theorieblog.de | Politik, ‚wie sie ist‘: Status Quo und Desiderata der realistischen politischen Theorie

17. Januar 2018, Westphal

Politische Theorie sollte realistisch sein. So allgemein formuliert wird diese These wohl kaum auf Widerspruch stoßen. Was nützt schon eine politische Theorie, die unrealistisch ist, weil sie Konzepte und Argumente entwirft, die mit der Realität wenig zu tun haben – dem werden vermutlich viele politische Theoretiker*innen zustimmen. Jenen Theoretiker*innen aber, die in jüngerer Zeit die Forderung nach einer realistischen politischen Theorie stark machen, geht es um eine grundsätzlichere Debatte über Agenda und Selbstverständnis der politischen Theorie. Ich möchte im Folgenden einige Eckpunkte dieser Debatte beschreiben und zwei Thesen vertreten. Erstens: Das Spannende an der realistischen politischen Theorie ist, dass sie versucht, einen Platz zwischen politischen Moralkonzeptionen und der bloßen Deskription von Politik zu besetzen. ‚Realistische‘ Legitimitätstheorien zeigen, wie sich normative Kriterien im Rahmen einer stärker politischen als moralischen Logik begründen lassen. Zweitens: Realistische politische Theoretiker*innen haben bisher zu wenig geliefert, um dem Verdacht entgegenzutreten, dass die Distanz zum ‚politischen Moralismus‘ mit einer unkritischen Haltung gegenüber Machtasymmetrien und Herrschaftsverhältnissen erkauft wird. Das ist ein Defizit der Debatte, das mehr Aufmerksamkeit finden sollte. Denn der Impuls, den realistische politische Theorien der politiktheoretischen Debatte geben können, verspricht umso wertvoller zu sein, je deutlicher wird, dass sie normative politische Theorie auf eine neue Weise denken, anstatt die normativen Ansprüche politischer Theorie bloß zu reduzieren.

 

Eine Alternative zum ‚politischen Moralismus‘

Auf den Punkt gebracht, geht es realistischen politischen Theoretiker*innen darum, der politischen Praxis – den realen Umständen von Politik samt all jener Eigenschaften, die mit moralischen Prinzipien konfligieren – einen größeren Stellenwert in der politischen Theorie einzuräumen. Der Gegner von Realist*innen ist dabei nicht so sehr eine spezifische Theorie, sondern eine verbreitete Art und Weise, politische Theorie zu betreiben. „Political moralism“ dient vielen Realist*innen als ein Sammelbegriff für politische Theorien, die den Fokus auf die Rechtfertigung von anspruchsvollen moralischen Prinzipien legen (siehe z.B. Galston oder Rossi und Sleat). Raymond Geuss spricht von einem „ethics first“-Verständnis politischer Philosophie. Gemeint ist das Gleiche, nämlich die Tendenz, ideale Prinzipien einer gerechten, vernünftigen Politik zu definieren, an deren Maßstäben die politische Praxis zu messen ist. So werde der Moral ein Vorrang gegenüber der Politik eingeräumt.

Problematisch ist diese Art und Weise, politische Theorie zu betreiben, aus Sicht realistischer politischer Theoretiker*innen, weil sie für eine Entkopplung zwischen den Idealen politischer Theorie und der Realität politischer Praxis sorgt. Erstens blende eine ‚moralistische‘ politische Theorie zentrale Charakteristika von Politik aus; zweitens scheitern ihre präskriptiven Ansprüche oft an den Umständen von Politik. Realistischen politischen Theoretiker*innen geht es in der Konsequenz nicht nur darum, anzuerkennen, dass politische Bedingungen der Realisierung von bestimmten Idealen regelmäßig im Wege stehen. Es geht ihnen vor allem darum, die Ideale der politischen Theorie selbst im Lichte der Realität politischer Praxis zu entwerfen.

Beide Stoßrichtungen der realistischen Kritik verweisen auf die Autonomie des Politischen. Autonom sei das Politische insofern, als es eine distinkte Sphäre menschlicher Interaktion darstellt, die ihre eigenen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten hat. Zwar spielen moralische Erwägungen in der Politik durchaus eine Rolle. Aber zum einen sorgen konstitutive Charakteristika von Politik wie vor allem Macht und Interessen dafür, dass politische Akteure nicht ausschließlich nach moralischen Gesichtspunkten handeln bzw. moralischen Gesichtspunkten nicht immer einen Vorrang gegenüber anderen Erwägungen einräumen. Zum anderen hat die Politik ihre eigenen, genuin politischen Werte, deren Erfordernisse häufig mit moralischen Prinzipien konfligieren. Die „first political question“, wie Bernard Williams es formuliert, ist die Frage, wie Sicherheit und Ordnung realisiert werden können, nicht Gerechtigkeit oder Gleichheit.

Ich halte den Anspruch, politische Theorie auf eine Art und Weise zu betreiben, die sich in besonderer Weise darum bemüht, den realen Umständen von Politik Rechnung zu tragen, für wünschenswert. Je näher die politische Theorie der politischen Realität ist, desto anwendbarer versprechen ihre Reflexionen für die Praxis zu sein. Eine Umsetzung der Agenda realistischer politischer Theorie sieht sich jedoch einer beträchtlichen Herausforderung gegenüber. Sie muss zeigen, was es bedeuten kann, politische Theorie auf eine Weise zu betreiben, die Distanz zum ‚politischen Moralismus‘ wahrt, ohne sich der Fähigkeit zu berauben, eine kritische Perspektive auf Politik einzunehmen. Würde sie dasjenige, was in der Politik faktisch passiert, gleichsetzen mit dem, was politisch wünschenswert ist, scheint außer der Deskription von Politik kaum eine andere Aufgabe für die politische Theorie zu bleiben.

 

‚Realistische‘ Interpretationen politischer Legitimität

Viele realistische Theoretiker*innen, die an einer Ausgestaltung des positiven Programms realistischer politischer Theorie arbeiten, knüpfen an Williams‘ Konzept des Basic Legitimation Demand an. Die Idee dieses Konzepts ist, dass politische Ordnungen zwar nicht anspruchsvollen Standards wie etwa Gerechtigkeitsprinzipien entsprechen müssen, aber den Beherrschten gegenüber zu rechtfertigen sind. Mit anderen Worten, es reicht nicht, dass die „erste politische Frage“ beantwortet ist – also dass Frieden und Sicherheit herrschen. Es bedarf akzeptabler Antworten auf die erste politische Frage. In der Debatte lassen sich, grob sortiert, zwei Versuche ausmachen, das politische Akzeptabilitäts-Kriterium ‚realistisch‘ zu deuten.

Ein erster Ansatz definiert mit Hilfe von moralischen Minimalstandards eine substantielle Schwelle für legitime politische Ordnungen. Hier ist die Idee, dass eine politische Ordnung illegitim ist, wenn sie Umstände realisiert, die universell von Menschen als Übel erfahren werden. Wenn zum Beispiel Minderheiten verfolgt werden oder gesellschaftlichen Gruppen trotz hinreichender Ressourcen Nahrung und medizinische Versorgung versagt werden, missachtet das Regime grundlegende, kultur- und weltanschauungsunabhängige menschliche Bedürfnisse, und ist daher als illegitim zu betrachten.

Ein zweiter Ansatz schlägt vor, die Akzeptabilität einer politischen Ordnung daran zu bemessen, wie sehr sie mit den Ideen und Praktiken im Einklang steht, die den betreffenden gesellschaftlichen Kontext auszeichnen. Anzeichen dafür, dass diesbezüglich keine hinreichende Kongruenz vorliegt, wären beispielsweise offene Proteste gegen den Status Quo oder ein Boykott der bestehenden Ordnung durch Teile der Gesellschaft.

Beide Ansätze bieten Interpretationen von Akzeptabilität, die in Distanz zu ‚politischem Moralismus‘ stehen. Zwar ist umstritten, ob sich eine realistische politische Theorie, die an der Idee festhält, dass politische Ordnungen gerechtfertigt sein müssen, hinreichend von ‚moralistischen‘ Theorien abgrenzt. Allerdings erscheinen mir in beiden Fällen wichtige Differenzen zu bestehen. Um im Lichte des ersten Ansatzes als akzeptabel gelten zu können, müssen Regeln beispielsweise nicht gerecht sein – die substantiellen Kriterien definieren eine Schwelle unterhalb von Ansprüchen, die Gerechtigkeitsprinzipien formulieren. Sofern der zweite Ansatz Indikatoren für mangelnde Akzeptabilität in Aktivitäten politischer Dissoziation sieht, setzt er nicht voraus, dass Regeln von allen Betroffenen als vernünftig erachtet werden können müssen.

Es lässt sich deshalb festhalten, dass eine politische Theorie, die mit ‚realistischen‘ Definitionen von Legitimität arbeitet, zweierlei leistet. Erstens setzt sie das Legitime keineswegs mit dem Faktischen gleich, sondern artikuliert Kriterien, die politischen Theoretiker*innen als Ressourcen für Kritik dienen können. Zweitens ist sie in der Lage, der Autonomie des Politischen weitreichend Rechnung zu tragen. Auch wenn nicht alle denkbaren politischen Szenarien legitim sind, formulieren ‚realistische‘ Definitionen von Akzeptabilität moderat anspruchsvolle Kriterien, die sehr unterschiedliche Ordnungen erfüllen können. Damit ist ein substantieller Schritt in Richtung einer Agenda-Beschreibung realistischer politischer Theorie gegangen.

 

Die Herrschaftsblindheit realistischer (Legitimitäts-)Theorie

Allerdings haben ‚realistische‘ Legitimitätstheorien einen blinden Fleck: Machtasymmetrien. Fälle, in denen schwächere Gruppen der Gesellschaft durch die mächtigen dominiert werden, sind weder im Lichte des ersten, mit universellen menschlichen Übeln arbeitenden Ansatzes noch aus Sicht des zweiten, soziale Praktiken und das Verhalten von Akteur*innen fokussierenden Ansatzes ein Problem.

Zur Veranschaulichung kann hier ein Szenario dienen, in dem eine Minderheit von der Teilhabe am politischen Prozess ausgeschlossen ist und langfristig keine Chance hat, Einfluss auf die kollektiv verbindlichen Regeln zu nehmen. Solange sie keiner Verfolgung ausgesetzt ist, für grundlegende Bedürfnisse gesorgt ist und die betreffende Minderheit sich nicht der etablierten Ordnung widersetzt, bieten die skizzierten Legitimitätstheorien keine Grundlage, um die Situation als problematisch zu bewerten. Jetzt könnte eine Reaktion darin bestehen, diesen Umstand schlicht als Implikation der realistischen Perspektive zu akzeptieren. Dieser Sicht zufolge wäre eine dünne Kritikbasis in Fällen, in denen Politik massiv ungerechte, ungleiche Ergebnisse produziert, der Preis dafür, dass die realistische politische Theorie eine Alternative zum ‚politischen Moralismus‘ bieten kann. Ich denke jedoch nicht, dass das der Fall ist.

 

Machtkritik als Aufgabe realistischer politischer Theorie

Wenn realistische politische Theoretiker*innen Macht als einen Aspekt jener Umstände von Politik hervorheben, die die politische Theorie anerkennen sollte, betonen sie die Relevanz von Macht sowie die Unmöglichkeit, Machteffekte zu überwinden. Das ist aber keineswegs ein Plädoyer dafür, Macht per se zu legitimieren und vor Kritik zu schützen. Im Gegenteil, die Betonung der Machtdimension von Politik lässt sich als Warnung verstehen, dass die Machtimplikationen keiner noch so fest etablierten, vernünftig oder natürlich erscheinenden Ordnung vergessen werden dürfen. Diese Überlegung hat Raymond Geuss in Philosophy and Real Politics formuliert und zur Grundlage seines Vorschlags gemacht, zu den Aufgaben realistischer politischer Theorie nicht nur das Verstehen und Evaluieren von Politik sowie konzeptuelle Innovationen zu zählen, sondern auch eine Kritik etablierter Ideologien.

Vor diesem Hintergrund tut sich die Möglichkeit auf, realistischer politischer Theorie eine explizit machtkritische Agenda zu geben. Dass diese Möglichkeit bisher nicht so große Aufmerksamkeit gefunden hat, liegt meines Erachtens daran, dass sich die Debatte über realistische politische Theorie größtenteils an der Agenda des ‚politischen Moralismus‘ abgearbeitet hat: Welche prinzipiellen Maßstäbe eignen sich, um zwischen guter/akzeptabler und problematischer/nicht-akzeptabler Politik zu unterscheiden? Es liegt nahe, dass realistische politische Theorien hierauf nur Antworten geben können, die anfällig für die identifizierte Schwäche sind. Wenn es im Sinne der Autonomie des Politischen der Praxis überlassen sein soll, politische Standards zu definieren, muss sich die Theorie auf Grundvoraussetzungen einer solchen Praxis beschränken – darüber hinaus ist Abstinenz in der Präskription geboten. Daher sollte sich die realistische politische Theorie über die Auseinandersetzung mit politischen Legitimitätskriterien hinausbewegen, wenn sie ihr kritisches Potential aktivieren will.

Einen interessanten Vorschlag, der in diese Richtung weist, haben jüngst Janosch Prinz und Enzo Rossi unterbreitet. Sie greifen Geuss‘ Idee auf, realistische politische Theorie als Ideologiekritik zu verstehen und entwickeln Überlegungen dazu, wie sich diese Idee ausbuchstabieren und zu einem Programm für die Theoriepraxis machen lässt. Sie argumentieren, dass die Aufgabe der Theorie darin bestehen sollte, die Bedeutungsgenese von politisch relevanten Konzepten zu untersuchen. Hierfür müssten jene sozialen Faktoren in den Blick genommen werden, die prägen, wie Akteur*innen betreffende Konzepte verstehen. Zweitens ginge es darum, den ideologischen Charakter von bestimmten Verständnissen auszuweisen. Um eine Moralisierung der Theoriepraxis zu verhindern, sollten hierfür epistemische Maßstäbe angelegt werden: Die Autoren schlagen vor, solche Konzept-Verständnisse als ‚ideologisch‘ zu qualifizieren, die widersprüchlichen empirischen Evidenzen gegenüber resistent sind. Auf diese Weise eröffne die Diagnose einen Raum für Kritik und könne Anstöße für politische Transformationen bieten, deren Ziele dann jedoch aus dem betreffenden Kontext heraus zu definieren sind.

Ich halte diesen Vorschlag für enorm konstruktiv. Ideologiekritik macht Macht sichtbar und arbeitet gegen die Tendenz von politischer Herrschaft, sich gegen Kritik zu immunisieren. Damit vermag sie einer realistischen politischen Theorie jenen Stachel gegen Herrschaftsverhältnisse zu verleihen, den ‚realistische‘ Legitimitätstheorien missen lassen. Mit anderen Worten: Sofern realistische politische Theoretiker*innen zukünftig versuchen, fruchtbare Formen der Kombination von moderater präskriptiver Theorie und radikaler Ideologiekritik zu sondieren, werden sie das Projekt, politische Theorie auf normativ anspruchsvolle, aber nicht moralisierende Weise zu betreiben, gewinnbringend weiterentwickeln.


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