Philosophie und Sonderpädagogik im Gespräch mit Martha Nussbaum. Bericht über den Würzburger Workshop „Menschliche Fähigkeiten & Komplexe Behinderungen“

Auch wenn Interdisziplinarität in der wissenschaftlichen Welt derzeit hoch im Kurs steht, ist ein Austausch von Philosophie und Sonderpädagogik selten. Zwei Lehrstühle der Universität Würzburg (Jörn Müller, Philosophie und Reinhard Lelgemann, Sonderpädagogik) haben auf dieses Desiderat reagiert und die beiden Disziplinen über den capabilities approach von Martha Nussbaum in einen inhaltlichen Austausch gebracht.

Der durch die Vorträge und Diskussionen entstandene Dialog hat deutlich gemacht, dass die Thematik komplexer Behinderungen in der Philosophie und politischen Theorie gänzlich unterbelichtet ist und zentrale normative Begriffe wie Würde, Autonomie und Verantwortung auf den Prüfstand gestellt. Gleichzeitig haben die Vorträge von Vertreter_innen beider Fächer mögliche Perspektiven eröffnet, wie Moralphilosophie und politische Philosophie mit ihrem begrifflichen und konzeptuellen Instrumentarium zur Klärung der normativen Grundlagen des Umgangs mit Schwerstbehinderten beitragen können.

Eine wesentliche Erkenntnis des Workshops war, dass dies nur gelingen kann, wenn Philosophie und politische Theorie sich ihrer „déformation professionelle“ bewusst werden, lediglich im Allgemeinen, Generalisierten zu sprechen, worüber sie all zu leicht der einzelnen, konkreten, individuellen Menschen aus dem Blick verlieren.

Martha Nussbaums capabilities approach

Nussbaum bezog sich in ihrer Keynote-Lecture nicht explizit auf Personen mit schweren Behinderungen, vielmehr ging es ihr um einen sozialphilosophischen Zugang zu Stigmatisierungsphänomenen am Beispiel der Diskriminierung von alten Menschen. Ihre Analyse setzte bei Mills Beobachtung an, dass jede Form der Unterdrückung denjenigen vollkommen natürlich erscheint, die mit ihr leben (Mill 1869). In Bezug auf den marginalisierten Status von alten Menschen in westlichen Gesellschaften forderte sie eine stärkere politische Interessenorganisation und den politischen Kampf um einen gleichen Status in der Gesellschaft – ein Argument, dessen Ausarbeitung in Bezug auf Menschen mit Behinderungen interessant gewesen wäre. Doch einige andere Tagungsbeiträge bezogen sich explizit (und teilweise auch kritisch) auf Nussbaums Ansatz politischer Gerechtigkeit als Anspruch auf bestimmte Verwirklichungschancen (capabilities) spezifisch in Bezug auf Menschen mit komplexen Behinderungen  (ein Terminus, der von Barbara Fornefeld geprägt wurde). Jörn Müller hob in seinem Einführungsvortrag als Stärke von Nussbaums Ansatz seine Kontextsensitivität sowie die Verbindung von allgemeinen Gerechtigkeitsanforderungen mit einer Perspektive auf das konkrete Individuum hervor.
Gegen Rawls’ abstrakte und vom konkreten Einzelnen losgelöste kontraktualistische Gerechtigkeitstheorie stehe bei Nussbaum die Fokussierung auf die Animalität, Sozialität und Verletzlichkeit des Menschen. Angelika Kallhoffs Beitrag bezog sich auf das Potential, das Nussbaums Emotionstheorie gegen zu rationalistische Vorstellungen vom Menschen eröffnet: Die emotionale Verfasstheit des Menschen zeige dessen prinzipielle Bedürftigkeit und strafe das Idealbild vollkommener Souveränität und Autonomie Lügen.

Doch obwohl Nussbaums Ansatz für die gerechtigkeitstheoretische Einbeziehung von schwer behinderten Menschen anschlussfähig ist und sie diese in ihrem Werk explizit berücksichtigt, zeitigt ihre Theorie in Bezug auf diese Menschen auch Probleme. So kritisierte Sigrid Graumann Nussbaums moralphilosophische Begründung des Rechts auf Verwirklichungschancen mittels einer starken und gleichzeitig wagen Konzeption des Guten. Zum einen bemängelte Graumann Nussbaums Vorstellung eines Mindestmaßes an capabilities für ein menschenwürdiges Leben, womit Menschen, die diese capabilities nicht in Form von functionings verwirklichen können, abgesprochen wird, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Zum anderen schließe Nussbaums Schwellentheorie Menschen mit sehr schweren Behinderungen von Vornherein aus und könne deshalb nicht als Gerechtigkeitstheorie in einem umfassenden inklusiven Sinn gelten. Doch jenseits der problematischen, hegemonialen Vorstellung eines definierbaren Mindeststandards an functionings für ein menschenwürdiges bzw. gutes Leben erweise sich Nussbaums Grundgedanke einer unhintergehbaren Bedürfnisstruktur menschlichen Lebens als fruchtbar für die Einbeziehung komplex behinderter Menschen in eine Theorie der Gerechtigkeit.

Das Verständnis von Autonomie und Würde

Ein grundlegendes Problem (moral-)philosophischer Begründungsprogramme für den gleichen normativen Status aller Menschen ist die Fokussierung auf die Vermögen der Rationalität und Autonomie, wodurch sie Gefahr laufen, Menschen mit geistigen Behinderungen zu exkludieren. Bei dem Bild des Menschen als souveränes, autonomes Subjekt, das von der Philosophie allzu oft propagiert wird, handle es sich jedoch, so Kallhoff in seinem Diskussionsbeitrag, um eine problematische Idealisierung, die ein starkes Moment epistemischer und symbolischer Gewalt enthält. Ein möglicher Ausweg aus dieser Gewaltförmigkeit, welche auch die Philosophie hervorbringt, wäre ein Denken, das viel mehr die Relationalität von Menschen in den Fokus stellt. Eine ähnliche Argumentation verfolgte auch Graumann, die mit dem Begriff einer assistierten Autonomie auf eine nicht-hegemoniale Deutung von Selbstbestimmung abstellte: Wert und Würde eines Menschen ließen sich nicht danach beurteilen, über wieviel Autonomie er empirisch verfügt, vielmehr sei es eine Solidaritätspflicht, jeden Menschen bei der Entfaltung seines individuellen Autonomiepotenzials zu unterstützen – sei dieses auch noch so gering, dass damit Nussbaums Schwellenwert nicht erreicht werden kann. Grund der Solidaritätspflichten, die wir auch schwer behinderten Menschen schulden, ist in Graumanns Ansatz die Würde des Menschen, die sie im Sinn einer spezifischen Kant-Lesart versteht: Sie argumentierte, dass es bei Kant zwei Begriffe von Autonomie gibt, nämlich Autonomie als empirische Fähigkeit und Autonomie in einem normativen, noumenalen, nicht empirischen Sinn. Die Würde des Menschen begründe sich nicht durch seine empirische Autonomiefähigkeit, sondern vielmehr durch sein Autonomiepotential, seine Teilhabe an noumenaler Autonomie.
Leider wurde diese Interpretation von Kants Würdebegriff nur sehr knapp ausgeführt, denn sie erschien in Hinblick auf Menschen mit geistiger Behinderung vielversprechender als Arnd Pollmanns Beitrag, der Würde im Sinn einer verkörperten Selbstachtung konzeptualisierte. Auch wenn Pollmann in seinem sehr differenzierten Vortrag die Fragilität und Verletzbarkeit von Menschen zum Ausgangspunkt nahm und betonte, dass allen Menschen gleicher Respekt geschuldet sei und wir gerade denjenigen gegenüber, die aufgrund komplexer Behinderungen besonderen Schutz- und Unterstützungsbedarf haben, besonders verpflichtet sind, vertrat er einen sehr anspruchsvollen und damit tendenziell exklusiven Würdebegriff. Denn wenn Würde an Selbstachtung hängt, heißt dass, das manche Menschen über keine Würde verfügen, auch wenn sie trotzdem einen gleichen moralischen Status und damit einen Anspruch auf Respekt haben.

Normen der Anerkennbarkeit und ein asymmetrischer Begriff von Verantwortung

Die Beiträge von Markus Dederich und Ursula Stinkes, die mit zu den interessantesten und gelungensten der Tagung zählten, übten radikale Kritik an rationalistischen moralphilosophischen Begründungsprogrammen und nahmen eine sozialphilosophische Perspektive ein, die v.a. durch poststrukturalistische und phänomenologische Ansätze inspiriert waren. Dederich stellte in seinem Beitrag die Frage, was eigentlich die unausgesprochenen Hintergrundannahmen des normativen philosophischen Diskurses sind und analysierte unter Bezugnahme auf Judith Butler die Machtpraktiken unseres theoretischen Umgangs mit Schwerstbehinderten. Reflexiv meist nicht eingeholte soziale Praktiken definieren, wer überhaupt als adressierbares Subjekt gilt und legen damit Normen der Anerkennbarkeit fest. Die soziale Konstruktion von Maßstäben, die unserem Denken über und Umgang mit geistig schwer behinderten Menschen allzu oft innewohnen, führen, so Dederich, zu problematischen Reziprozitätsnormen, die nicht zu Integrationsprozessen beitragen, sondern vielmehr Exklusionsfaktoren in Bezug auf Menschen mit komplexer Behinderung darstellen (ein Beispiel dafür wäre der oben erwähnte philosophisch hegemoniale Begriff von Autonomie). Seine machttheoretische Analyse führte Dederich zu einer Übereinstimmung mit Raymond Geuss‘ Diagnose, dass ideale (Gerechtigkeit-)theorien insofern hochproblematisch sind, als sie zu sehr von realen Macht- und Gewaltverhältnissen abstrahieren und epistemischer sowie symbolischer Gewalt (hier bezüglich unseres Umgangs mit Menschen mit komplexer Behinderung) zu wenig Rechnung tragen.

Auch Stinkes bezog sich in ihrem Beitrag auf die Asymmetrie von Beziehungen zwischen Menschen. Ihr Fokus lag jedoch nicht auf der intrinsischen Gewaltförmigkeit von Anerkennungsrelationen, vielmehr entwarf sie verschiedene Ebenen von Verantwortung (persönlich, pädagogisch, öffentlich) und rekonstruierte die Ebene persönlicher Verantwortung gegenüber Menschen mit komplexer Behinderung mit Hilfe von Lévinas’ phänomenologischer Alteritätstheorie als asymmetrisch im Sinn einer grenzenlosen Verantwortung dem radikal anderen Menschen gegenüber. Auch wenn der Andere in seiner Andersheit unverfügbar ist, ist die Bezugnahme auf ihn als leibliches Wesen doch im Modus der Verantwortungsübernahme möglich.

In seinem Einführungsvortrag hatte Lelgemann selbstkritisch die Frage aufgeworfen, ob die Sonderpädagogik durch ihre Fokussierung auf „das Andere“ nicht selbst zur Stigmatisierung von Menschen mit komplexen bzw. geistigen Behinderungen beigetragen hat. Der instruktive Workshop hat auf jeden Fall dazu beigetragen, das komplementäre Problem der Philosophie kritisch und produktiv anzugehen, nämlich dass sie der Konkretheit und „Andersheit“ von Menschen nicht hinreichend Rechnung trägt und allzu oft zu Idealisierungen tendiert. Doch die Gegenwart Anderer ist die Realität unserer geteilten Welt, der wir uns nicht entziehen können, so Stinkes in ihrer Rezeption von Hannah Arendts Weltbegriff, sondern in der wir gemeinsam – das heißt inklusiv – interagieren und Verantwortung übernehmen müssen.

Regina Schidel ist Doktorandin am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Promotionsstipendiatin der Leibniz-Forschungsgruppe “Transnationale Gerechtigkeit” unter der Leitung von Rainer Forst. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Frage, wie rational und autonom stark eingeschränkte Menschen in einer rechtfertigungsbasierten Gerechtigkeitstheorie angemessen zu berücksichtigen sind.

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