Marschieren für die Wahrheit – dieses leichte Unbehagen. Eine etwas zu persönliche Reflexion über den March for Science

Am Wochenende waren an vielen Orten in Deutschland und auf der ganzen Welt Bildungsbürgerinnen auf den Straßen – so auch die Verfasserin dieser Zeilen, die dem Spektakel im beschaulichen Freiburg beiwohnte. Man versammelte sich unter dem Motto „Zu Fakten gibt es keine Alternative“, denn man ist beunruhigt, ja alarmiert, durch all das Postfaktentum, das da vermeintlich in der Welt heutzutage herumgeistert, personifiziert durch Donald Trump und seine ‚alternativen Fakten‘. Man ist bemüht, die Bedeutung des Wissens und der Wissenschaften im Streit der Meinungen durch den symbolischen Akt des Marschierens wieder ins Gedächtnis zu rufen, und scheint sich einig, dass es unverhandelbare Tatsachen gibt, die wissenschaftlicher Reflexion und Methode in die treusorgenden Hände zu legen sind. Wahrscheinlich muss man nicht einmal Hannah Arendt (Wahrheit und Lüge in der Politik) bemühen, um sich des Eindrucks zu vergewissern, dass die Gleichsetzung von Tatsachen und Meinungen im Bereich des Politischen nicht nur unangebracht sondern gefährlich ist – an Anschauungsmaterial (siehe hier und hier) mangelte es eigentlich nie. Wegen solcherlei Erwägungen stand man also zusammen: Professorinnen, Studentinnen, Privatdozentinnen, wissenschaftliches Prekariat und jede Menge Alumni. Das unangenehme Gefühl der Selbstbeweihräucherung wurde um der guten Sache willen im Kauf genommen. Man ignorierte für einen Samstagmittag all die Grabenkämpfe um Mittelkürzungen und prekäre Anstellungsverhältnisse und war sich einmal einig.

Doch bei einem Blick auf die Statements und Schilder wurde mir bestätigt, was zuvor eher dumpfe Ahnung war: Das Problem ist und bleibt das „Man“, das Gruppengefühl, die vermeintlich gemeinsame Sache, eben diese Einigkeit. Es war zunächst das Medizinergrüppchen mit den Schildern „Homöopathie raus aus dem Medizinstudium“ und „Globuli ins Süßwarenregal“, das diesen Verdacht nährte. Wahrscheinlich liegt es in der Natur von solchen Veranstaltungen, dass Einzelne ihre internen Rangeleien hier austragen – wobei ich kein Schild der Psychologinnen sah, welches das Parapsychologische Institut Freiburgs angriff, und auch die leidige Frage um die Daseinsberechtigung der Politischen Theorie sympathischerweise einmal nicht gestellt wurde.

Sehr viel nachdenklicher, weil das Problem im Kern betreffend, stimmten mich derlei Plakate: „We trust in Science – Science is not a belief system“ – Ist es nicht? Darüber kann man streiten. Und eben dass man dies kann, zeigt an, dass es sich bei diesen Einlassungen gar nicht um Fakten, sondern um mehr oder weniger komplexe Sinnzusammenhänge, um Paradigmen und ziemlich voraussetzungsreiche Wahrheitskonzeptionen handelt. Schon in den Tagen vor dem March for Science grübelte ich über der Frage, ob wir denn einen gemeinsamen Begriff von Wahrheit finden würden, doch zerschlug ich diese Bedenken mit der Überlegung, dass es hier einmal nicht um grundlegende (Glaubens-)Fragen, nicht um abstrakte Begriffsbestimmungen ginge, dass es für den politischen Diskurs genügen würde, wir einigten uns auf konkrete weltliche und wissenschaftlich evaluierbare Tatsachen (etwa den gerne als Beispiel herangezogenen Klimawandel) und marschierten dafür, diese als solche anzuerkennen. Doch da hatte ich mich wohl vertan. Denn anscheinend ist es im Format eines ‚Marsches‘ eben nicht möglich, die konkreten Fakten und die verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge (um nicht zu sagen ‚Weltanschauungen‘) voneinander zu trennen.

Ich bereue keineswegs, gegangen zu sein – im Gegenteil: Ich selbst war durchaus aus Überzeugung dabei (nämlich aus Überzeugung von der Relevanz konkreter Fakten für den politischen Diskurs) und bin auch im Nachklang sehr angetan von der Einigkeit über die Unabdingbarkeit unverhandelbarer Fakten und die Vielfalt der dahinterstehenden Paradigmen und Wahrheitsbegriffe. Aber angesichts der ideologischen Streitigkeiten, die letztes Wochenende nicht nur in Freiburg mit Filzstiften auf Pappschildern ausgetragen wurden, scheint es mir dringend geboten hier Begriffsarbeit zu leisten. Das heißt, ‚Fakten‘ von ‚Paradigmen und Wahrheitsbegriffen‘ zu unterscheiden – wobei mit letzteren jenseits vom wissenschaftsphilosophischen Räsonieren schlicht der Reim gemeint ist, den sich verschiedene Professionen und Köpfe auf diese Fakten machen. Ein Beispiel: Das würde bedeuten anzuerkennen, dass wir alle denselben ‚Baum‘ sehen – der Klassiker aller Logikeinführungen. Doch bei Umwelt- und Forstwissenschaftlern mag er gänzlich andere Assoziationen und Notwendigkeiten wachrufen als bei Materialwissenschaftlern, die Philosophen inspiriert er zum Grübeln, Ausruhen oder zu naturethischen Erwägungen und wieder anderen Akademikerinnen ist er Anlass und Zeichen der Notwendigkeit für Projektanträge zur Nachhaltigkeit – einig sind wir uns letztlich über den Baum. Um das nun doch noch einmal mit Arendt (bzw. Lessing) zu sagen: Nach Ansehung der Tatsachen – Bäume oder Untersuchungen der Inhaltsstoffe von Globulikügelchen – denke jeder „was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!“ (Arendt: Gedanken zu Lessing, S. 45)

Fakten und Interpretationen (samt dahinterstehender Paradigmen) minutiös auseinanderzudividieren liegt wahrscheinlich nicht jedem, ist anstrengend, im Zweifel schmerzhaft, da es an den eigenen Wertekanon gehen könnte, und fällt einigen Professionen von Natur aus leichter als anderen. Hier könnten die Geistes- und Sozialwissenschaften und eben auch die Politische Theorie als Mediatoren tätig werden, was mir nicht nur für den March for Science eine lohnende Aufgabe mit hoffentlich kathartischer Wirkung zu sein scheint.

Vom March for Science bleibt bis dahin ein leichtes Unbehagen, kann ich mich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass beim gemeinsamen Marschieren schnell von der Einigkeit über grundlegende Fakten des Klimawandels auf die Einigkeit über Sinn und Unsinn der Homöopathie und die dahinterstehenden Glaubenssysteme, Paradigmen und Machtstrukturen geschlossen wird. Ein guter Freund machte den Vorschlag eines eigenen Schildes mit der Aufschrift „Es gibt alternative Wahrheiten“. Vielleicht komme ich beim nächsten Mal darauf zurück.

 

Astrid Hähnlein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte der Universität Freiburg. In ihrem Promotionsprojekt arbeitet sie in Auseinandersetzung mit Hannah Arendt und Karl Jaspers an einer Konzeption politischer Grenzsituationen.

4 Kommentare zu “Marschieren für die Wahrheit – dieses leichte Unbehagen. Eine etwas zu persönliche Reflexion über den March for Science

  1. Guter Punkt! Bei aller Sympathie fühlte es sich doch an, als hätte niemand je von Foucault gehört. Der hat viele Schwächen, aber eines doch sehr überzeugend dargelegt: Dass man über Wahrheit auch streiten (können) muss. Nun ist mit post-faktisch ja nicht gemeint, genau das zu tun, sondern vielmehr eine ganze Klasse von Wissen (sic!) auszuschliessen. Trotzdem scheint mir ein leichtes Unbehagen angesichts des Absolutheitsanspruchs wissenschaftlicher Erkenntnis, der sich – auch – zeigte, durchaus angemessen.

  2. Interessanterweise finden sich heute auch im Wissenschaftsteil der FAZ zwei unterschiedlich ausstaffierte skeptische Reflexionen zum letzten Samstag.
    So schreibt unter der Überschrift „Faktenhochburg im Belagerungszustand. Rückzug aufs Unangreifbare: Die Wissenschaft präsentiert sich auf dem March for Science als Wissensfabrik“ (FAZ Nr. 97 vom Mittwoch 26. April 2017, S. N4) Thomas Thiel, die

    „Faktenfeindschaft ist nicht vom Himmel gefallen und bietet Anlass zur Selbstkritik. Deutsche Universitäten präsentieren sich heute als pluralistische, international ausgerichtete Unternehmen bei wachsender innerer Homogenität. Es reicht jedoch nicht, Fremdheitserfahrungen mit kosmopolitischen Appellen und Diversitätsparolen abzuspeisen. […] Der vielbeklagte Mainstream wird von Wettbewerbsmechanismen, Rankings und Evaluationen institutionalisiert. Die Bereitschaft zu kritischer Reflexion, wird in den eigenen Reihen dadurch behindert, dass der Großteil der Wissenschaftler, der sogenannte Nachwuchs, nicht selbstständig forschen darf und sich aufgrund befristeter Anstellungsverhältnisse und unsicherer Zukunftsperspektiven mit kritischen Einlassungen zurückhält. Von Wissenschaftsfreiheit ist auch hier nur mit Einschränkungen zu reden. Weitere Abstriche drohen, seit die Europäische Union versucht, Wissenschaftler für gesellschaftliche Herausforderungen einzuspannen“ und damit die „Eigenlogik des wissenschaftlichen Fortschritts, der sich nicht nach politischen Vorgaben richten kann“, zu unterminieren.

    Auf der anderen Seite desselben Zeitungsblatts postuliert Christina Dongowski unter der Überschrift „Marschierende Wissenschaft. Factum allzu brutum“ (S. N3), die derzeitige Wissenschaft könne „ohne ein umfassendes Verständnis der eigenen Position in den Machtstrukturen von Staat und Gesellschaft“ nicht auskommen: „Nur auf die vagen Versprechungen auf Erkenntnisse hin, die irgendwann einmal zum allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt führen würden, wird sich die spezifisch hohe Alimentierung eines kleinen Teils der Gesellschaft nicht mehr lange begründen lassen“ – das „Ende der Fraglosigkeit ihres Tuns“ müsse von der Wissenschaft nicht als „Angriff auf den ‚Wert von Wissenschaft und Forschung'“ begriffen werden, sondern als „Herausforderung an die eigene Demokratiefähigkeit“.

    Gleichwie somit scheint es nicht die geringste Unstimmigkeit der Demonstrationen vom Samstag zu sein, dass vielerorts just für jenes von bildenden und politischen Geistes- und Sozialwissenschaften vollends gereinigtes, zwangsfröhliches Wissenschaftssystem des „akademischen Kapitalismus“ aka Universitätsfeudalismus ‚protestiert‘ wurde, dessen wie auch immer konkret ökonomisierte, lebens-, frauen-, gesundheits- und nicht zuletzt bildungsfeindlichen Strukturen unterhalb der nach außen simulierten Öffentlichkeit den von Abscheu-, Neid-, Tretmühlen-, Verachtungs- und Verzweiflungsnarrativen geprägten WissenschaftlerInnenpausentalk charakterisieren. Die meinethalben von Trump zusammengestrichenen Wissenschaftszweige oder die von Orban anskalpierten Fachrichtungen könnten sich politisch jedenfalls viel effektiver wehren bzw. wären gar nicht erst auf den nun nicht selten wohlfeil artikulierten Widerstand angewiesen gewesen, wenn sie nicht innerhalb des binnen- und inneruniversitären Verteilungskampfes längst marginalisiert und für zu unpraktisch, unrentabel und verkopft befunden worden wären. Es ist insofern eitel und grotesk zugleich, dass sich auf manchen Demos Drittmittelmultimillionäre als Bedrohte inszenzierten und „Solidarität“ zeigen wollten.

    Die betont öffentlichkeits- und social-media-konformistische Parolenhaftigkeit vieler Transparente jedenfalls lässt daher durchaus beide Interpretationen der FAZ zu: Die der gänzlich unpolitisch-egoistischen Lobbyarbeit nach konzertierten Marketinggesichtspunkten mit entsprechend kataloggerecht smilenden Wissenschaftsmimen einerseits, die der karnevalesk praktizierten Verdrängung des Angstraums Massenuni durch apotropäische Vergemeinschaftungsreflexe gegen eigens imaginierte ‚Faktenfeinde‘ andererseits. Es entbehrt dabei nicht der Ironie, wenn sogar (oder gerade) ein außerwissenschaftliches Massenmedium wie die FAZ feststellt, dass am Samstag weniger für eine wissenschaftlich kontroverses, als für ein öffentlichkeitstaugliches, quasi post-adornitisch science-slamiges, zu ‚FaktenFaktenFakten‘ geschrumpftes Einheitswahrheitsverständnis im Sinne des von Astrid Hähnlein benannten Unbehagens ‚protestiert‘ worden war.

  3. Ich verstehe und begrüße die argumentative Stoßrichtung des Textes. Ich durchdringe aber die vorgeschlagene Denkfigur nicht vollständig, fürchte ich. Wenn Wahrheit eine Eigenschaft von (auf die Welt da draußen gerichteten) Aussagen ist bzw. sein kann, dann kann die Aussage „Was wir hier sehen, ist ein Baum.“ wahr oder falsch sein, oder nicht? Unterscheidet sich der Gehalt dieser Aussage von jener, es sei ein Fakt, dass dies ein Baum ist? Falls nicht, was ich vermute, welchen Sinn hat es dann, das Prädikat der Wahrheit von jenem der Faktizität so scharf zu trennen? Ich verstehe schon, welche strategischen Gründe dafür sprechen, denn so umgeht man ein schwieriges Problem relativistischer Epistemologien. Aber ist das ein robuster Workaround?

  4. Nehmen wir den Umstand, dass Studie XY zeigt, Globuli enthalten keine der geprüften Inhaltsstoffe. Gesetzt den Fall, alle Gebote der Redlichkeit, Transparenz und Interessenlosigkeit wurden bei der Untersuchung eingehalten, würde ich nun vorschlagen, diese Feststellung als ‚Faktum‘ anzuerkennen. Zu unterscheiden wäre es von all den ‚emphatischen Wahrheiten‘, die sich um es ranken (Die Homöopathie sei Betrug, nutzlos, gefährlich oder aber sie wirke, wenn man nur fest genug an sie glaube). Es ist dieser ‚emphatische Wahrheitsbegriff‘, in welchem immer eine Portion Meinung und Weltanschauung mitschwingt, um den es mir geht. Sprachphilosophische und analytische Erwägungen zur Wahrheit von Aussagen habe ich im Sinne einer pointierten Trennung beider Ebenen schlicht beiseitegelassen. Wahrscheinlich hat Christoph recht, dass dies im Abstrakten überpointiert ist und stringent durchdekliniert werden müsste; im jeweils konkreten Diskurs (um Globuli, Impfen und Co.) schiene es mir dennoch heilsam und vielleicht auch ausreichend.

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