theorieblog.de | „Formwandel der Demokratie“. Bericht zur DVPW-Sektionstagung in Trier
8. Mai 2017, Kemper & Riede
Die „Krise der repräsentativen Demokratie“ ist kein neuer Topos des Fachs. Doch hat das bereits vor zwei Jahren auserkorene Thema „Formwandel der Demokratie“ der Frühjahrstagung der DVPW-Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“, zu der Winfried Thaa (Universität Trier) und Christian Volk (FU Berlin) vom 29. bis zum 31. März 2017 nach Trier einluden, vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen neue Brisanz erhalten: In Zeiten eines Erstarkens des Rechtspopulismus sowie autoritärer und antipluralistischer Tendenzen in vielen europäischen Ländern, des „Brexit“ oder der polarisierenden Wahl Donald Trumps in den USA gilt es, die aktuellen Entwicklungen politik- und demokratietheoretisch einzuordnen sowie konzeptionelle Antworten auf diese Herausforderungen zu entwickeln. Der für Ambivalenzen offene Begriff des „Formwandels“ – von den Gastgebern als bewusste Abgrenzung zum Terminus der „Postdemokratie“ gewählt – erscheine angesichts der aktuellen Entwicklungen beinahe als Euphemismus, so Winfried Thaa in seiner Eingangsrede. Zugleich macht der Begriff auf den zentralen Ausgangspunkt der Tagung aufmerksam: Potentiell demokratiegefährdenden Entwicklungen stehen gegenläufige Tendenzen wie die Ausweitung individueller Rechte und die Institutionalisierung neuer Partizipationsformen gegenüber. Zentrale Themen und Fragen der Tagung waren daher neben der demokratietheoretischen Analyse des Formwandels auch normative Bestimmungs- und Selbstvergewisserungsversuche: Wie manifestiert sich der Formwandel der Demokratie und wieviel Formwandel verträgt sie?
Vom Formwandel…
…der Demokratie
Dass Krisendiagnosen zum Zustand der Demokratie kein neues Phänomen sind, machte Veith Selk (TU Darmstadt) deutlich. Er identifizierte bei Theodor Eschenburg, Werner Weber und Jürgen Habermas „frühe Diagnosen eines Formwandels der Demokratie“. Mit Blick auf die Gegenwart schloss André Brodocz (Universität Erfurt) seine These an, dass derzeit politisch und gesellschaftlich debattierte Krisennarrative – er identifizierte Narrative zu einer Integrations-, Staats- und Volkskrise – individuelle Enttäuschungen kollektivierten sowie ordnungsbildend und mobilisierend wirkten. Auf diese Weise blockierten sie einen „normativen Formwandel der Demokratie“, da sie Erwartungen an die Demokratie stabilisierten und zugleich Enttäuschungen festigten. Werbung für ein neues Forschungsfeld machte Thorsten Thiel (Universität Frankfurt am Main). Er bot einen Parforceritt durch das demokratietheoretisch noch ungehobene Potential auf dem Gebiet des digitalen Strukturwandels. Die Digitalisierung (lies nicht: das Internet) habe in den Bereichen Partizipation, Öffentlichkeit, Kapitalismus und Herrschaft tiefgreifende und dauerhafte Effekte auf die Demokratie. Der dadurch verursachte und vorangetriebene Formwandel der Demokratie müsse daher, so sein Appell, demokratietheoretisch angemessen reflektiert und dazu das vorhandene politiktheoretische Instrumentarium erweitert (supersizing) und gerade mit Blick auf die Analyse von Herrschaftskonstitution und -ausübung ergänzt (theory 2.0) werden. Schließlich identifizierte Micha Knuth (HU Berlin) im französischen politiktheoretischen Diskurs zur substantiellen Bestimmung der Demokratie die Autonomie als geteilten „demokratischen Imperativ“ von Cornelius Castoriadis, Marcel Gauchet und Claude Lefort. Castoriadis benannte er als Verfechter der direkten Demokratie; Lefort und Gauchet als Vertreter einer Reform des repräsentativen Systems, dessen konstitutive Spannung sie adressierten: Erst durch Repräsentation gelangten gesellschaftliche Konflikte in den politischen Prozess und würden dort reflektiert, was derzeit – so Knuth insbesondere in Anschluss an Gauchet – jedoch nur unzureichend umgesetzt würde. Mit Blick auf verschiedene Demokratiekonzeptionen diskutierte abschließend Thorsten Hueller (Fernuniversität Hagen) das Verhältnis von normativen Demokratieprinzipien und deren Umsetzung.
…der Partizipationsformen
Neue Beteiligungsformen und der Wandel der Öffentlichkeit werfen Fragen nach demokratischer Legitimation und politischer Inklusion auf und stehen in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis zum repräsentativen System. So machte Markus Linden (Universität Trier) darauf aufmerksam, dass das deutsche Petitionswesen verstärkt als plebiszitäre Protestform wahrgenommen werde, dabei aber von Einflussdisparitäten und einer problematischen Gewichtsverschiebung von parlamentarischen zu privaten Petitionsplattformen gekennzeichnet sei. Deliberative Beteiligungsverfahren in Form sogenannter „Mini Publics“ stellten Gary S. Schaal und Fränze Wilhelm (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) anhand einer empirischen Studie im Bereich Stadtentwicklung vor. Die Etablierung dieser Verfahren habe die Verbesserung demokratischer Legitimation, die Inklusion marginalisierter Gruppen sowie die Entwicklung einer demokratischen Beteiligungskultur zum Ziel. Jedoch führe ihre Implementierung in liberal-repräsentative Institutionenkontexte auch zu „Legitimationsfriktionen“, welche demokratietheoretisch adressiert werden müssten. Beide Vorträge verwiesen somit auf Möglichkeiten und Herausforderungen der „Einbettung“ neuer Partizipationsformen in das repräsentative System. Eine kritische Skepsis gegenüber dem Formwandel der Öffentlichkeit forderte schließlich Michel Dormal (Universität Trier). In Erneuerung der Kritik von Wilhelm Hennis und Pierre Bourdieu problematisierte er die entpolitisierende Wirkung eines Politikverständnisses, das soziale Konflikte verdecke und die Bürger_innen lediglich als Publikum betrachte. Die „Theorien des demokratischen Formwandels“ von Bernard Manin, John Keane und Pierre Rosanvallon berücksichtigten diese Tendenzen der Entpolitisierung zu wenig.
…des demokratischen Subjekts
Migration und die Herausbildung transnationaler und supranationaler Strukturen führen zu tiefgreifenden Transformationsprozessen des demokratischen Subjekts. In diesem Zusammenhang plädierte Julia Schulze Wessel (TU Dresden) für eine neue Perspektive auf Geflüchtete als politische Subjekte. Die bislang vorherrschende Sicht des „methodologischen Nationalismus“ produziere einseitig das Bild unsichtbarer Personen als Gegenfiguren zu Staatsbürger_innen – außerhalb des nationalstaatlichen Sozial- und Zugehörigkeitsgefüges. Geflüchtete erschienen so als „apolitische Rezipient_innen humanitärer Hilfe“, verlustig all ihrer Rechte und politischen Handlungsfähigkeit. Die Neufassung der Figur des Geflüchteten als handelndes Subjekt in transnationalen und informellen Räumen habe tiefgreifende Wirkung auf das Nachdenken über Demokratie: Grenzziehungen würden von Geflüchteten hinterfragt. Sie würden so selbst zu Figuren der Transformation von Demokratie über deren nationalstaatliche Grenzen hinweg. Jenseits nationalstaatlicher Grenzziehungen argumentierte auch Markus Patberg (Universität Hamburg), der im Formwandel der europäischen Demokratie vier unterschiedliche Narrative zur EU und ihrer verfassungsgebenden Gewalt identifizierte: Das Narrativ eines grenzüberschreitenden „europäischen Volks“, einer bei den Nationalstaaten verbleibenden verfassungsgebenden Gewalt in Form „pluraler demoi“, einer gemischten konstituierenden Gewalt (EU und Nationalstaaten als „föderale Union“) und zuletzt eines Verzichts auf ein Subjekt verfassungsgebender Gewalt („Europa als anti-hegemoniale Multitude“). Anna Meine (Universität Siegen) lotete mit Seyla Benhabib, Jürgen Habermas und James Bohman die Möglichkeiten mehrfacher demokratischer Mitgliedschaften in transnationalen Ordnungen aus und verwies dabei auf ein Spannungsfeld: Diese stellten nur gemeinsam die Selbstbestimmung individueller Mitglieder in unterschiedlichen demoi und politischen Ordnungen sicher. Zugleich stünden sie aber aufgrund der inhärenten Begrenztheit demokratischer Mitgliedschaft in Widerspruch zueinander. Daher sei die Pluralisierung demokratischer Mitgliedschaften an die Bedingung geknüpft, dass jede Mitgliedschaft in einem spezifischen Kontext, für einen demos bzw. in einer Teilordnung, gültig sei.
Verhältnisbestimmungen von Demokratie, Protest und Populismus
Besonders prägend für die Tagung waren wiederholt diskutierte Fragen zum Verhältnis von Populismus und demokratischen Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Pluralität. Claudia Landwehr (Universität Mainz) ging in Anschluss an Nadia Urbinati der Frage nach, ob Populismus als „natürliche“ Reaktion auf eine „expertokratische Entstellung der Demokratie“ zu verstehen sei. Sie kam zu dem Schluss, dass Expertokratie und Populismus vielmehr Symptome einer Krise des demokratischen Prozeduralismus seien, welcher einer Verteidigung und Erneuerung bedürfe. Paula Diehl (HU Berlin) analysierte die 5-Sterne-Bewegung um Beppe Grillo als „Laboratorium neuer Tendenzen“ und beschrieb diese aus repräsentationstheoretischer Perspektive als zutiefst ambivalent und widersprüchlich – als „strange animal“. Das Bild einer im Selbstverständnis „Nicht-Partei“ des „postideologischen“ Zeitalters erschwere zudem, die Bewegung in die Reihe rechtspopulistischer Parteien Europas einzuordnen. Olaf Jann (Universität Siegen) stellte in seinem Beitrag die später kontrovers diskutierte These auf, Populismus sei als Ausdruck einer „rebellierenden Demokratie“ zu verstehen – im Sinne eines Aufstands der Bürger_innen, „nicht derart regiert zu werden“ (Michel Foucault) – und glaubte darin ein demokratisches Potential populistischer Bewegungen zu erkennen. Dem hielt Martin Nonhoff in der Diskussion entgegen, dass Foucaults Konzept demokratischer Herrschaftskritik im Sinne einer Selbstregierung als Freie und Gleiche nur schwerlich auf eine Bewegung anwendbar sei, die nicht per se herrschaftskritisch sei, sondern vielmehr die Herrschaft ihrer eigenen exklusiven Gruppe anstrebe. Jan Christoph Suntrup (Käte Hamburger Kolleg – „Recht als Kultur“) verwies auf die „Ambivalenz von Misstrauensdemokratien“. Misstrauen sei als herrschaftskontrollierendes Mittel grundlegende Bestandsvoraussetzung von Demokratie. Doch könnten populistische Misstrauensbekundungen, wie sie derzeit in Verschwörungstheorien, „alternativen Fakten“ und vereinfachten Freund-Feind-Schemata artikuliert würden, demokratiegefährdende Qualität erlangen.
Der Frage, wie neue Partizipationsformen, politischer Protest und Populismus zu bewerten sind, ging schließlich auch eine von Christian Volk moderierte Podiumsdiskussion unter dem Titel „Mehr Partizipation – weniger Demokratie?“ nach, an der Robin Celikates (Universiteit van Amsterdam), Ingolfur Blühdorn (Wirtschaftsuniversität Wien) und Hans J. Lietzmann (Universität Wuppertal) teilnahmen. Kontrovers diskutiert wurde insbesondere die Frage, ob und inwiefern Links- und Rechtspopulismus Gemeinsamkeiten aufwiesen. Lietzmann sah in beiden Formen des Populismus eine gemeinsame soziale Situation als Ursprung, Blühdorn mit der Erfahrbarmachung von Autonomie und Souveränität ein gemeinsames Motiv des Protests, während Celikates beide Einschätzungen entschieden zurückwies und für eine deutlichere und grundlegende Differenzierung zwischen Links- und Rechtspopulismus plädierte. Diese unterschieden sich, so Celikates, nicht nur hinsichtlich ihrer Zielsetzungen, sondern auch hinsichtlich ihrer Organisationsformen. Als Spezifikum des Rechtspopulismus benannte er dessen Berufung auf eine „Einheit des Volkes“, das antipluralistische Politikverständnis, Rassismus und Formen regressiver und exkludierender Identitätsbildung. Misstrauen und Kritik linker Protestbewegungen, welche die Multitude förderten, speisten sich nicht aus derselben Affektlage.
Die Substanz demokratischer Legitimität
Die zahlreichen aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Populismus und Demokratie verweisen auch auf demokratietheoretische Grundsatzfragen zur substantiellen Bestimmung von Demokratie. Wie sieht ein zeitgemäßer Begriff von Demokratie aus und was sind dessen zentrale Prinzipien? Dazu hielten Catherine Colliot-Thélène und Wolfgang Merkel zwei programmatische Keynotes. Catherine Colliot-Thélène (Université Rennes) setzte zu dieser Frage klare Akzente: Sie plädierte für eine Revision des tradierten Demokratieverständnisses und für eine Abkehr vom Begriff der Volkssouveränität. Direktdemokratische Beteiligungsformen seien nicht per se demokratisch. Der Selbstgesetzgebung stellte sie die Rechtsgleichheit als das Kernprinzip liberaler Demokratien entgegen – auch um die neuen Formen politischen Handelns einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Wolfgang Merkel (WZB Berlin) entwickelte ein Prozessmodell demokratischer Legitimität unter der Frage „Form und Substanz: Welche Legitimität braucht die Demokratie?“. Demokratische Legitimität, die Rechtmäßigkeit und Anerkennungsfähigkeit von Herrschaft, sei begrifflich und analytisch zu unterscheiden von Legitimation, welche den Prozess der Herstellung von Legitimität beschreibe. Demokratische Legitimität bestehe dabei aus zwei notwendigerweise verbundenen Dimensionen: Der Legitimität, verstanden als normativer Anerkennungswürdigkeit einer Demokratie, die sich aus Grundrechten, Institutionen, Verfahren etc. speise, sowie andererseits dem Legitimitätsglauben, verstanden als der empirischen Anerkennungszuschreibung durch ihre Bürger_innen.
Eine durchweg überzeugende und weithin geteilte Bestimmung des Formwandels der Demokratie lieferte die Tagung letztlich nicht, wohl aber schärfte sie den Blick für dessen verschiedene Facetten und Ambivalenzen sowie für politiktheoretische Desiderate in seinen noch wenig(er) erschlossenen Gebieten. Zudem wurde deutlich, dass Populismus nicht nur ein politisch, sondern auch politiktheoretisch umkämpfter Begriff ist. Als präzise Wissenschaftskategorie mit zeitdiagnostischem Potential ist er insbesondere auf gesellschaftstheoretischer Ebene noch nicht ausreichend bestimmt. Um den Formwandel der Demokratie und seine Phänomene wie Populismus, neue Beteiligungsformen, Digitalisierung und Transnationalisierung einordnen zu können, bedarf es, so wurde in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen immer wieder hervorgehoben, Rückbindungen an normative Grundsatzbestimmungen moderner Demokratien. Entsprechend wurde die Gefährdung liberaler Demokratien durch den rechtspopulistischen Bezug auf ein fiktiv-homogenes Volk und dessen antipluralistische Bestrebungen – ein Merkmal, das jüngst Jan-Werner Müller als Kern des Populismusbegriffs ausmachte – mehrfach benannt. Es bleibt Aufgabe der Politischen Theorie, Wege aufzuzeigen und zu prüfen, wie die Versprechen der Demokratie und ihrer Prinzipien des Pluralismus, der (Rechts-)Gleichheit und der Autonomie im Kontext des Formwandels einzulösen sind.
Dieser Tagungsbericht erscheint ebenfalls bei Soziopolis.
Die Autorinnen sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an der Professur für politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Anna-Maria Kemper fragt in ihrer Dissertation aus demokratietheoretischer Perspektive nach der Bedeutung von positiven und negativen Parteibindungen. Hannah Riede beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der politischen Repräsentation von Migrant_innen aus intersektionalitätstheoretischer Perspektive.
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