Beherrschung und Sezession – Andreas Oldenbourgs ZPTh-Artikel in der Diskussion

„Die Gründung der Republik“ lautet der Schwerpunkt des aktuellen Themenhefts (2/2017) der Zeitschrift für Politische Theorie.  In der Verantwortung von Gastherausgeber Andreas Braune behandeln die Beiträge dabei Dilemmata der Entstehung und Erhaltung konstitutioneller Demokratien und ringen um eine „theoriegeleitete Neujustierung des Verhältnisses von Demokratie und Konstitutionalismus“ (Braune, S. 140). Danny Michelsen thematisiert zum Einstieg und bezugnehmend auf Arendt und Jefferson Möglichkeiten der Fortführung des Gründungsmoments in Verfassungsordnungen. Im Anschluss setzen sich Maike Heber mit aktuellen Kritiken und Herausforderungen des italienischen Konstitutionalismus, Dagmar Comtesse mit Lehren aus Rousseaus radikaldemokratischem Volkssouveränitätsverständnis für eine postnationale Republik und Oliver W. Lembcke und Bart van Klink mit dem Böckenförde-Diktum und Voraussetzungen freiheitlicher Ordnungen in Zeiten von Islamismus und Populismus auseinander. Damit umfasst das Themenheft politiktheoretische Analysen und Beiträge zu einigen der dringendsten politischen Fragen der Gegenwart.

Andreas Oldenbourgs Aufsatz zu konstituierender Selbstbestimmung in multinationalen Föderationen gehört ebenfalls in diese Reihe. Wir freuen uns, dass wir ihn im Rahmen unserer bewährten Zusammenarbeit mit der ZPTh kostenlos zum Download zur Verfügung stellen können. Mit Markus Patberg haben wir zudem den passenden Kommentator gefunden, der im Folgenden den Aufschlag zur Debatte übernimmt. Wir laden zugleich alle herzlich ein, mit in die Diskussion einzusteigen und die Kommentarspalten zu füllen. Andreas Oldenbourg wird auf den Kommentar, wie auch auf die Diskussion in den nächsten Wochen antworten. Los geht‘s mit dem Kommentar von Markus Patberg:

 

Beherrschung und Sezession

Zurzeit erinnert uns der Konflikt in Katalonien an die Brisanz von Sezession. Sind unilaterale Abspaltungen zulässig – und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Diese Frage, die seit neuestem auch die politischen Kommentarspalten beschäftigt, steht seit langem im Zentrum der politiktheoretischen Literatur zum Thema. Andreas Oldenbourg meldet sich nun mit einem bemerkenswerten Beitrag zu Wort, in dem er auf eine differenziertere Auseinandersetzung dringt. Im Mittelpunkt steht der schwierige Fall von Gruppen, die sich von (plurinationalen) demokratischen Rechtsstaaten abspalten wollen, die grundsätzlich alle Bürgerinnen als Freie und Gleiche behandeln. Oldenbourg macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung eines Rechts auf unilaterale Sezession in diesem Kontext fehlgeleitet ist, weil sie den widerstreitenden Ansprüchen der verschiedenen Teile der Gesellschaft nicht gerecht wird. Dabei geht es ihm nicht nur um die gleichberechtigte Berücksichtigung der Anliegen von Mehrheitsgesellschaft und nach Unabhängigkeit strebender Minderheit, sondern auch um die Position der jeweiligen internen Minderheiten dieser beiden Gruppen.

Oldenbourgs Analyse stützt sich auf das neo-republikanische Verständnis von Freiheit als Nicht-Beherrschung, das sich bekanntermaßen gegen die Möglichkeit zu willkürlichen Eingriffen richtet. Dabei legt er das Augenmerk auf die Situation struktureller Minderheiten, worunter er Gruppen versteht, deren Mitglieder Eigenschaften teilen, aufgrund derer es wahrscheinlich ist, dass sie bestimmte Abstimmungen verlieren. Daraus resultiert eine ungleiche Kontrolle staatlichen Handelns, die der Mehrheitsgesellschaft Spielraum für willkürliche Eingriffe eröffnet. Mit Blick auf mögliche Lösungen argumentiert Oldenbourg überzeugend, dass Formen substaatlicher Autonomie Sezessionen vorzuziehen sind, weil sich auf diese Weise nicht nur strukturelle Minderheiten, sondern auch deren interne Minderheiten vor Beherrschung schützen lassen. Die zentrale These, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, lautet allerdings, dass „Verfassungen multinationaler Föderationen bis hin zur Sezession anfechtbar sein müssen – ohne dass dies einem Recht auf unilaterale Sezession gleichkäme“ (S. 4). Diese Position stützt sich auf eine Analyse von Beherrschung, die ich kritisch sehe, weil sie nicht auf den rechtlichen Status, sondern auf die soziale Identitätskonstruktion von Akteuren abstellt.

Konstituierendes Volk vs. konstituierende Völker

Unter Bezugnahme auf Pettit geht Oldenbourg davon aus, dass Freiheit als Nicht-Beherrschung einen Anspruch auf verfassunggebende Gewalt begründet. Dem konstituierenden Volk müsse es möglich sein, die Verfassung anzufechten. Deshalb könnten nationale Minderheiten trotz substaatlicher Autonomie einer Form der Beherrschung unterliegen. Und zwar dann, wenn die Regeln der Verfassungsänderung es der Mehrheitsgesellschaft ermöglichten, ihnen die Anfechtung der konstitutionellen Ordnung zu versagen. Die entscheidende Prämisse in diesem Zusammenhang lautet, dass die verfassunggebende Gewalt in multinationalen Föderationen nicht notwendigerweise gesamtgesellschaftlich vorzustellen ist. Sofern sich eine nach Unabhängigkeit strebende Gruppe als konstituierendes Volk verstehe, so Oldenbourg, müsse es ihr möglich sein, die Verfassung anzufechten. Schließlich sei der pouvoir constituant den pouvoirs constitués normativ vorgeordnet. Strukturelle Minderheiten müssten mittels demokratischer Verfahren einen ergebnisoffenen Prozess anstoßen können, innerhalb dessen ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft neu ausgehandelt wird.

Grundsätzlich teile ich Oldenbourgs Ansicht, dass Verfassungen für den Zugriff der verfassunggebenden Gewalt offen sein sollten. Aber wer kann unter welchen Voraussetzungen den Anspruch erheben, ein konstituierendes Volk zu sein? Es ist kontrovers, wie Subjekte verfassunggebender Gewalt zu identifizieren sind. Im Fall von bereits etablierten demokratischen Rechtsstaaten ist es sinnvoll, sich zunächst an der konstitutionellen Ordnung zu orientieren. Unabhängig davon, auf welche Weise ein politisches System ursprünglich hervorgebracht worden ist, kann keiner ihm unterworfenen Person der Anspruch verweigert werden, Teil des pouvoir constituant zu sein – was die Berücksichtigung weiterer Personen nicht ausschließt. Mit anderen Worten: Wen es zu inkludieren gilt, leitet sich zunächst aus der Reichweite der öffentlichen Gewalt ab. Oldenbourg würde dieser Zuschreibung verfassunggebender Gewalt wahrscheinlich nicht grundsätzlich widersprechen, geht aber mit Blick auf plurinationale Staaten von der Möglichkeit der Herausbildung partikularer pouvoirs constituants innerhalb des gesamtstaatlichen pouvoir constituant aus. Das dazugehörige Argument erscheint mir problematisch, weil es die Diagnose von Beherrschung vom Selbstverständnis von Gruppen abhängig macht.

 Gruppenidentität trumpft Verfassungsrealität?

Zur Erinnerung: Wir sprechen über eine konstitutionelle Ordnung, in der Individuen den Status freier und gleicher Bürgerinnen innehaben und strukturelle Minderheiten durch substaatliche Autonomie geschützt sind. Laut Oldenbourg ist trotzdem von Beherrschung auszugehen, wenn sich eine partikulare Gruppe als konstituierendes Volk versteht, die Verfassung aber nicht von sich aus anfechten kann. Diese Sichtweise impliziert, dass Akteure ihre Beherrschung durch abgrenzende Identitätspolitik selbst herbeiführen und mithin einen Anspruch auf verfassunggebende Gewalt begründen können. Ob beispielsweise die Katalanen durch die spanische Verfassung beherrscht werden, hängt demnach davon ab, ob sich die exklusive Identitätskonstruktion der Separatisten durchsetzt oder die inklusive der Unabhängigkeitsgegner, die mit dem Slogan „Wir sind Katalanen, Spanier und Europäer“ auf die Straße gehen.

Aber kann es allein von der Deutung der Akteure abhängen, ob sie sich in einer Situation der Beherrschung befinden? Trumpft Gruppenidentität eine Verfassungsrealität, die allen Bürgerinnen den Status von Freien und Gleichen und mithin die Möglichkeit demokratischer Verfassungsreformen über den Weg der gesamtstaatlichen Mehrheitsbildung garantiert? Wo endet die objektive und wo beginnt die bloß wahrgenommene Beherrschung?

Damit keine Missverständnisse auftreten: Oldenbourg behauptet nicht, dass sich das Selbstverständnis, ein konstituierendes Volk zu sein, beliebig herbeireden lässt. Vielmehr müssen die Mitglieder der fraglichen Gruppe diese Lesart ihrer selbst „auf eine öffentlich nachvollziehbare Art und Weise, insbesondere unter Verweis auf eine geteilte politische Geschichte, vorbringen können“ (S. 6). Das ändert aber nichts daran, dass es letzten Endes nicht der Ansatz der Nicht-Beherrschung ist, der die Argumentation anleitet, sondern die kommunitaristische Überzeugung, dass bestimmten Gruppen aufgrund der sozialen Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern besondere normative Dignität zukommt. Das Recht auf Anfechtung der Verfassung leitet sich aus Vorstellungen „nationaler Selbstbestimmung“ ab, die die Diagnose einer Beherrschung erst ermöglichen (S. 22). Oldenbourgs Position hat somit Gemeinsamkeiten mit Theorien, die aus bestimmten askriptiven Gruppenmerkmalen ein Recht auf unilaterale Sezession ableiten – mit dem wichtigen Unterschied, dass er selbst sich lediglich für das Recht ausspricht, einen Prozess der Verhandlung zwischen Mehrheitsgesellschaft und nach Unabhängigkeit strebender Minderheit zu initiieren.

Das Problem der Letztentscheidung

Dieser Unterschied führt mich zu einer Frage, die ich im Zuge der Lektüre nicht klären konnte: Bei wem liegt das Letztentscheidungsrecht bezüglich der Neuordnung der Beziehungen zwischen Mutterstaat und Sezessionsgruppe? Oldenbourg betont, dass das von ihm vorgeschlagene Recht auf die effektive Anfechtbarkeit der Verfassung nicht mit einem Recht auf effektive Anfechtung zu verwechseln ist. Obwohl sie als konstituierende Völker anerkannt werden, können strukturelle Minderheiten also keine verfassunggebende Gewalt im vollen Sinne geltend machen. Die Mehrheitsgesellschaft ist zwar verpflichtet, in Verhandlungen über geforderte Änderungen der Verfassung einzutreten, nicht aber dazu, ihre Zustimmung zu geben. Liegt die verfassunggebende Gewalt somit letztlich doch beim Gesamtvolk? Oldenbourg umreißt ein Modell für die Organisation von Sezessionsreferenden innerhalb abspaltungswilliger Teilvölker, lässt aber offen, wer solche Abstimmungen im Vorhinein autorisieren oder ihre Ergebnisse im Nachhinein ratifizieren müsste. Da es sich um eine konstitutionelle Angelegenheit handelt, dürfte es wohl kaum ausreichen, dass sich die Verhandlungsdelegationen der Streitparteien auf die Abhaltung eines solchen Referendums einigen. Andernfalls entstünde ein Problem der Beherrschung durch verfasste Gewalten. Wer anderes als der gesamtstaatliche pouvoir constituant könnte also die notwendige demokratische Legitimität zur Verfügung stellen?

Markus Patberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Reclaiming Constituent Power? Emerging Counter-Narratives of EU Constitutionalisation“ an der Universität Hamburg. Sein Buch „Usurpation und Autorisierung: Konstituierende Gewalt im globalen Zeitalter“ ist jüngst bei Campus in der Reihe „Theorie und Gesellschaft“ erschienen.