theorieblog.de | Chantal Mouffe – Gezähmte Radikale oder überschätzte Reformerin? Stefan Wallascheks ZPTh-Artikel in der Diskussion

29. November 2017, Séville

Für Freund_innen der theoretischen Debatte bietet das Heft 1/2017 der Zeitschrift für Politische Theorie nicht nur inhaltlich Lesestoff, sondern in Form der Diskussion zur „Kritischen Theorie heute“ – gerahmt von einem Editorial der Herausgeber und einem abschließenden Beitrag zur Aktualität der Kritischen Theorie von Marc Grimm –  auch ein neues Debattenformat. Zwei Aufsätze stehen diesen Auseinandersetzungen voran: Christian Dries‚ Aufsatz zu Hannah Arendts Blick auf das Andere der Ordnung und Stefan Wallascheks Diskussion zu Chantal Mouffes Umgang mit der Frage nach den politischen Institutionen. Und auch Christian E. W. Kremsers anschließende Rezension zu Star Trek und der Politischen Theorie scheint einen Blick wert. Wir freuen uns, dass wir im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit der ZPTh Stefan Wallascheks Aufsatz kostenlos zum Download zur Verfügung stellen können. Wir freuen uns auch, dass Astrid Séville den passenden Kommentar dazu geschrieben hat. Herzliche Einladung an dieser Stelle an alle, in die Diskussion einzusteigen. Die Kommentarspalten sind hiermit eröffnet. Stefan Wallaschek wird in den nächsten Wochen antworten.

Gezähmte Radikale oder überschätzte Reformerin?

Selten hat jemand in sein Vorhaben mit so schrulligen Metaphern eingeführt wie Niklas Luhmann in seine „Sozialen Systeme“ von 1984: „Die Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen“ (S. 12f). Wollte er damit die Abstraktionshöhe seiner Überlegungen markieren, konnte der Leser entweder auf Autopilot schalten und es sich bei der Lektüre gemütlich machen oder immer wieder Bruchlandungen auf den harten Boden gesellschaftlicher Realität wagen. Dank Wolkendecke war nicht immer klar, wo man landen würde.

Mit Mouffe über den Wolken

Nun birgt die Wendung, man formuliere eine „Ontologie des Politischen“ eine ähnliche Fallhöhe. Und die Ontologen sind unter uns. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, mittlerweile fester Bestandteil im politiktheoretischen Kanon, reklamieren die Trennung von Ontologie und ontischer Ebene. Im einen Fall gehe es um das Sein des Politischen, im anderen um empirische Aktualisierungen und faktische Gegebenheiten. Laclau und Mouffe begreifen soziale Ordnung als Sedimentierung antagonistischer Diskurse. Es gebe keinen universalen Gemeinsinn und keine universale Klasse, sondern vielzählige Emanzipationsbewegungen und hegemoniale Projekte.

Wir merken durch den Theoriejargon, wo die Autoren ihr philosophisches und vor allem epistemologisches Handwerk gelernt haben. Mit ihrer an Louis Althusser und Antonio Gramsci geschulten Perspektive nehmen sie die Großwetterlage in den Blick. Sie fliegen im Sinne Luhmanns über den Wolken. Schnell haftet dann der Wirklichkeit etwas Schnödes an. Verfahren, Verwaltung, Vermittlungssauschüsse, Sitzordnungen, Tagesordnungen werden zu Petitessen politischer Weltdeutung, zu Fußnoten politischer Zeitdiagnosen, die der eigenen Theoriepolitik verhaftet bleiben. Mit den administrativen Banalitäten oder „Fakten“, wie Mouffe in Über das Politische schreibt, können sich ja empirische Politikwissenschaftler beschäftigen.

Daher hat Stefan Wallaschek in seiner Abhandlung „Chantal Mouffe und die Institutionenfrage“ Recht: Mouffe lässt in ihren Werken, denen für fleißige Leser mittlerweile etwas Repetitives anhaftet, die institutionelle Ausgestaltung der Demokratie links liegen. Sie interessiert sich nicht für die konkrete Ausgestaltung politischer Institutionen, obwohl sie es von der Anlage ihrer Theorie durchaus interessieren könnte. Schließlich geht es ihrer agonalen Demokratietheorie um die Frage, wie aus einem Antagonismus ein demokratiekompatibler Agonismus wird. Die formalen Strukturen, Verfahren, Mechanismen und Institutionen von Politik bleiben aber eine Leerstelle, die Mouffes Zeitdiagnosen und politischen Einlassungen nicht zu füllen vermögen. Wallascheks Artikel will Abhilfe schaffen und verspricht, die „Agonalität von Institutionen selbst“ (S. 4) in den Blick zu nehmen.

Wallaschek legt also den Finger in Mouffes Wunde: Obwohl sie selbst die Bedeutung der real existierenden Institutionen für ihr Konzept vom politischen agon (Wettstreit) unterstreicht, bleiben ihre Ausführungen zu eben diesen eigentümlich blass. Nun könnte man zur Ehrenrettung der Theoretikerin sagen, dass niemand alles theoretisieren muss – es gibt auch ein legitimes Desinteresse an Details. Manchmal ist die Wolkendecke eben geschlossen, und über den Wolken scheint die Sonne für den glückseligen Theoretiker oder für die unbekümmerte linke Theoretikerin. Mouffe interessiert „empirische Politik“ nicht als Wissenschaftlerin, sondern als Bürgerin. Doch ist es durchaus spannend und vielversprechend, wie Wallaschek die Theorie mit der materialistischen Staatstheorie weiterdenkt. Institutionen artikulieren und veröffentlichen nicht nur Konflikte, sondern haben zugleich eine konfliktgestaltende Kraft und sind selbst von Konflikten geprägt. Es ist die ontische Ebene, um im Jargon zu bleiben, die Wallaschek theoretisch ausbauen will. Dazu mobilisiert er Nicos Poulantzas marxistische Staatstheorie, um die „relationale[n] Kräfteverhältnisse im Staat“ (S. 4) zu reflektieren und das Problem zu lösen, dass Mouffe trotz ihrer Theorie keinen spezifischen Institutionenbegriff habe.

Konflikte in Institutionen

Die Wahl Poulantzas’ als Gewährsmann für Wallascheks Unterfangen stellt die Weichen: Ab jetzt wird der Konflikt im Staat selbst gefunden, ab jetzt lässt sich mit der Vorstellung neutraler Institutionen aufräumen. Doch Wallaschek ist selbst nicht radikal. Und seine durchlaufende Mouffe-Kritik hätte er durchaus noch schärfer auf ihr staats- und institutionenapologetisches Theorie-Gefälle pointieren können. Treffend argumentiert er, dass „Mouffes agonale Demokratietheorie weder die Institutionen, noch die normativen Schranken der gegenwärtigen Demokratie antastet“ (S. 7), denn statt antiparlamentarische Fundamentalopposition zu predigen und die Kooptation durchs System zu fürchten, plädiert Mouffe für einen „Gang durch die Institutionen“ (S. 6).

Mouffes Demokratietheorie fordert letztlich eine Formalisierung von Konflikten zur Entschärfung, von Forderungen zu hegemonialen Projekten und von Bewegungen zu Parteien; anarchische Zustände bleiben ihr fremd. Dagegen konfrontiert Wallaschek Mouffe mit den sedimentierten und strukturellen Konflikten im Staat und innerhalb von Institutionen und besteht auf deren inhärenter Konfliktivität. Mouffe ignoriere, ja verkenne die bestehenden, intra-institutionellen Konflikte.

Das offene Feld der Empirie

Doch die Betonung hegemonialer Kämpfe im Staat und der Fraktionierungen innerhalb politischer Institutionen reichert die Theorie noch nicht mit der empirischen Analyse und mit dem Detailwissen an, die Wallaschek zu Beginn seiner Abhandlung einfordert. In welchem Verhältnis stehen etwa inhärente Konflikte und Agonismen? Können bisweilen Institutionen je nach eigener Konfliktivität Antagonismen verschärfen? Spiegeln oder verzetteln sich gesellschaftliche Widersprüche in den Widersprüchen politischer Institutionen? Diese Fragen lässt die Abhandlung unbeantwortet. Die Perspektive Poulantzas‘ bleibt empirisch zu grobkörnig – und sie wird von ihrer marxistischen Verve befreit. Wallaschek verweist letztendlich selbst auf die nötigen empirischen Arbeiten, die Universalisierungen spezifischer Forderungen und das staatliche Interesse an hegemonial gewordenen Positionen durchleuchten können (vgl. S. 15).

Trotz dieser noch offenen Fragen gelingt es dem Autor, Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte beider Theorien nachzuweisen und unseren Blickwinkel auf die internen Konflikte in hegemonialen Äquivalenzketten und die Dynamiken politischer Institutionen zu verschieben. Wallascheks Kritik verdeutlicht, dass jene Phänomene (ebenso wie die Strukturen und Auswirkungen des globalisierten Finanzmarkkapitalismus) Mouffe zwar als besorgte Linke, nicht aber als Theoretikerin interessieren. Die Pointe, die Wallaschek hätte machen können, wäre folglich: Die Praxis wird nicht theoretisiert, nur politisch kommentiert. Es bleibt bei einer Untertheoretisierung politischer Wirklichkeit und Übertheoretisierung des Politischen mittels Epistemologie.

Gegen den Hype

Laclau und Mouffe beharrten darauf, dass sich ihr Entwurf von der Vorstellung rationaler Individuen, die in einer pluralistischen Gesellschaft stritten, abhebe; Antagonismus sei nicht tilgbar. Es ist Stefan Wallascheks Verdienst, gegen die Tendenz, Mouffe nolens volens zu einer liberaldemokratischen Autorin zu machen, den richtigen Einwand vorzubringen, dies verkenne doch ihre epistemologischen, „ontologischen“ Prämissen. Statt ihre vermeintliche Radikalität auszuzeichnen, macht der Autor endlich sichtbar, dass Mouffe weder Fisch noch Fleisch ist; sie ist weder radikale, revolutionäre Denkerin, noch politikwissenschaftlicher common sense. Beide Stilisierungen, einmal zum politiktheoretischen enfant terrible, ein andermal zur liberaldemokratischen Theoretikerin wider Willen sind zurückzuweisen. Um es auf den Punkt zu bringen: Mouffe ist nicht so radikal wie ihre ontologischen beziehungsweise epistemologischen Prämissen sie hätten machen können.

 


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