— Abschließender Teil unseres Buchforums zu Emanuel Richters „Demokratischer Symbolismus“. Teil 1 gestalteten Luzia Sievi und Marcel Vondermaßen, den zweiten Teil 2 lieferte Anna Meine, den dritten Grit Straßenberger. Hier nun die Replik des Autors. Selbstverständlich sind Kommentare dazu und zur gesamten Diskussion weiter willkommen!
Ich danke Anna Meine, Luzia Sievi, Grit Straßenberger und Marcel Vondermaßen sehr für ihre gründliche Auseinandersetzung mit meinem Buch. Dem normativen Demokratietheoretiker kann nichts Besseres passieren als eine solche tiefenscharfe Lektüre. In der sorgfältigen Interpretation meiner Gedanken finde ich mich durchaus verstanden. Die skeptischen Nachfragen und die Kritik, die sie üben, kann ich nachvollziehen, sie machen Klarstellungen erforderlich.
Ich sehe die Notwendigkeit, zu zwei grundlegenden, bei allen Rezensenten wiederkehrenden Einwürfen Stellung zu nehmen: einerseits zu der dort gehegten Skepsis gegenüber der normativen Intention, die ich mit meinem „demokratischen Symbolismus“ verfolge, andererseits zu der Ratlosigkeit darüber, wie man sich denn eine realpolitische Wirksamkeit des demokratischen Symbolismus vorzustellen habe.
Ein allgemeiner Qualitätsstandard von Demokratie
Der erste Punkt macht noch einmal die Pointierung meiner Grundabsicht erforderlich, die ich im Buch vor allem in Kapitel 4.1 darlege. Lucia Sievi und Marcel Vondermaßen paraphrasieren diese Grundabsicht eigentlich treffend: Mir geht es in der Tat darum, jenseits aller von Akteursinteressen, Machtstrukturen und Interaktionsdynamiken durchdrungenen Demokratieformen den Bezugspunkt für einen allgemeinen Qualitätsstandard von Demokratie zu finden. Dieser muss in der distanzierten Betrachtung eines symbolischen Erfüllungsanspruchs der Demokratie seinen Ankerpunkt finden, um nicht von den Prägungen der vorfindlichen Manifestationen vereinnahmt zu werden.
Damit ist eine Einschränkung meines demokratietheoretischen Unternehmens verbunden, die in den Rezensionen nicht recht angenommen wird: Ich biete kein umfassendes Modell für die Funktionalität von Demokratie, sondern einen Ansatz für einen kritischen Umgang mit all ihren Realisierungsformen. Ich lege also reflexive, zugleich politisch wirksame Haltungen nahe, die das, was unter dem strapazierten Stichwort der Demokratie firmiert, argwöhnisch auf grundlegende Erfüllungsansprüche prüfen. Insofern pflege ich keinen „Anti-Institutionalismus“, wie Grit Straßenberger und auch Anna Meine argwöhnen, weil ich gar nicht reklamiere, ein umfassendes demokratisches Ordnungsmodell zu entwerfen. Ich gelange auf der Basis des gleichrangigen Inklusionsanspruchs allerdings zu einer Grundsatzkritik aller institutionellen Verstetigungen der Demokratie, die in den Verdacht geraten, die beständige Revision aller demokratischen Manifestationen preiszugeben.
Demokratietheorie oder handelnde Bürgerinnen und Bürger?
Mein Verweis auf Haltungen, die in der kritischen Demokratiebeobachtung ihren Ausdruck finden, liefert die Antwort auf einen sehr grundsätzlichen Einwand von Anna Meine am Ende ihrer Ausführungen: Ich scheine einerseits als der aufklärende Demokratietheoretiker aufzutreten, der gewissermaßen die Bürgerinnen und Bürger über das richtige Verständnis der Demokratie belehrt; andererseits schreibe ich gleichzeitig die kritische Beobachtung der Demokratie der Bürgerschaft selbst zu. Diese Spannung gehört freilich zur hermeneutischen Grundstruktur meiner Überlegungen und lässt sich nicht auflösen. Als wissenschaftlich geschulter Analytiker demokratischer Fehlbestände genieße ich zwar das Privileg, in die reine Beobachterposition treten zu können und den Handelnden ihre Positionen und ihr Verhalten erklären und dieses interpretieren zu können. Aber ich imaginiere dabei doch die Selbstbeobachtung von Handelnden, die durch die Reflexion ihres Tuns die Symbolgehalte der Demokratie aktivieren. Als Demokratietheoretiker erkläre ich das hermeneutische Bestreben als etwas, das Bürgerrollen inhärent ist. Das ist höchstens ein – im besten Fall temporärer – Reflexionsvorteil.
Einwände gegen die Praktikabilität eines demokratischen Symbolismus werden von allen Rezensenten vorgebracht. Lucia Sievi und Marcel Vondermaßen, aber auch Grit Straßenberger kritisieren an meinem demokratietheoretischen Bestreben, dass dadurch mein Verständnis von Politik „seltsam frei von Macht“ ausfalle und dass damit das Spannungsverhältnis zwischen der asymmetrisch gestalteten Machtsphäre und der von mir symbolisch konturierten Gleichrangigkeit der Menschen nicht aufgelöst werde. Der Aufrechterhaltung dieser Spannung kommt für mich jedoch konstitutive Bedeutung zu. Es sind gewissermaßen öffentlich vollzogene, hermeneutische Suchbewegungen angesagt, in denen die Abstände zwischen gleichrangiger Präsenz und ungleichen Einflussformen und Einflusschancen immer wieder neu bemessen werden. Das Vorstellungsvermögen von Demokratie erwächst aus einem Bewegungsablauf zwischen Realitätserfahrungen und Symbolverweisen, es wird durch diese Bewegungen beständig neu konfiguriert.
Zugegebenermaßen bleibt damit noch die von den Rezensenten aufgeworfene Frage unbeantwortet, wie man sich denn die symbolbewusste Bürgerin oder den Bürger als handelnde Subjekte vorzustellen habe. Grit Straßenberger kritisiert entsprechend, dass „meine“ Bürger auf dem abstrakten Level realitätsferner Konfliktlosigkeit verharren. Mir geht es nun nicht um die artifizielle Kreation von lauter partizipativen Superbürgern, um realitätsferne Avatare der demokratischen Dauerpräsenz, die den Grundsatz der Selbstregierung des Volkes in die totalitäre Vision einer alle vereinnahmenden Konsensproduktion überführen. Im Kapitel über die Gleichheit (5. 1) habe ich ja darzustellen versucht, wie schwierig die realpolitische Umsetzung eines Grundsatzes der egalitären Gleichrangigkeit ausfällt – sie muss bisweilen zu massiver, staatsinterventionistischer Ungleichbehandlung führen, um Unterprivilegierte, Ausgeschlossene, Marginalisierte und politisch Sprachlose an Gleichheitsstandards heranzuführen. Was mir handlungspraktisch vorschwebt, ist wiederum nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ein Insistieren der Bürgerschaft auf dem Orientierungsmaßstab der Gleichrangigkeit bei allen Versuchen, demokratische Legitimation und vor allem demokratische Strukturen zu etablieren.
Es gibt durchaus realpolitische Ergebnisse eines solchen Symbolbewusstseins. Im Buch habe ich nur die naheliegenden Manifestationen von Protest, Widerspruch und Dissidenz als Beispiele für aktivierte Symbolverweise angeführt. Aber auch die derzeit von Populisten angeheizte Diskussion darüber, wer zum Volk gehört und wie es sich konstituiert, führt durchaus – gegen die Intention zumindest der Rechtspopulisten – zu einer gründlichen öffentlichen Auseinandersetzung mit den symbolischen Dimensionen der Demokratie. Die von Lucia Sievi und Marcel Vondermaßen an mich gerichtete Frage, ob zur Aktivierung von demokratischen Haltungen auch das Betreiben von Wohlstandsverminderung gehören könnte, muss ich mit „ja“ beantworten: Wenn die Gleichrangigkeit durch die strukturellen Vorteile Privilegierter verhindert wird, die sich ihre Vorteile durch eine systematische Benachteiligung anderer Gruppen erkauft haben, dann müssen die Privilegierten Einbußen hinnehmen. In Hinblick auf die wachsende Bereitschaft zur Reaktion auf die anthropogenen Schädigungen der Natur sind uns solche Handlungsimperative der Selbstbeschränkung ja keineswegs völlig unvertraut.
Grenzenlose Gleichrangigkeit und begrenzte Handlungskollektive
An die Fragen nach der Übertragung des demokratischen Symbolismus in die politische Praxis knüpft auch eine sehr präzise Nachfrage von Anna Meine an: Wie gehe ich mit der Spannung zwischen grenzenloser intersubjektiver Gleichrangigkeit und den unabkömmlichen Grenzziehungen zwischen kollektiven Handlungsräumen um? Im Buch gehe ich darauf nicht dezidiert ein. Aber ich bestreite mit meinen Symbolverweisen natürlich nicht, dass sich die Suche nach gleichrangig gestalteten Interaktionsräumen notwendigerweise in partikularen Kontexten abspielt. Idealtypisch ergeben sich daraus nachbarschaftliche Verbände gepflegter Gleichrangigkeit, die sich untereinander ähneln. Realpolitisch bieten sich jedoch unter den zumeist national definierten Interaktionskontexten teilweise eklatante Fehlbestände und Diskrepanzen hinsichtlich des Grades an verwirklichter Gleichrangigkeit dar. Solche Diskrepanzen leisten damit symbolischen Anschauungsunterricht und rufen zur Kritik und Gegenreaktion im Namen der Demokratie auf.
Das aktuelle, rund um Migration und Flucht angesiedelte Problem der Grenzüberwindung und der verschärften Grenzziehung lässt sich mit einem demokratischen Symbolismus nicht lösen, aber doch strukturiert durchdenken. Zuwanderung erschwert die Ermöglichung von Gleichrangigkeit in den Zielländern zunächst für die Einwanderer, in der Folge sozialer und ökonomischer Verwerfungen auch für die Eingesessenen; Abwanderung signalisiert den resignierten Verzicht auf die Forderung gegenüber dem verlassenen Herrschaftsverband, für gleichrangige Inklusion zu sorgen. Wo sich eine Regierung ihres Volks entledigt, herrscht die Perversion der Demokratie, und es wächst die Berechtigung – und der Aufruf – zum Widerstand der Bürgerschaft. Das ist auch ein Aspekt der international eifrig beschworenen „Bekämpfung von Fluchtursachen“. Interventionistische Eingriffe bleiben an basale demokratische Erfüllungsansprüche anzulehnen.
Grit Straßenberger fasst die praxisbezogenen Einwände in dem Zweifel zusammen, ob mein dekonstruktiver Zugang zur Demokratie irgendeine Möglichkeit eröffne, zu einer „performativen Theorie des Politischen“ zu gelangen. Meine Klarstellungen sollten dazu gedient haben, genau diesen Zweifel zu zerstreuen. Die performative Dimension eröffnet sich in dem öffentlich artikulierten Argwohn der Bürgerinnen und Bürger, dass dasjenige, was gemeinhin als demokratische Errungenschaft gefeiert und als demokratische Praxis gepflegt wird, defizitär bleibt in Hinblick auf die Gleichrangigkeit, die der menschlichen Koexistenz eingeschrieben ist. Diese prüfenden Haltungen der Bürgerschaft, zum Ausdruck gebracht in einem beherzten (Um-)Gestaltungswillen des politischen Geschehens, verleihen der Demokratie ihre symbolische Erdung. Häufige partizipative Interventionen der Laien gegen die professionelle Betriebsamkeit der politischen Abläufe, kritische Nachfragen an die Entscheidungsträger, Diskussionen von Alternativen zum Bestehenden sowie eine protestbereite Wachsamkeit sind die bevorzugten performativen Ausdrucksformen solcher demokratischer Haltungen.
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