen Bewusstseinsformen beziehungsweise Handlungen der Akteure, sondern deren Möglichkeiten, diese zu revidieren beziehungsweise neue Erfahrungen zu machen, mit welchen sie die Spannungen und Widersprüche innerhalb ihrer Bewusstseinsformen und Handlungen auflösen können, im Vordergrund stehen. Dieser Ansatz, der immanenter Kritik verpflichtet ist und von den Lehren der Soziologie der Kritik zur Gefahr einer paternalistischen Ausrichtung von Sozialkritik ausgeht, hielt Ideologiekritik besonders in solchen Fällen für angebracht, in denen die normative Bewertung der Praktiken kompliziert ist. Vertreter beider Sichtweisen zur Bedeutung von Praktiken in der Ideologiekritik stimmten überein, dass weitere Arbeit zum spezifischen Ideologiegehalt von sozialen Praktiken nötig ist und dafür Sozial-, Bedeutungs- und Sprachtheorien einbezogen werden sollten.
Ein Nebenprodukt dieses Hauptdiskussionsstrangs war eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Differenzierungsbedarf zwischen unterschiedlichen Ideologieformen und der Vielzahl von Zielen, Gegenständen und Adressaten von Ideologiekritik. Martin Saar wich von dieser Position ab, da sie eine Abkehr von Marx’ Vorstellung von der (einheitlichen) Ideologie einer Gesellschaft darstellt. Saar problematisierte die Vorstellung, dass soziale Bewegungen außerhalb der Ideologie stehen könnten und schlug vor, Ideologiekritik stärker an Subjektivierungstheorien zu orientieren.
In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, ob ein einziges Ideologieverständnis so unterschiedliche Formen wie die „Deutsche Ideologie“, die Marx und Engels kritisieren, und Alltagsrassismus analysieren und kritisieren kann. Während erstere eine philosophische Repräsentation gesellschaftlicher Entwicklungsstrukturen darstellt, stehen bei letzterer affektiv aufgeladene Alltagspraktiken im Vordergrund. Unterschiede zwischen Ideologien, die sich an die „Unterdrücker“ richten, gegenüber denen, die sich an die „Unterdrückten“ richten, oder solchen, die sich an relative Unbeteiligte richten, sind hier ebenfalls zu beachten. Ob Ideologien stets positive Elemente sowohl für die Unterdrücker als auch für die Unterdrückten enthalten müssen, stellt eine weitere wichtige Frage für zukünftige Arbeiten zu Ideologie dar, genau wie die Frage, ob die (entweder pragmatische oder normative) Akzeptanz seitens der Adressaten dafür notwendig ist, dass Ideologiekritik Fuß fassen kann. Diese Überlegungen führten zur Feststellung, dass die Frage, wann Ideologiekritik die geeignetste Form von Kritik ist, mehr Aufmerksamkeit verdient. Während diese Frage offen blieb, zeigte sich eine gewisse Offenheit der Kritischen Theorie für die Eingrenzung von Ideologiekritik und für ein Nebeneinander mit anderen, „traditionellen“, empirischen Kritikformen in der Sozialkritik.
Janosch Prinz ist Leverhulme Early Career Fellow an der University of East Anglia, UK.
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