Von Korrektur bis Verwerfung. Lesenotiz zu „The New Politics of Materialism”

Wenn eine Theorieströmung für sich eine titelgebende Neuheit reklamiert, wie im Falle des ‚Neuen Materialismus‘, drängen sich ad hoc mindestens drei Fragen auf: 1.) Was ist/kann/soll neu am Neuen Materialismus (NM) sein? 2.) Was will der NM/ wogegen wendet er sich? 3.) Woran schließt er an/ was setzt er als ‚alten‘ Materialismus? Der von Sarah Ellenzweig und John H. Zammito herausgegebene Sammelband „The New Politics of Materialism. History, Philosophy, Science“ unternimmt eine überaus kritische Befragung des sogenannten ‚Neo‘- oder Neuen Materialismus entlang der Kritikachsen der Novität, Politizität und der philosophiegeschichtlichen Verortung.

Nun bezeichnet NM ein recht heterogenes, von verschiedenen Disziplinen der Philosophie und ‚Humanities‘ bespieltes Diskursfeld, sodass die Antworten auf die Fragen je nach diskursiver Herkunft und Autorin unterschiedlich ausfielen. Doch sind die diversen theoretischen Bemühungen des NM, die sich durchaus auch als eine Art Post-Poststrukturalismus bezeichnen ließen, von einer doppelten Stoßrichtung getragen: Den Geistes- und Sozialwissenschaften und zu allererst dem politischen Denken eine Neufundierung zu geben und in die gesellschaftliche Wirklichkeitsauffassung zu intervenieren. Der NM spannt sich – kurz zusammengefasst – über drei Eckpfeiler auf: (i) Überwindung der Zentralstellung des menschlichen Subjekts (verbunden mit einer posthumanistischen, non-anthropozentrischen These zur Subjektivität), (ii) Rehabilitierung einer Konzeption von Materie als ‚aktiv‘/ ‚agentiv‘ und ‚vital‘ (anstelle passiv und inert wie so lange in der Philosophiegeschichte) und (iii) Favorisierung eines revisionären ontologischen oder metaphysischen Theorieformats (vgl. z. B. die Einleitung des diskursprägenden Bandes New Materialisms. Ontology, Agency and Politics von Diana Coole und Samatha Frost, Dolphijn/ van der Tuin und Connolly 2013).

Theoriepolitisch dimensionierte Kritik

Eine Vorwarnung: Nicht als Einführung, sondern als Kritik des NM konzipiert, stellt dieser Band zwar ein Juwel für die Kennerin auf diesem Diskursfeld dar – für die Einsteigerin eignet er sich indessen nur bedingt. Zwar sind die immer wieder aufgerufenen Hauptreferenzen in der Zahl überschaubar (Rosi Braidotti, Jane Bennett, Karen Bard, Elisabeth Grosz, die Einleitung von Diane Coole und Samantha Frost), doch ist die Kenntnis poststrukturalistischer und posthumanistischer Theorieimpulse, insbesondere derjenigen von Deleuze und Guattari, unverzichtbare Grundlage für die Lektüre.

Der Band ist dem Titel nach theoriepolitisch orientiert, d.h. er situiert sich im Horizont einer Anerkennung der Politizität des Denkens im Allgemeinen und der von ontologisch ausgerichtetem Denken im Besonderen. Jedoch unternimmt das Herausgeberduo keine Spezifizierung des Terms der Theoriepolitik (oder „Theorie – Politik“), eine solche bietet sich aber sehr wohl an, um die Beiträge in ihrer eigenen theoriepolitischen Dimension zu gruppieren. Mit Markus Hahn, Susanne Klöpping und Holger Kube Ventura (2002: 9) können wir methodisch und metaphorisch zwischen einer ‚Innenpolitik‘ und ‚Außenpolitik‘ der Theorie unterscheiden. ‚Theorieinnenpolitik‘ adressiert das Feld der Theorie und theoretischen Praxis, sie versucht durch theoretische Revisionen und Konstruktionen in gegenwärtige Argumentationen, Debatten und Diskurse zu intervenieren. Dagegen sucht ‚Theorieaußenpolitik‘ eine politische Agitation und Intervention im sozialen Feld qua Theorie- und Begriffsbildung. Ich schlage eine weitere Binnendifferenzierung (als Instrument einer möglichen politischen Theorie der Theorie) vor: Theorieinnenpolitische Fokussierungen können korrektiv (bis destruktiv), konstruktiv oder korrektiv-konstruktiv in Bezug auf einen Diskurs, eine Theorie, einen Begriff akzentuiert sein, theorieaußenpolitische Interventionen mit oder ohne explizierte Agenda erfolgen. Im Lichte dieser Differenzierungen sind die 14 Beiträge des Sammelbandes (inklusive Einleitung und Postskriptum) überwiegend theorieinnenpolitisch ausgelegt, in einigen zeichnet sich aber auch eine klare politische Agenda (‚Theorieaußenpolitik‘) ab.

Ein Fundus an korrektiven und konstruktiven Beiträgen

Entschieden korrektiv sind die Beiträge des ersten Abschnittes („Materialist Prehistories“)ausgerichtet. Sie finden in den neumaterialistischen Argumentationen in erster Linie eine Reihe lückenhafter, unangemessener bis misslicher Rekonstruktionen der Materialismen der Neuzeit und Moderne, die letztlich dazu führten, mit den Konzeptionen einer ‚aktiven‘ und ‚vitalen‘ anstelle einer ‚inerten‘ und ‚passiven‘ Materie lediglich einen selbstaufgebauten Strohmann rigoros binären und dichotomen Denkens abzuwinken. Sarah Ellenzweig moniert in Bezug auf die Rezeption der Materiekonzeptionen von Descartes und Newton ein „supersessionist reading“ der Philosophiegeschichte, das sich selbst als „Korrektur“ (19) gibt, tatsächlich aber bereits mit dem Terminus des „Cartesian-Newtonian“ Theorieerbes (Coole/Frost 2010: 8) eine fehlgeleitete Kurzschließung eingeht. Eine kurzschließende Vermengung sei ebenfalls, so der Einwand von Charles T. Wolfe (der wiederum in Zammitos „befriedender“ [irenic] Konklusion eine schlagende Kritik erfährt) die pauschale Charakterisierung materialistischer Naturphilosophien der Neuzeit als ‚mechanistisch‘. Jess Keiser erinnert daran, dass die vermeintlich zementierte Strategie der Dichotomisierung in aktive und passive Materie bereits von Descartes selbst, und 100 Jahre später von David Hartleys Konzeption der ‚Plastizität‘ des Gehirns (Observation on Man, 1749) unterminiert wurde.

Deleuze und Guattari werden von vielen neumaterialistischen Autor*innen als Wegbereiter sowohl für eine post- oder antihumanistische als auch für eine monistische und ‚flache‘ Ontologie betrachtet, die keinen Gegenstandsbereich privilegiert. Keith Ansell-Pearson zeigt auf, dass diese Rezeption nur unter dem Preis einer Vernachlässigung der durchaus naturalistisch und humanistisch motivierten Texte Deleuzes‘ aus den 1950er und 1960er funktioniert. Auf die Frage, welcher Art das Soziale ist („What sort of thing is the social?“), fände, so Ian Lowrie, der Neue Materialismus keine Antwort, prinzipiell richtig sei aber die Frage im Rahmen einer positiven Ontologie mit Deleuze und Guattari zu beantworten, nur dürfe diese eben nicht so flach gestaltet sein, dass die Eigenartigkeit des (menschlichen) Sozialen nicht mehr reflektiert werden könnte (vgl. 156 f.). In letzter Konsequenz konterkarierten eine flache Ontologie (siehe Barad und DeLanda) die ethische und politische Agenda des Neuen Materialismus, so Derek Woods und Cristian Emden. Drängen die meisten Beiträge auf konzeptionelle und theoriegeschichtliche Korrekturen, warten einige zudem mit konstruktiven Vorschlägen auf, den Exzeptionalismus und Anthropozentrismus in der Theoriebildung abzubauen, ohne aber auf das belastete Konzept der Materie zurückzugreifen – und dies freilich ohne auf eine Zentralstellung menschlicher Subjektivität zurückzufallen, die Frage nach der Normativität zu eliminieren oder einen impliziten ontologischen Dualismus heranzuziehen. Hieraus hervor stechen vor allem die Konzeption einer erweiterten, nicht-anthropomorphen Kognition (Katherine Hayles), eines ‚integrativen‘ Konzepts von Natur (Lenny Moss) sowie eines „komplexen (befriedenden) Naturalismus“ (John H. Zammito). Theorieaußenpolitische Akzente setzen schließlich die Einleitung von Ellenzweig und Zammito, Chatherine Wilson und Angela Willey, indem sie auf die politische Agenda des Neuen Materialismus fokussieren. Einzig Wilson aber affimiert das Vorgehen von Grosz und Barad, moralische Verantwortung und soziale Macht unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Theorien zu stützen, um das emanzipative Projekt fortzuschreiben: „Despairing of the world handed to us by those men in suits who believed themselves supremely rational and favored by the gods, the new materialism implicitly assigns distributed responsibility on the part of women, children, soldiers, and workers and their allies, including the suited ones, for re-imagining and revising the way we live now“ (127).

Fazit: Ein Beispiel für die (Selbst-)Reflexion (in) der Politischen Theorie

Die Mehrheit der Beiträge spart nicht an fundamentaler und fundierter Kritik an neumaterialistischen Theorieentwürfen, sie bringt dazu Alternativvorschläge für theoretische Grundlagen, die den Menschen aus seiner exzeptionellen Stellung entheben ohne auf das (vermeintlich) anthropozentrische Konzept der Normativität zu verzichten. Deutlich tritt hervor, dass der ‚Neue Materialismus‘ sich letzten Endes im Horizont der alten, aber nie veralteten Fragen nach der Position menschlicher Subjektivität in der natürlichen Welt, dem Verhältnis von Leib–Seele/Geist–Gehirn, der Differenz von ‚natürlichen‘ und ‚sozialen‘ Gegenständen, Wirkmächten (‚agencies‘) und Kausalitäten bewegt. Dabei führt der Band exemplarisch vor, wie wichtig eine Reflexion auf metaphysische Vorentscheidungen, normative und epistemische Grundierungen von politischer Theorie ist: Nur philosophiegeschichtlich, wissenschaftstheoretisch oder selbstreflexiv eingeholt kann Theoriebildung und Theoriepraxis Inkonsistenzen, Schein-Gegnerschaften und konzeptuelle Verkürzungen vermeiden und damit letztendlich theoriepolitisch reüssieren. Hierfür bietet der Sammelband reichhaltiges Material.

 

Lorina Buhr ist Doktorandin am Center for Political Practices and Orders (C2PO) der Universität Erfurt. Sie ist Mitherausgeberin des Tagungsbandes Staat, Internet und digitale Gouvernementalität.

 

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