theorieblog.de | Was die Politikwissenschaft jetzt tun muss

9. März 2017, Mounk

In den Nachwehen der Rezession nach 2008 mussten sich Ökonomen fragen lassen, wie sie den bevorstehenden Kollaps der Weltwirtschaft übersehen konnten: Welchem Zweck dienten komplexe ökonomische Modelle, wenn sie nicht einmal solch eklatantes Systemversagen vorhersagen konnten?

Haben Ökonomen in der Vorhersage der Wirtschaftskrise versagt, so versagten die Politikwissenschaften jüngst in der Vorhersage tiefgreifender politischer Umbrüche. Die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten ist ein besonders eklatanter Fall. Doch schon davor haben Politikwissenschaftler Stabilitätskräfte immer wieder überschätzt – etwa im Falle des Brexit oder im Fall der ernsten Bedrohung, die die populistische Regierung Polens für die Demokratie darstellt.

Es wäre natürlich von den Politikwissenschaften zu viel verlangt, jedes einzelne politische Ereignis vorherzusagen. Erstens ist das Anliegen von Wissenschaft nicht primär die Prognose. Zweitens wirken stets Kräfte der Kontingenz: Wenn höchst unwahrscheinliche Konstellationen eintreten, sind auch zutreffende Modelle des Sozialen kaum in der Lage, sogleich alle Implikationen zu beschreiben. Und dennoch wäre es ein Fehler, das Versagen von Forschern kleinzureden, wenn es etwa darum geht, eines der einschneidendsten Ereignisse der amerikanischen Politik seit der Mitte des letzten Jahrhunderts zu erkennen. Noch vor einem Jahr hätten wohl die meisten Politikwissenschaftler die Möglichkeit, dass jemand wie Trump die Präsidentschaft oder auch nur die republikanische Kandidatur erringen könne, in den Wind geschlagen. Schlimmer noch: die meisten Theorien hätten sogar genau das Gegenteil dessen vorhergesagt, was letztendlich eintraf.

In einem besonders einflussreichen Text über Präsidentschaftskandidaten beispielsweise haben Marty Cohen und Kollegen argumentiert, dass stets die Partei entscheide – dass also Parteieliten durch Spenden und persönliche Unterstützung bestimmte Kandidaten in den Vorwahlen fördern und damit letztlich vorselektieren. Doch in den demokratischen Vorwahlen wurde ein Außenseiter praktisch ohne institutionelle Unterstützung zum schärfsten Widersacher Hillary Clintons, und bei den Republikanern konnte ein noch extremerer Außenseiter mit noch weniger institutioneller Unterstützung alle Konkurrenten ausstechen und wurde zum Kandidaten der Partei. Kurz: Die Realität hat angebliche Wahrheiten auf den Kopf gestellt – und dies sogar dann, wenn gängige Theorien sehr eindeutige Prognosen produzierten.

Wie konnte das passieren? In den letzten drei Jahrzehnten haben Politikwissenschaftler beeindruckende Fortschritte darin gemacht, zu verstehen, wie die Politik in Phasen relativer Stabilität funktioniert. Die US-Politik veranschaulicht dies gut: Kenner der Judikative haben etwa gezeigt, inwieweit frühere ideologische Ausrichtungen der Supreme Court-Richter auch künftige Entscheidungen vorhersagbar machen. Kenner der Legislative haben indes mit großer Genauigkeit prognostiziert, ob Abgeordnete Gesetzesentwürfen zustimmen würden, indem sie Faktoren wie Parteizugehörigkeit, früheres Abstimmungsverhalten und Beziehungen zu Großspendern auswerteten.

Dieser wissenschaftliche Fortschritt war auch aufgrund dreier miteinander verknüpfter methodologischer Verschiebungen möglich.

Erstens wird zumeist versucht, Kausalitäten nachzuweisen und damit Gesetzmäßigkeiten der Politik aufzudecken. Früher investierten Politikwissenschaftler viel intellektuelle Energie in die Beschreibung, Interpretation und Erklärung zentraler Aspekte des Politischen – von bedeutsamen Einzelereignissen wie der Französischen Revolution bis zu spezifischen Institutionen wie der Legislative oder den Gewerkschaften. Heute dagegen überlassen Politikwissenschaftler die Beschreibung von Fakten eher Journalisten; die Spekulation über drohende politische Umbrüche, so warnen sie, sollte Sache politischer Kommentatoren sein. Viele Politikwissenschaftler bemühen sich derweil in erster Linie darum, Variablen wie Einkommen oder Bildungsgrad ins Verhältnis zu Resultaten wie dem Wahlverhalten der Bürger zu setzen.

Zweitens war die Politikwissenschaft lange von Forschern dominiert, die mit großem Selbstbewusstsein qualitativ arbeiteten. Sie befragten die historische Empirie wie auch die Details der Gegenwartspolitik, akkumulierten Archivmaterial ebenso wie Politikerinterviews und fertigten ethnographische Studien spezifischer Organisationen oder Milieus an. Derzeit dagegen verlassen sich die Meisten auf quantitative Methoden und verbringen den Großteil ihrer Zeit damit, Datensätze zu bilden und mittels statistischen Methoden die Verbindungen – oder besser noch: Kausalitäten – zwischen Einzelfaktoren und den sie interessierenden Outcomes aufzuzeigen.

Drittens definierte sich die Politikwissenschaft früher über einen Kanon zentraler politischer Fragestellungen: Wie kommt es zu Revolutionen? Wie kann Demokratie gesichert werden? Heute dagegen definiert sie ihr Feld über Methoden. Um als Politikwissenschaft ernst genommen zu werden, genügt es nicht mehr, dass eine Studie die beste und plausibelste Antwort auf eine zentrale Fragestellung bietet; stattdessen wird sie anhand der Latte eines recht eng verstandenen methodologischen Kanons bewertet .

Zwar hat diese Methodenwende viel zum Verständnis der Welt in Phasen relativer Normalität beigetragen, doch die Fixierung auf quantitative Daten, der Fokus auf das Aufdecken genereller Gesetzmäßigkeiten und die methodische Rigidität haben es auch schwer gemacht, systematisch über Entwicklungen abseits dieser Normalität nachzudenken. Die Unfähigkeit, den Aufstieg Trumps vorherzusehen, ist somit auch kein leicht behebbarer Schönheitsfehler der gegenwärtigen Politikwissenschaft – sondern ein direktes Ergebnis ihrer Grundausrichtung.

Angenommen, ich messe den Siedepunkt von Wasser in Cambridge, Massachusetts – das Ergebnis wird verlässlich 100 Grad Celsius lauten. Wenn ich dieselbe Messung in Chicago, Washington oder San Francisco vornehme, erhalte ich dasselbe Resultat und kann auf diese Weise in kurzer Zeit einen Datensatz mit hunderten oder tausenden Messwerten sammeln. Sie bestätigen sämtlich jene einfache Wahrheit, die mir in der Schule beigebracht wurde: Wasser siedet bei 100 Grad. Dennoch ist die Wahrheit nicht so eindeutig und unveränderlich. Wenn ich meinen Wasserkocher nämlich nach La Paz schaffe, kocht dort das Wasser bei unter 90 Grad – und sollte ich es irgendwie hinbekommen, ihn auf den Mount Everest hinaufzuschleppen, wäre das Ergebnis eher um die 70 Grad.  Allgemeine Gesetzmäßigkeiten – in den Sozial- ebenso wie in den Naturwissenschaften – beruhen auf Rahmenbedingungen. Sie beschreiben die Welt unter der Annahme bestimmter Konstanten, in diesem Falle des konstanten Luftdruckes. Wenn sich diese Konstanten ändern, müssen Gesetzmäßigkeiten verfeinert, begrenzt oder verworfen werden. Das wissen Sozialwissenschaftler natürlich. Aber obwohl wir die Bedeutung von Rahmenbedingungen kennen, reflektieren wir selten, dass sie durchaus unsere Kernannahmen entkräften können – und uns systematisch für die seltenen, aber umso zentraleren Wendepunkte der Geschichte, blind machen.

Man bedenke folgende Hypothesen: Parteifunktionäre in den USA treffen die Kandidatenauswahl. Extreme Kandidaten, die demokratische Grundnormen verletzen, erhalten keine breite Unterstützung in der amerikanischen (oder polnischen oder schwedischen) Bevölkerung. Wenn ein wohlhabendes Land mindestens zwei Regierungswechsel mit freien und fairen Wahlen durchlaufen hat, ist die liberale Demokratie stabil. Jede dieser Hypothesen ist in der Vergangenheit mittels raffinierter empirischer Beweisführung auf Basis der letzten fünf Jahrzehnte bestätigt worden. Doch jede dieser Hypothesen unterliegt auch Rahmenbedingungen, die wir möglicherweise nicht sehen – sie sind darum unsichtbar, weil sie über die letzten 50 Jahre konstant blieben und erst jetzt wegbrechen. Behalten Parteien weiterhin ihren Einfluss auf Wähler, wenn das öffentliche Vertrauen in Politiker stark gesunken ist? Verschmähen Wähler radikale Kandidaten auch in Zeiten, in denen der Rückhalt für demokratische Institutionen enorm schwindet? Und bleiben liberale Demokratien auch dann stabil, wenn, wie derzeit, der Lebensstandard der Durchschnittsbürger erstmals seit ihrer Gründung stagniert?

Naturwissenschaftler können die Rahmenbedingungen bis zu einem gewissen Grade systematisch testen. Gibt es einen theoretischen Grund zu der Annahme, dass der Luftdruck den Siedepunkt beeinflussen könnte, und ist es zu unpraktisch, auf dem Mount Everest zu experimentieren, manipuliert man den Luftdruck im Labor. Politikwissenschaftler verfügen hier über beschränktere Ressourcen. Selbst wenn sie aus theoretischen Gründen den Verdacht hegen, dass die liberale Demokratie unter den Bedingungen stagnierender Lebensstandards möglicherweise instabil ist, können sie die Rahmenbedingungen eben nicht künstlich beeinflussen.

Eine offensichtliche Einsicht hieraus lautet, dass Politikwissenschaftler weniger Vertrauen in die Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse hegen sollten. Eine weniger offensichtliche Einsicht geht weiter: In einem Forschungsfeld, in dem wir niemals systematisch die Rahmenbedingungen unserer Theorien bestimmen können, ist die Entdeckung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten schlicht weniger wert als gedacht. Die Erkenntnis, dass ein hohes BIP unter nicht spezifizierbaren Rahmenbedingungen die Stabilität der liberalen Demokratie befördert, bringt uns kaum weiter: Weder liefert sie eine vollständige Erklärung dafür, warum die Demokratie in den USA historisch so fest etabliert war, noch kann sie eine Auskunft darüber geben, unter welchen Umständen die amerikanische Demokratie scheitern könnte.

Hinzu kommt ein weiteres Problem. Die Nutzung statistischer Methoden und der Fokus auf kausale Erklärungen hat es der Politikwissenschaft zwar ermöglicht, ihre explanatorische Reichweite auszudehnen; gleichzeitig hat sie ihren Blick aber stark verengt. Es ist einfacher, robuste Daten zu sammeln und stringent Kausalitäten aufzuweisen, wenn es um Wirtschaft statt um Kultur geht. Auch aus diesem Grund ziehen viele Sozialwissenschaftler mittlerweile ökonomische kulturellen Erklärungen vor. Ebenso ist es einfacher, robuste Daten zu sammeln und kausale Hypothesen zu testen, wenn es um häufige und leicht zähl- und kategorisierbare Ereignisse wie Abstimmungen im Parlament geht als wenn es um seltene und komplexe Ereignissen wie Revolutionen geht. Auch aus diesem Grund tendieren viele Sozialwissenschaftler nun dazu, Normalereignisse der jüngeren Vergangenheit statt zentrale Wendepunkte der weiter zurückliegenden Geschichte zu untersuchen.

Alle Methoden haben Stärken und Schwächen. Der gegenwärtig dominante Zugang eignet sich gut dazu, Phasen relativer Stabilität zu analysieren–und schlecht dazu, Phasen relativer Instabilität zu verstehen. Es entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie, dass sich die methodische Wende der Politikwissenschaften gerade in dem Moment vollzieht, die uns für die radikalen Veränderungen, die sich nun um uns herum vollziehen, blind macht.

In Athen, Seoul, Stockholm und Washington erweisen sich politische Systeme, die über lange Zeit stabil schienen, plötzlich als instabil. Staaten, in denen jahrzehntelang moderate Parteien regierten, erleben nun den schnellen Aufstieg populistischer Kräfte, die grundlegende Aspekte der liberalen Demokratie ablehnen. Weltweit befindet sich die liberale Demokratie an der Schwelle zu einer tiefen Krise. Man könnte nun meinen, dass es die dringlichste Aufgabe der Politikwissenschaft ist, diese Krise zu verstehen und möglicherweise Wege aus ihr heraus aufzuzeigen. Doch die gegenwärtige methodische Orthodoxie erschwert dies enorm. Wenn wir einen politischen Moment nur mittels Statistiken und Kausalitätsbehauptungen reflektieren können, dann benötigen wir Daten über ähnliche Entwicklungen der Vergangenheit, um die wirkenden Kräfte zu beschreiben. Dies freilich macht es quasi unmöglich, Entwicklungen ohne Präzedenz zu beschreiben: Über sie gibt es per Definition keine Daten, die Aussagekraft über Gründe und Folgen hätten.

Welchen Schaden kann Trump der amerikanischen Republik zufügen? Unter welchen Umständen kann die bisherige Stabilität der liberalen Demokratie enden und in einer existentiellen Herausforderung für unser politisches System resultieren? Gegenwärtige methodische Standards haben solche Fragen wegdefiniert. In normalen Zeiten – in Zeiten also, in denen die politische Welt in geregelten Bahnen verläuft und die jüngere Vergangenheit Aussagen über die nähere Zukunft zulässt – mag die methodologische Rafinesse es wert sein, große, unausweichlich spekulative Fragen nicht stellen zu können.. Doch es wird zunehmend klar, dass wir nicht mehr in solchen Zeiten leben, und dass die Zukunft sich womöglich sehr von der jüngeren Vergangenheit unterscheiden wird. Politikwissenschaftler stehen also vor einer Entscheidung: Wir können unsere bisherigen methodischen Regeln weiter befolgen und stumm bleiben, während die liberale Demokratie am Abgrund steht. Oder wir können versuchen zu verstehen, was die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie hervorgebracht hat, und wie sie überwunden werden könnte.

Es wird nicht einfach werden. Das Verstehen der Welt in unruhigen Zeiten ist ein heikles Unterfangen. Dennoch: Uns stehen bereits Werkzeuge zur Verfügung, die zu oft unbenutzt bleiben. Wir können uns mehr mit der Geschichte befassen, insbesondere mit solchen Phasen, in denen die Demokratie in Gefahr war oder in denen scheinbar stabile politische Systeme plötzlich ins Schwanken gerieten. Wir können mehr Zeit damit verbringen, Wähler, die ihr Vertrauen in das politische System verloren haben, zu analysieren – oder jene Populisten, die eine Hauptstadt nach der anderen erobern, besser zu verstehen. Wir können jene Etappen der Vergangenheit untersuchen, in denen Katastrophen abgewendet wurden.

Ungeachtet der genauen Methoden müssen wir uns darauf konzentrieren, die drängendsten Fragen der Zeit so gut zu beantworten, wie es uns eben möglich ist – anstatt in die Komfortzone letztlich unwichtiger Gesetzmäßigkeiten zurückzuweichen. Manche der Theorien, die wir entwickeln werden, mögen sich als falsch erweisen – besonders, wenn wir gelegentlich Prognosen wagen. Aber wenn unsere Arbeit relevant sein soll, ist es besser, sich gelegentlich zu irren als in einer Blase zu forschen, die uns von den zunehmend dramatischen Ereignissen um uns herum isoliert.

 

(übersetzt von Eva Marlene Hausteiner)

 

Yascha Mounk ist Lecturer on Political Theory an der Harvard-Universität und Senior Fellow bei New America. Sein nächstes Buch, The Age of Responsibility: Luck, Choice and the Welfare State, erscheint diesen Frühling bei Harvard University Press, und er schreibt gerade an einem Buch zur Krise der liberalen Demokratie, das in Deutschland im Frühling 2018 bei Droemer erscheinen wird.


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