theorieblog.de | Lesenotiz: Weder gerecht noch realistisch – David Millers Plädoyer für das staatliche Recht auf Ausschluss

4. Dezember 2017, Celikates

Im öffentlichen Diskurs fungiert das Recht von Staaten, ihre Grenzen zu kontrollieren, also sowohl die Einwanderung als auch den Zugang zu Rechtspositionen und insbesondere die Einbürgerung zu regulieren, noch immer als weitgehend unhinterfragte Prämisse aller weiteren Diskussionen etwa über Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik oder die Aufnahme von Flüchtlingen. In seinem neuen Buch, das soeben unter dem Titel Fremde in unserer Mitte in deutscher Übersetzung erschienen ist, versucht David Miller, dieses staatliche ‚Recht auf Ausschluss’ philosophisch zu untermauern. Offensichtlich kommt dieser Debatte im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ (für Miller sind die scare quotes unnötig) und dem politischen backlash in Form des Erfolgs rechtsextremer und fremdenfeindlicher Parteien quer durch Europa zusätzliche politische Brisanz zu – umso größer die intellektuelle und politische Verantwortung der politischen Philosophie und Theorie, könnte man denken, sich mit den entsprechenden Fragen umsichtig, selbstreflexiv und kritisch auseinanderzusetzen. Um es vorwegzunehmen: Millers Buch enttäuscht diese Erwartung, denn es ist nicht nur argumentativ schwach und fällt hinter den Stand der philosophischen Diskussion zurück, sondern auch von einem politischen Hautgout durchzogen, der schon im finsteren Titel anklingt und regelmäßig Stereotypen aufruft, die man eher in UKIP- (oder AfD-)Pamphleten als in philosophischen Traktaten erwarten würde.

In der inzwischen sehr ausdifferenzierten philosophischen Diskussion seit den 1980er Jahren ist das staatliche ‚Recht auf Ausschluss’ aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – vor allem aber auf der Basis von gerechtigkeits-, freiheits- und demokratietheoretischen Prinzipien – in Frage gestellt worden und wird heute in uneingeschränkter Form kaum noch für rechtfertigbar erachtet (einen Überblick kann man sich dank zweier Sammelbände mit deutschen Übersetzungen und jeweils sehr instruktiven Einleitungen schnell verschaffen: Migration und Ethik (2012/2014) und Ethik der Migration (2017)). In dieser Diskussion hat sich Miller als Vertreter eines liberalen Nationalismus positioniert (wobei er diese Bezeichnung nun nur noch am Rande gebraucht, vgl. 98), der liberale, kommunitaristische und nationalistische Elemente miteinander verbindet. Dabei soll die bindende Kraft der Menschenrechte zwar ernstgenommen und nicht einfach auf staatliche Souveränität verwiesen, aber zugleich das Recht von Staaten weitestgehend verteidigt werden, Zugang zu ihrem Territorium und damit zur politischen Gemeinschaft im Einklang mit den Zielen und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger zu regulieren.

 

Wir gegen sie?

Die Struktur des Buches ist von gewohnter Übersichtlichkeit: Miller argumentiert in den ersten vier Kapiteln zunächst für einen „realistischen“ und „schwachen Kosmopolitismus“, der mit der „Bevorzugung der eigenen Landsleute“ (43) vereinbar ist, weil sich darin nationale Selbstbestimmung und nationale Identität verschränken. Zwar werden der Einwanderungspolitik von Staaten in Form der Menschenrechte gewisse Bedingungen auferlegt, aber statt signifikant offenerer Grenzen argumentiert Miller für (relativ) geschlossene Grenzen. Im zweiten Teil werden diese normativen Überlegungen dann auf zentrale Herausforderungen – den Umgang mit Flüchtlingen, den Status ökonomischer Migranten sowie die Rechte und Pflichte von Migranten – angewendet.

Schon die an einer strikten Gegenüberstellung von „wir“ und „sie“ orientierte Rahmung und Rhetorik – „Sollten wir Immigranten dazu ermuntern, in unsere Gesellschaften zu kommen, oder versuchen, sie fernzuhalten?“ (so der zweite Satz des Buches (9)) – schaden Millers Anliegen, und Millers frühere Arbeiten sowie Autorinnen und Autoren von Michael Walzer bis Christopher Heath Wellman, die ähnliche Positionen vertreten, zeigen, dass es im Prinzip möglich ist, das staatliche Recht auf Ausschluss in moderierter Form auf weniger verfängliche Weise zu verteidigen. Miller geht in seiner Untersuchung nun aber von zwei äußerst problematischen Annahmen aus, die auch im öffentlichen Diskurs häufig unhinterfragt vorausgesetzt werden: einem extrem selektiven Realismus einerseits, und einer soziologisch naiven und politisch gefährlichen Vorstellung homogener Gemeinschaften mit klar identifizierbaren Identitäten andererseits.

 

Realismus auf fragwürdiger Basis

Natürlich kann man darüber streiten, ob und gegebenenfalls welche und wie viel Einwanderung das Funktionieren des politischen Systems und die verbleibenden Reste des Wohlfahrtsstaats unterminiert, und auch darüber, inwiefern sich das legitime Interesse an politischer Selbstbestimmung und Demokratie – wie Miller meint – zur Rechtfertigung restriktiver Einwanderungspolitik einspannen lässt. So zu tun, als folgten diese Positionen aus einer dem Realismus verpflichteten Politischen Philosophie, ist allerdings ein ziemlich durchsichtiges Manöver. Eine in der Debatte alles andere als allgemein akzeptierte substantielle Position kann man kaum mit Bezugnahme auf eine methodologische Differenz etablieren … anders als Miller suggeriert, steht hier nicht eine vermeintlich realistische Politische Philosophie einer naiven und moralisierenden Ethik – dem akademischen Äquivalent des heute gerne inkriminierten Gutmenschentums – gegenüber, sondern die entsprechende Kontroverse findet innerhalb der Politischen Philosophie selbst statt, die dann freilich mehr oder weniger empirisch (also zum Beispiel historisch und soziologisch) informiert sein kann.

Wie steht es um den vermeintlichen Realismus Millers und die durch ihn reklamierte Verankerung in der Empirie? Bei näherem Hinsehen stellen sich beide als ausgesprochen dünn heraus (so auch das Fazit der instruktiven Besprechung von Alex Sager). Was die in Anspruch genommene Empirie angeht, so finden sich in Millers Buch zum einen zahlreiche Verweise auf Zeitungsartikel, unter anderem aus solchen Qualitätsblättern wie Daily Mail und Daily Telegraph, deren als „Statistiken“ präsentierte Propaganda Miller neben Berichten aus dem Guardian stehen lässt; zum anderen, wird als Kronzeuge immer wieder der umstrittene Ökonom Paul Collier aufgerufen, dessen Buch Exodus: How Migration is Changing Our World aber gar keine echte empirische Studie ist und dessen nicht einmal durch die eigenen Modellierungen gedeckte doom-and-gloom-Rhetorik unschön auf Millers eigenes Buch abfärbt. In diesem Licht erscheinen Millers regelmäßige Verweise auf empirische „Belege“ (33) dafür, dass Immigration primär ein Problem ist – weil sie etwa zu Vertrauensverlust führe und damit letztlich zu einer Schwächung des Wohlfahrtstaats –, als zu schwach, um seine Verteidigung des staatlichen Rechts auf Ausschluss stützen zu können. Die Rechtfertigungslast liegt damit auf seiner normativen Aufwertung des Bedürfnisses der „einheimischen Mehrheitsgesellschaft“ (103), der nationalen Selbstbestimmung im Einklang mit der „nationalen Identität“ samt emotionaler Verbundenheit (48) und dem „nationalen kulturellen Erbe“ (167) gegen einen von oben auferlegten Multikulturalismus und das Schreckgespenst von „Parallelgesellschaften“ (ebd.) zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber auch dieser normative Ankerpunkt enthält offensichtlich eine Reihe fragwürdiger empirischer Annahmen.

Millers Realismus entpuppt sich als sehr selektiv, offen staatszentriert und immer aus der Perspektive eines als relativ homogen vorgestellten Nationalstaats und seiner sozial, zivil und kulturell integrierten Bürgerschaft gedacht, die es vor von außen eindringenden Anderen zu schützen gilt und in die sich jene, die „wir“ dann doch reinlassen, einzugliedern haben. Warum aber soll die populistische Beschwörung „strenger Grenzkontrollen“ (244) – in der Migrationswissenschaft auch als border spectacle beschrieben – realistischer sein als der Verweis auf die (ökonomisch ja häufig funktionale) de facto Durchlässigkeit von Grenzen und die relative Autonomie globaler Migrationsbewegungen sowie der mit ihnen einhergehenden sozialen Kämpfe? Was ist realistisch an Millers unterkomplexer, um nicht zu sagen: vollkommen untertheoretisierter Vorstellung davon, wie, und mit welchen oft katastrophalen Folgen, Grenzregime heutzutage funktionieren? Und wie realistisch ist ein Gesellschaftsbild, in dem der gelebte Alltags-Multikulturalismus so gut wie aller westlichen Gesellschaften nur in zum Klischee trivialisierter und vollkommen entleerter Form vorkommt – nämlich als „frischer Wind“ bzw. (im englischen Original) „spice“ (103)?

Bei einer sich als realistisch präsentierenden politischen Philosophie ist es nicht überraschend, dass auch Millers normative Argumentation durch die Schwächen der methodologischen und empirischen Einbettung affiziert wird. Die philosophisch unausgewiesene Kritik an Joseph Carens, dem Miller vorwirft, aufgrund seiner Position nicht in der Lage zu sein, das Argument der nationalen Identität ernst zu nehmen (30), statt auf die von Carens in seinem Buch The Ethics of Immigration gegen Millers Position vorgebrachten detaillierten Gegenargumente einzugehen, könnte man noch als verunglückte ad hominem Formulierung abtun. (Carens’ Buch wäre, nebenbei bemerkt, ein viel verdienstvollerer Kandidat für eine Übersetzung ins Deutsche gewesen. Dass sein Buch nicht auf Deutsch vorliegt, wird allerdings kompensiert durch zwei exzellente jüngere Studien von Andreas Cassee und Jan Brezger.) Und tatsächlich gibt es später im Buch auch Passagen, die durchaus philosophisch ernst zu nehmen sind –  von bestimmten Aspekten des „schwachen Kosmopolitismus“ und der Diskussion territorialer Rechte, über Millers einflussreiche Kritik an der Idee eines Menschenrechts auf globale Bewegungsfreiheit, bis zu seiner Diskussion der Carens entlehnten Idee der sozialen Zugehörigkeit und der (dann allerdings wieder normativ überfrachteten) Differenzierung zwischen sozialer, ziviler und kultureller Integration.

 

Von Wirtschaftsmigranten und abweichenden kulturellen Hintergründen

Die Anwendung der von Miller entwickelten Prinzipien auf konkretere Fälle – Flüchtlinge, Wirtschaftsmigranten, die Rechte von Einwanderern und deren Integration – krankt jedoch insgesamt ebenfalls an einseitigen Perspektiven und verzerrten Problembeschreibungen, die dann konzeptuelle und normative Folgen haben. Nehmen wir Millers Unterscheidung verschiedener Kategorien von Migranten. Selbst wenn man zugesteht, dass eine solche Unterscheidung unverzichtbar ist und vor allem zwischen Flüchtlingen auf der einen und anderen Migranten auf der anderen Seite getroffen werden sollte, so kann man Millers konkreten Vorschlag mit guten empirischen, begrifflichen und normativen Gründen bestreiten: Auch wenn es sich nur bei denjenigen um Flüchtlinge handeln mag, deren Menschenrechte in ihrem Heimatstaat nicht länger garantiert werden können und denen daher keine andere Möglichkeit als die Flucht bleibt (auch ihnen teilt Miller in vermeintlich realistischem Ton übrigens mit, es sei besser, „ehrlich zuzugeben, dass nicht jeder gerettet werden kann“ (145)), so ist doch vollkommen uneinsichtig, inwiefern „Wirtschaftsmigranten“ laut Miller „nur“ an einem ökonomisch besseren Leben gelegen ist, womit sie für ihn in die Kategorie „freiwillige Migranten“ (287, Fn. 2) fallen. Ebenso wenig dürfte Millers These, bei irregulärer Migration handele es sich um „eine Art Vordrängeln“ (183), die man nicht einfach durch Amnestien oder ähnliche Prämien belohnen und inzentivieren sollte, der komplexen Realität dieses Phänomens gerecht werden.

Miller zufolge müssen Aufnahmestaaten ihre Selektion aber durchaus begründen, denn auch Migranten, die keine Flüchtlinge sind, haben einen „moralischen Status“, den man nicht einfach außer Acht lassen kann. Die entsprechenden Kriterien fallen dann aber doch recht großzügig aus. Zwar lehnt Miller auf der einen Seite offen rassistische Selektionskriterien für die Auswahl von Einwanderern entsprechend der Präferenzen der Aufnahmegesellschaft ab, erklärt dann aber den Ausschluss von Migranten mit „abweichenden kulturellen Hintergründen“ (167) zum Schutz der eigenen Nationalkultur für durchaus legitim. Man muss sich fragen, wie sich diese Position von jener inzwischen auch im Bundestag vertretenen Form des „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar) zu unterscheiden gedenkt, der zufolge eine Ablehnung des Islam und die Diskriminierung muslimischer Migranten gar kein Rassismus sein könne, da eine Religion bekanntlich keine Rasse sei.

Insgesamt verschwendet Miller erstaunlich wenig Gedanken auf die Frage, welche politische Valenz seine theoretischen Positionen eigentlich haben. Dabei könnte man von einem sich als sozialdemokratisch verstehenden Autor vielleicht doch erwarten, dass er sich fragt, wie es sich für die häufig seit mehreren Generationen in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden etc. lebenden und arbeitenden „Menschen mit Migrationshintergrund“ zum Beispiel anfühlt, ein Problem zu sein – denn wie anders sollen sie sich verstehen, wenn sie als „Fremde in unserer Mitte“ und damit als auf Dauer vom herbeiphantasierten „homogenen“ (nicht nur „kollektiven“, wie es in der ansonsten verlässlichen deutschen Übersetzung heißt (34)) Wir der Nation ausgeschlossen präsentiert werden?

 

Schwierige Fragen, bessere Antworten?

Es ist Teil von Millers Realismus, „die Ängste, Ressentiments und Vorurteile, die die Einheimischen vielen (obwohl nicht allen) Einwanderern gegenüber hegen“ (243) als gegeben zu akzeptieren statt sie zum Gegenstand der Kritik oder doch zumindest der aufklärenden Befragung hin auf ihre empirische und normative Plausibilität zu machen. Diese Reifizierung von Vorurteilsstrukturen blendet vollkommen aus, wie sehr diese Einstellungen in der Bevölkerung Schwankungen unterliegen, die selbst, zumindest zum Teil, Ergebnis politischer Rhetorik und medialer Kampagnen sind. Mehr historisches Bewusstsein anstelle mythologischer Invokationen von Ursprungs- und Identitätserzählungen hätte an dieser Stelle geholfen. Experten, an die man sich wenden kann, gibt es dank des dynamischen Feldes der Migrationsgeschichte genug – auf Deutsch kann man etwa zu Philip Thers gleichfalls soeben erschienener Studie Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa greifen, die eine historisch informierte und alles in allem viel realistischere Gegengeschichte zu den gängigen und von Miller unreflektiert reproduzierten Dramatisierungen bietet.

Miller hat sicher Recht: Einwanderung ist in der Tat eine der zentralen Herausforderungen für die gegenwärtige politische Philosophie und sie wirft ohne Zweifel „schwierige Fragen darüber auf, wie wir uns selbst als Mitglieder politischer Gemeinschaften begreifen“ (35). In seinem Bestreben, eine Einwanderungspolitik zu umreißen und zu begründen, die so „gerecht ist wie möglich und so realistisch wie nötig“ (so der Klappentext des Verlags), landet Miller aber bei einer Position, die weder gerecht noch realistisch ist. Seine Antworten führen also nicht weit, und oft weisen sie zurück zu einem homogenisierenden Selbstverständnis der Nation, das in den durch Diversität und Pluralität gekennzeichneten Gesellschaften der Gegenwart eine historisch und soziologisch naive und politisch gefährliche Illusion darstellt.

 

 

Robin Celikates ist Associate Professor of Political and Social Philosophy an der Universität von Amsterdam, wo er das Forschungsprojekt ‚Transformations of Civil Disobedience’ leitet. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen der Sammelband The Irregularization of Migration in Contemporary Europe: Detention, Deportation, Drowning (herausgegeben mit Joost de Bloois und Yolande Jansen, Rowman & Littlefield 2014) und Sozialphilosophie (mit Rahel Jaeggi, C.H. Beck 2017).


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