Lesenotiz zu Judith Shklar, Der Liberalismus der Rechte, übersetzt und eingeleitet von Hannes Bajohr, Matthes & Seitz 2017.
Judith Shklar ist dem deutschsprachigen Lesepublikum vor allem für ihren Liberalismus der Furcht bekannt; bisher lagen auf Deutsch mit einem gleichnamigen Band, mit Ganz normale Laster und mit Über Ungerechtigkeit lediglich Texte aus dieser Phase von Shklars facettenreichem Werk vor. Mit dem nun erschienen Büchlein Der Liberalismus der Rechte schaffen Hannes Bajohr als Übersetzer und der Berliner Verlag Matthes & Seitz Aufmerksamkeit dafür, dass es in Shklars politischer Theorie auch darüber hinaus viel zu entdecken gibt.
Der rote Faden, der sich durch die zwischen 1983 und 1992 geschriebenen, alle erstmals auf Deutsch und in einem Falle überhaupt erstmals aus dem Nachlass publizierten Texte zieht, ist der Zusammenhang zwischen liberalem Denken und Rechten. Der Liberalismus der Rechte, der das lavendelfarbene Cover ziert, ist allerdings, um es gleich vorwegzunehmen, nur eine, wenngleich zentrale Spielart dieses Verhältnisses, das sich für Shklar nur dann richtig analysieren lässt, wenn man liberales politisches Denken in größere ideologiegeschichtliche Zusammenhänge einordnet. Bisherige Besprechungen (z.B. hier und hier und hier) haben den Band vor allem als Teil von Shklars später Werkphase zum amerikanischen politischen Denken gelesen. Hannes Bajohrs Auswahl, die tatsächlich Pfade in ganz unterschiedliche Werkphasen zu schlagen vermag, zeigt aber auch das größere, gleichsam politikwissenschaftliche und ideengeschichtliche Programm auf, für das Shklar über den Liberalismus der Furcht hinaus steht.
Vier Liberalismen
Der Leser steigt mit einem Aufsatz aus dem Jahre 1992 ein, der wie eine Klammer die Themen der folgenden Texte umfasst. In dem Text über Rechte in der liberalen Tradition, aus Anlass des 200-jährigen Jubiläums der Bill of Rights verfasst, unterscheidet Shklar vier unterschiedliche Liberalismen mit Blick auf ihr Verständnis von Rechten. Der erste von ihnen ist der „Liberalismus der individuellen Selbstentwicklung“, den Shklar unter anderem mit John Stuart Mill verbindet. Hier bleibe wenig Raum für einen positiven Begriff von Rechten, die höchstens beständiger Gegenspieler der schöpferischen Selbstvervollkommnung des freien Individuums seien. Shklar wittert dahinter ein problematisches Erbe romantischer politischer Ideologien. Sie spitzt ihre Romantikkritik aus After Utopia insofern zu, als sie diese Form liberalen Denkens ganz unmissverständlich die „am wenigsten politische“ (25) nennt. Was diese Qualifizierung über Shklars Politikverständnis aussagt – dazu weiter unten mehr.
Wenn Shklar den Grad von Politizität so zum Organisationsprinzip ihrer Darstellung macht, dann darf davon ausgegangen werden, dass ihr auch eine zweite Spielart des Liberalismus nicht unbedingt politisch genug ist: der „Liberalismus der Herrschaft des Gesetzes“. Dieser, so Shklar, erklärt Freiheit als synonym zu Sicherheit und versteht Rechte als Mittel zu diesem höheren Zweck. An dieser Stelle schreibt Shklar ihre Kritik an legalistischem politischen Denken fort, das annimmt, Regeln seien „einfach da“. Ein solcher Liberalismus wird sowohl für den historischen Ursprung von Rechten blind als auch für die Einsicht in die Konflikthaftigkeit solcher „geteilte[n] Regeln […], in Bezug auf die wir alle Ansprüche gegeneinander erheben“ (28).
Allerdings macht der Essay Politische Theorie und die Herrschaft des Gesetzes deutlich, dass es Shklar hier durchaus nicht um Schubladenbildung, sondern um ideengeschichtliche Nuancierungen zu tun ist. Denn es ließen sich durchaus zwei unterschiedliche „Archetypen“ (109) des zeitgenössischen liberalen Rechtstaatsdenkens unterscheiden. Einerseits könne die „Herrschaft des Gesetzes“ wie schon bei Aristoteles mit einer „Herrschaft der Vernunft“ gleichgesetzt werden. Andererseits könne „Herrschaft des Gesetzes“ wie bei dem von Shklar hochgeschätzten Montesquieu als Resultat eines „ausbalancierte[n] politische[n] System[s], in dem eine Gewalt die andere kontrolliert“ (117) verstanden werden. Beide Vorstellungen entfalten in bestimmten historischen Kontexten Sinn – beide werden aber Shklar zu Folge im 20. Jahrhundert formalisiert, das heißt von ihren ursprünglichen historischen Bedeutungskontexten und ihren aus diesen Kontexten heraus verständlichen Zielen getrennt. Doch: „Ohne dieses Ideal schwebt die Herrschaft des Gesetzes heute in einem politischen Vakuum“ (109). So wird das Montesquieuʼsche Modell seiner historischen Sensibilität beraubt; Adepten des Aristotelischen Modells, wie beispielsweise Dworkin, hypostasieren wiederum in dessen Übersetzung in eine pluralistische Gesellschaft eine Metasprache und immunisieren sich damit gegen Konflikte.
Ideengeschichtlich betrachtet muss der Liberalismus der Herrschaft des Gesetzes also nicht unbedingt legalistisch-unpolitisch sein. Montesquieus politisches Denken steht exemplarisch für eine Brücke zwischen dem Liberalismus der Herrschaft des Gesetzes und der dritten Variante liberalen Denkens, dem „Liberalismus der Furcht“; beiden dient er als wichtige Inspirationsquelle. Dort, wo Shklar uns auf solche ideengeschichtlichen Weichen aufmerksam macht, werden ihre Texte besonders spannend. Hier macht sie nicht zuletzt die ideenpolitische Bedeutung von Rezeptionen und Rezeptionsgeschichte sehr anschaulich.
Der mit Shklars Namen so eng verbundene Liberalismus der Furcht ist diejenige Spielart liberalen politischen Denkens, die mehr als alle anderen dem Skeptizismus verbunden ist. Seine Argumente sind durch eine Furcht vor der Furcht vor systematischer Grausamkeit motiviert und beweisen eine besondere historische Sensibilität für die unterschiedlichen möglichen Erscheinungsformen von Grausamkeit. Deswegen nimmt der Liberalismus der Furcht Konflikte und widerstreitende Ansprüche und Interpretationen auch sehr ernst. Auch Rechte sind für ihn wichtig – aber eher als Restriktionen denn als individuelle Ansprüche.
Die Idee von Rechten als individuelle Ansprüche und Gegenansprüche ist für Shklar eine eigenständige Prägung des nordamerikanischen politischen Denkens; sie bildet das Zentrum der vierten Spielart des Liberalismus, dem „Liberalismus der Rechte“. Im erstmals veröffentlichten Text Die Idee der Rechte in der Frühphase der amerikanischen Republik und in Positive und negative Freiheit in den Vereinigten Staaten analysiert Shklar ihn in seinen ideen- und ideologiegeschichtlichen als auch sozialen Bedingungen. Der Liberalismus der Rechte entsteht aus dem Spannungsverhältnis zwischen einer sehr allgemeinen, flexiblen und mitnichten widerspruchsfreien Sprache natürlicher Rechte im politischen Denken der US-amerikanischen Gründungsphase einerseits, und andererseits dem Umstand, dass allen voran im Kontext der Sklaverei eine große Anzahl von Einwohnern von diesen Rechten ausgeschlossen wurde. Der Besitz von Rechten wird vor diesem Hintergrund zum Synonym von Freiheit – nicht aber nur einer Freiheit, die dem Individuum erlaubt, andere Ziele zu verfolgen: „Die Rechte haben einen unabhängigen Wert. Sie sind nicht mehr nur Akte der Befreiung sondern die Freiheit selbst, denn sie stellen einen fortwährenden, endlosen gesellschaftlichen Prozess dar, eine politische Lebensweise“ (151). Shklar macht hier ein historisches Erbe konfligierender Ansprüche auf individuelle Rechte aus, das bis in ihre Gegenwart alle politischen Debatten in den USA zu Debatten über Rechte werden lasse.
Liberalismus der Rechte und Liberalismus der Furcht: Kein Happy End
Die Frage, die durch die Lektüre unweigerlich aufgeworfen wird, ist die nach dem Verhältnis zwischen dem Liberalismus der Rechte und dem Liberalismus der Furcht. Während Shklar Letzteren in dem gleichnamigen Aufsatz noch sehr deutlich gegen Ersteren ausgespielt hatte, fällt die Einschätzung des Liberalismus der Rechte in den hier versammelten Essays weit differenzierter aus. Im Vierervergleich zeichnen sich sowohl der Liberalismus der Furcht und der Liberalismus der Rechte zunächst positiv gegenüber den anderen beiden Spielarten liberalen Denkens aus, indem sie die Existenz von Konflikten zur Prämisse haben. Durch das argumentative Sieb des Liberalismus der individuellen Selbstentwicklung und des Liberalismus der Herrschaft des Gesetzes fallen Konflikte hingegen als unerhebliche Nebensächlichkeiten oder Missverständnisse hindurch – eben deswegen sind sie weniger politisch.
Doch obwohl Konflikte das dynamische Bewegungsprinzip des Liberalismus der Rechte sind, stellen sie ihn gleichzeitig auch vor sein größtes Problem: „Es fehlt an Maßstäben, wie Konflikte zwischen Rechten zu lösen sind“ (62). Shklar räumt ein, dass hier auch der Liberalismus der Furcht nicht mit einem eindeutigen Entscheidungskriterium aushelfen kann (63). Hannes Bajohr legt in seinem lesenswerten einleitenden Vorwort dar, dass Shklar nichtsdestotrotz in der nordamerikanischen Idee der Rechte ein Mittel gefunden habe, „das ihren Liberalismus der Furcht auch wehrhaft machen sollte“ (9).
Dennoch bleibt Shklar Realistin genug, um die Spannungen zwischen dem skeptischen Liberalismus der Furcht und der US-amerikanischen Vorstellung der Rechte deutlich zu benennen. Ihre Analyse des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des Liberalismus der Rechte und der historischen Erfahrung der Sklaverei macht überdeutlich, dass zwar der liberale Ruf nach Rechten vielfach durch die Furcht vor einer der Sklaverei vergleichbaren sozialen Stellung motiviert ist; sie zeigt aber auch, dass diese aber sehr regelmäßig eine Furcht ist, die dabei die willkürliche Grausamkeit gegenüber Sklaven gerade ausblendet. Am deutlichsten bringt dies ein Satz aus dem Paralleltext American Citizenship zum Ausdruck, in dem Shklar über die auf ihre Rechte pochenden Amerikaner schreibt, sie hätten die Sklaverei gefürchtet, aber den Sklaven gehasst. Der Liberalismus der Furcht verlangt dagegen gerade die Kultivierung einer Sensibilität für die unterschiedlichsten Formen der Grausamkeit gegen andere. Kann dies innerhalb der politischen Sprache des Liberalismus der Rechte gelingen? Shklar hält den ihr eigenen Skeptizismus durch: Selbst dort, wo zum Beispiel in der Abolitionisten-Bewegung mit der Sprache des Liberalismus der Rechte für die Sklaven Partei ergriffen worden sei, sei dies im Namen der Verbindlichkeit höherer, religiöser Prinzipien geschehen. Der Liberalismus der Furcht dagegen will gerade ohne eine solche Berufung auf höhere Gesetze auskommen, seien es Gott oder die Natur. Für Shklar sind solche Referenzen anachronistisch (62). So scheint der wirkmächtige Liberalismus der Rechte vor größeren Herausforderungen zu stehen.
Die einzige Antwort, die Shklar in den vorliegenden Essays gibt, verdeutlicht ihre realistische, politikwissenschaftliche Perspektive auf politiktheoretische oder politikphilosophische Fragen: „Es gibt keine absolut hieb- und stichfeste Lösung, selbst wenn wir den Gerichten und unserem eigenen politischen Menschenverstand zutrauen, uns über die Runden zu bringen“ (63). Shklar steht in diesen und in anderen Texten für eine Art, politische Ideengeschichte zu betreiben, die einen solchen politischen Menschenverstand nähren kann. Auch wenn die hier besprochenen Essays gerade nicht vermögen, Trump-Fürchter mit einer Erinnerung an den US-amerikanischen Kampfgeist über ihre Sorgen hinwegzutrösten (wie z.B. hier suggeriert), so sind sie gerade vermittelt über diesen politischen Menschenverstand aktuell. Denn sie machen argumentative Pfadabhängigkeiten verständlich, schärfen das Differenzierungsvermögen und führen alternative Denkgewohnheiten vor Augen. Nicht zuletzt enthalten sie sich prinzipiell jeder Art des Fatalismus.
Es ist zu wünschen, dass wir in Zukunft noch mehr von Shklar auf Deutsch zu lesen bekommen. Dass Hannes Bajohr das Medium der Übersetzung stets dazu nutzt, im Verhältnis zur englischsprachigen editorischen Aufbereitung ihrer Schriften alternative Schneisen durch Shklars Werk zu schlagen und damit auch andere gedankliche Zusammenhänge in ihrem Werk sichtbar zu machen, ist so verdienstvoll wie fruchtbar. So lohnt sich eine Lektüre des Bandes eben auch für diejenigen, die mit den englischsprachigen Ausgaben bereits vertraut sind.
Rieke Trimҫev ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald.
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