theorieblog.de | Die Grenzen der Demokratie und die Frage nach demokratischen Grenzen

2. Januar 2018, Meine

Nele Kortendiek und Marina Martinez Mateo (Hrsg.), 2017: Grenze und Demokratie. Ein Spannungsverhältnis. Frankfurt a.M.: Campus. ISBN 978-3-593-50725-5, 39,95€.

Der DVPW-Kongress 2018 wird die Frage der Grenzen der Demokratie / Frontiers of Democracy im Kontext ihrer aktuellen Krisen stellen. Tenor des Call for Papers ist, dass Demokratie auf vielfältige Weise an ihre Grenzen stößt und dass zugleich diese Krisendiagnosen politikwissenschaftlich genauer betrachtet werden sollten, um in den Grenzgebieten der Demokratie vielleicht auch neue Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten.
Nun ist das Thema der Grenzen demokratischer Ordnungen nicht neu. Der DVPW-Kongress folgt einer Reihe gerade auch theoretisch geprägter Tagungen, die sich den Grenzen demokratischer Ordnungen gewidmet haben: Die Frühjahrstagung 2017 der DVPW-Theoriesektion in Trier, die den Formwandel der Demokratie und ihre Grenzen auch angesichts ihrer Krisen diskutierte. Die Tagung Borders. Fences. Firewalls am MPI zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen, die das Verhältnis von Institutionen und Territorien, Demokratie und ihren Grenzen auslotete. Oder schon 2014 die Nachwuchstagung des Frankfurter Exzellenzclusters unter dem Titel Borders of Orders. Grenzziehungen, Konflikte und Soziale Ordnung. Nele Kortendiek und Marina Martinez Mateo haben aus deren vielfältigem Programm unter den Schlagworten Normen, Subjekte und Gründungen drei Diskussionsschwerpunkte ausgewählt und im 2017 bei Campus erschienenen, interdisziplinären wie internationalen Tagungsband Grenze und Demokratie. Ein Spannungsverhältnis zusammengeführt.
Zwei Gründe sprechen besonders für die Lektüre: Einerseits ist der Band ein Blick in die jüngere Vergangenheit, in der die Debatten um die Grenzen gerade auch demokratischer Ordnungen noch nicht von den aktuellen politischen Krisendiagnosen und -diskursen bestimmt waren. Andererseits werden bei einer kritischen Sichtung – mit Blick auf Gegenwart und Zukunft demokratischer Ordnungen – Fragen deutlich, der sich die Politikwissenschaft als Ganze und die politische Theorie im Besonderen auch 2018 noch expliziter stellen sollten.

Begegnungen an der Grenze

Denkt man im aktuellen politischen Kontext an Grenze und Demokratie, stehen in der Regel die Bedeutung und Gestaltung territorialer Grenzen, der Umgang mit Kontingenten von Geflüchteten oder auch die Bedingungen von Sicherheit und Ordnung zur Debatte. Der vielleicht auffälligste gemeinsame Zug der Beiträge zum Tagungsbandes ist jedoch ein anderer. Inmitten der Diskussionen um theoretische wie institutionelle Fragen begegnen der Leserin immer wieder – mal explizit, mal implizit – ganz unterschiedliche Figuren: „der illegale Immigrant unserer Zeit“ (Colliot-Thélène, 35), der oder die Staatenlose (Banerjee, 59) oder auch die Figur des Anderen (Gebhardt, 84).
Die wohl eigentümlichste wie zugleich eindrücklichste Figur ist die Gestalt des „Dubliners“ (Picozza, 117). Die neuen europäischen „Dubliner“ sind Produkte des europäischen Asylregimes, die sich als Asylsuchende „durch den europäischen Raum bewegen und somit potenziell abschiebbar oder ‚dublinierbar‘ sind“ (Picozza, 122). Statt geradliniger von Migration und Integration, entsteht, so Fiorenza Picozza, durch ein Wechselspiel individueller Wünsche und Entscheidungen zum Aufbruch einerseits und Abschiebungen und Zwangsumsiedlungen im Rahmen der Dublin-Abkommen andererseits ein Muster zirkulären, wiederholten und schließlich richtungslosen Grenzübertretens ohne Ziel.

Zugleich bleiben diese individuellen Figuren jedoch nicht notwendig passiv. Als Akteure der Grenzüberschreitung stehen sie auch für produktive Perspektiven und Positionen. Stefan Apostolou-Hölscher argumentiert für ein Verständnis von ästhetischer Erfahrung als Grenzerfahrung. Diejenigen, die keinen Anteil haben, sind als potentielle Figuren der Spaltung bei Yunjeong Choi zugleich diejenigen, die als neues politisches Subjekt Wandel bewirken können. Systematisch arbeitet Sonja Engel heraus, dass die Figur des Fremden, gerade weil sie durch die Überschreitung von Grenzen die hybride Position der gleichzeitigen An- und Abwesenheit innehat, in besonderer Weise nicht nur zu Kritik, sondern auch zu Erkenntnis befähigt ist.
Leser und Leserin haben es also zu tun mit Individuen, die mit den Grenzen der Demokratie konfrontiert sind, diese aber auch aktiv konfrontieren. Individuelle Figuren stehen internationalen wie staatlichen Ordnungen gegenüber – oft einsam, aber doch bedeutend. Sie stehen für Einzelschicksale, die ausgeschlossen oder unterworfen sind. Indem sie Grenzen sichtbar machen und Praktiken und Institutionen des Ausschlusses infrage stellen, erhält ihre Präsenz aber auch einen potentiell demokratisierenden Charakter (Kortendiek/Martinez Matteo, 7).

Die Figuren in Grenze und Demokratie stellen die weiteren Debatten vor die Aufgabe, auch die individuellen und vielleicht leisen Stimmen zu hören, weil Ausschluss und Beherrschung nicht immer gleich sichtbar sind. Zugleich drängt sich mit der demokratischen Lesart die Frage auf, wer die demokratische Ordnung in Zukunft bzw. in die Zukunft trägt. Es ist auffällig, dass die Figur des Bürgers oder der Bürgerin fehlt. Ja, wenn von Bürgerschaft gesprochen wird, geschieht dies vor allem ablehnend – mit kritischem Hinweis auf den exklusiven Charakter einer von nationalen oder etatistischen Überlegungen überformten Idee der Staatsbürgerschaft (z.B. Colliot-Thélène, 35). Die berechtigte Kritik an nationalen und exklusiven Lesarten von Bürgerschaft begründet aber nicht deren grundsätzliche Ablehnung – weder demokratiehistorisch noch demokratietheoretisch. Der Blick auf die Figuren im gegenwärtigen System politischer Ordnungen macht die Dringlichkeit der Frage sichtbar, wer zu denen gehören soll, die als Freie und Gleiche – auch über Grenzen – mitentscheiden. Er erfordert zugleich aber auch, die Figuren von Bürgerin und Bürger und die Idee der Bürgerschaft selbst in den Blick zu nehmen.

Von der Kritik an Grenzen zu demokratischen Grenzen?

Mareike Gebhardt arbeitet mit Derrida die Vielfalt von territorialen, nationalen, staatlichen, sozialen, wirtschaftlichen und ästhetischen Grenzen und Ausschlüssen gegenwärtiger demokratischer Ordnungen eindrücklich heraus. Sie mahnt, dass ein demokratisches Wir als „temporäre und fragile Konstruktion“ (89) immer wieder zu hinterfragen ist. Die systematischen Zusammenhänge zwischen den skizzierten Grenzen und die Differenz zwischen illegitimen und potentiell legitimen Grenzziehungen bleiben in ihrem Beitrag jedoch unklar. Wie ein demokratischer Umgang mit Grenzen aussehen soll? Diese Frage bleibt zu beantworten.
Catherine Colliot-Thélène greift das „Triptychon Staatsangehörigkeit—Staatsbürgerschaft—Souveränität“ (36) frontal an. Um der Exklusion von Migrant_innen zu begegnen, fordert sie die Idee der Selbstgesetzgebung und der Volkssouveränität durch das Ziel der Gleichheit von Rechtssubjekten zu ersetzen. Sie hinterfragt damit gerade nationale und auch nationalstaatliche Grenzen von Demokratie. Das theoretische Argument ist jedoch zu diskutieren: Erstens basiert Colliot-Thélènes Kritik an Theorien der Volkssouveränität auf einer kruden Gegenüberstellung ihres eigenen liberalen Individualismus und einer als kommunitaristisch, essentialistisch und homogen unterstellten Volkskonzeption. Auf dieser Grundlage schließt sie dann, zweitens, demokratische Selbstgesetzgebung bzw. Volkssouveränität und staatliche Souveränität kurz. Die Verbindung von demokratischer Selbstbestimmung und Staatssouveränität zur Debatte zu stellen, ist berechtigt und notwendig (s.a. den Beitrag von Popp Madsen im Band). Volkssouveränität durch eine Kritik an Staatssouveränität grundsätzlich zu verwerfen, ist aber auf Grundlage der vorgebrachten Argumente nicht nur unnötig. Das anspruchsvolle Ideal demokratischer Entscheidungen unter Freien und Gleichen, das immer auch Grenzen voraussetzt, läuft Gefahr, gleich mit entsorgt zu werden. Und so kippt Colliot-Thélènes Argument bezeichnenderweise gegen Ende in ein Plädoyer für die Pflicht zur wirtschaftlichen Umverteilung und zur Bekämpfung prekärer Lebenssituationen und eben nicht für politische Inklusion und Ansprüche auf demokratisches Mitentscheiden.

Es ist nicht zuletzt Kiran Banerjees Aufsatz zum Phänomen der Staatenlosigkeit, der Colliot-Thélènes Argument konterkariert. Durch das zwischenstaatliche System des beginnenden 20. Jahrhunderts verursacht, in dem politische Mitgliedschaft zunehmend national und exklusiv verstanden worden sei und werde, bestehe diese Form struktureller, ja feudaler Ungerechtigkeit bis heute fort. Sie verweise zugleich auf die Notwendigkeit „effektiver Nationalität“ – nicht im Sinne nationaler Zugehörigkeit, sondern eben eines politischen Status (Banerjee, 66ff, siehe auch oben).
Will man dieser und den weiteren Herausforderungen demokratischer Selbstbestimmung, die der Band skizziert, begegnen, ist das Verhältnis von demokratischer Selbstbestimmung, Staatlichkeit und Souveränität zu klären. Es ist ein zentrales Beispiel für die ganz grundlegende Frage, auf welche Strukturen und Kontextbedingungen demokratische Selbstbestimmung eigentlich notwendig angewiesen ist, welche aber auch „methodologische Fiktionen“ und somit verzichtbar sind: Transnationale demokratische Selbstbestimmung erfordert von der Politikwissenschaft, die eigenen Grundannahmen zur Debatte zu stellen, um methodologischen Nationalismus, Territorialismus oder Etatismus zu vermeiden, zugleich aber auch strukturelle Bedingungen von Gerechtigkeit und Demokratie klar zu benennen, die vollständig ‚fluiden‘ demoi (vgl. Kortendiek/Martinez Matteo, 17f.) entgegenstehen.

Demokratie als destituierende, konstituierende und konstituierte Politik – gerade heute

Eine weitere zentrale Aufgabe ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Gründung. Yunjeong Choi macht sich mit Rancière dafür stark, den Augenblick des Bruchs mit dem Unrecht des gegebenen Rahmens als bedeutend anzuerkennen. Denn in diesem Augenblick werden diejenigen, die keinen Anteil haben, zu „Figuren der Spaltung“ (Choi, 237). Sie konstituieren sich als kollektives und emanzipatorisches Subjekt und fordern die Anerkennung ihrer politischen Gleichheit. Anstatt die Vorstellung von Volk zu verwerfen, zielen sie damit darauf, die Idee eines homogenen Volkes zu re-demokratisieren.
Kolja Möller teilt Chois gegenhegemoniale Haltung und macht sich mit Blick auf die transnationale Konstituierung von Herrschaftsstrukturen für eine konzeptuelle Ergänzung konstituierender durch „destituierende Macht“ stark. Derzeit herrsche eine hegemoniale – strukturelle wie inhaltliche – Überformung transnationaler Verfassungsbildung durch Gerichte und staatliche Exekutiven vor. Nur eine ‚destituierende Macht‘ schaffe – konflikttheoretisch rekonstruiert – in diesem Kontext die notwendigen Spielräume zur Befragung und Anfechtung politischer Ordnungsmuster, die eine legitime Konstituierung gerade transnationaler Ordnungen voraussetze. Die „negative“ Suche nach Spielräumen zur Überwindung von asymmetrischen Beherrschungsverhältnissen tritt in ein Wechselverhältnis zu konstituierender Macht. Die Frage, wer destituierend und wer konstituierend agiert bzw. wie „gegenhegemoniale Kommunikation“ zu konstituierenden Akteuren steht, bleibt jedoch genauer zu klären.

Während Choi und Möller die Bedeutung gegenhegemonialer bzw. „negativer“ Politik gerade auch für Fragen der Konstituierung politische Ordnungen stark machen, widmet sich Benjamin Ask Popp-Madsen in ‚positiverer‘ Absicht dem Verhältnis von konstituierter und konstituierender Gewalt. Anhand der Frage, ob Demokratie stabiler Institutionen und demarkierter Grenzen bedarf, positioniert er sich einerseits gegen die Vorstellung, dass demokratische Politik als konstituierte Politik auf einen ihr analytisch und historisch vorausgehenden staatlichen Rahmen angewiesen sei, und andererseits gegen die Idee, Demokratie sei nur radikal und als permanent verfassungsgebend zu denken. Ob man seine Begeisterung für die Rätetradition als überzeugende politische Form der Demokratie teilen muss, sei dahingestellt: Sein Plädoyer, dass Demokratie ihrem ureigenen Sinn nach immer sowohl konstituierte Normalpolitik wie auch konstituierende Verfassungspolitik als Möglichkeiten offenhalten muss, formuliert eine grundlegende Aufgabe, vor die uns insbesondere auch die Fragen nach Grenze und Demokratie und nach demokratischen Grenzen stellen. Konstituierte demokratische Politik setzt bestimmte Strukturen, auch bestimmte Grenzen voraus, muss diese aber – nicht zuletzt aufgrund der Ideale demokratischer Selbstbestimmung selbst – immer wieder zur Debatte stellen, ohne die demokratische Form als solche grundlegend infrage zu stellen.

Welche Grenzen legitim sind, und wie wir unter potentiell postnationalen bzw. postwestfälischen Bedingungen demokratisch legitim über sie entscheiden – dies sind die zentralen Fragen, die der Band zur Frankfurter Nachwuchstagung 2014 dem Frankfurter Kongress 2018 mit auf den Weg gibt. Der Tagungsband problematisiert Grenzen und Grenzdimensionen demokratischer Ordnungen. Ihre weitergehende Systematisierung und die Diskussion theoretischer, politischer und vor allem demokratischer Antworten auf die entstehenden Fragen, machen die Verbindung von Kritik und Ordnungsbildung, von theoretischen und institutionellen Fragen notwendig.
Der Rückblick auf die Nachwuchstagung ist damit mehr als ein Blick in die Debatten um Grenze und Demokratie und demokratische Grenzen vor 2015. Der Frage, ob Demokratie derzeit an ihre Grenzen stößt, lässt sich nur begegnen, wenn wir uns bewusst machen, dass die Herausforderung, die mehrdimensionale Grenzen der Demokratie darstellen, vielen der Problem- und Krisendiagnosen zugrunde liegt, auf die der Call zum nächsten DVPW-Kongress verweist. Ob wir im Einzelfall ihre territorialen, politischen, institutionellen, sozialen oder personalen Grenzen oder auch deren Zusammenspiel in den Blick nehmen: Antworten auch auf scheinbar akademische Grundlagenfragen zu geben, die schon vor den aktuell debattierten Krisen zur Debatte standen – nicht zuletzt auf Fragen nach demokratischen Grenzen –, ist politikwissenschaftlich notwendig. Nur auf diese Weise besteht zugleich die Möglichkeit, an der Idee neuer „Frontiers“ der Demokratie festzuhalten, diese theoretisch und empirisch auszuloten und an gesellschaftlichen und politischen Debatten darüber fundiert teilzunehmen.


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