Herrschaft und Widerstand stehen konzeptionell in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zueinander. Erst in ihrer Reaktion auf Widerstand wird Herrschaft sichtbar und ohne letztere wäre jedweder Widerstand obsolet. Aber das erklärt natürlich bei weitem noch nicht alles. Viele offene Fragen zum Verhältnis zwischen beiden Konzepten und deren Konstitution wurden auf der Konferenz International Dissidence: Rule and Resistance in a Globalized World gestellt und diskutiert. Organisiert wurde die zwischen 2. und 4. März 2017 in Frankfurt stattfindende Konferenz vom gleichnamigen Forschungszusammenhang und dem Exzellenzcluster Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt sowie der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Im Zentrum stand dabei die Fragen, wie sich Widerstand räumlich und zeitlich verändert (hat) und welchen Einfluss Transnationalisierungsprozesse auf Widerstand haben.
Aber wie kann Widerstand überhaupt konzeptionell erfasst werden? Die Arbeitsdefinition des Forschungszusammenhangs unterscheidet zunächst zwischen den Begriffen Dissidenz und Opposition. Dissidenz wird dabei verstanden als ein „radikale[r] Widerspruch von Akteuren, der sich gegen Institutionen und die in ihnen verkörperten Normen richtet.“ (Daase/ Deitelhoff) Zwar wird Opposition ebenfalls als eine Form des politischen Widerspruchs gefasst, unterscheidet sich jedoch von Dissidenz darin, dass die bestehende politische Ordnung mit ihren Spielregeln anerkannt wird.
Widerstand durch Alltagshandeln und Rückzug
Der damit implizierte Zusammenhang zwischen Zielsetzungen und Praktiken muss jedoch nicht immer gegeben sein. So standen beispielsweise in den beiden Panels The Politics of Everyday Resistance und Resistance by Denial sowohl alltägliche wie auch eher passiv konnotierte Formen von Widerstand im Zentrum der Diskussion. Praktiken des alltäglichen Widerstands – deren Erforschung maßgeblich auf den Arbeiten von James C. Scott basiert – zeigen auf, dass es viele Formen von Widerstand gibt, die mit dem herkömmlichen, intentional ausgerichteten Begriffsverständnis nicht erfasst werden, jedoch trotzdem hegemoniale Gesellschaftsordnungen und Machtverhältnisse in Frage stellen können (Scott 1989).
Hierauf verwiesen auch Sarah Murrus und Abel Poleses (Université Libre de Bruxelles/ Centre d’Etude de la Coopération Internationale et du Développement) Forschung zu alleinerziehenden Müttern in Hanoi. Durch ihre bewusste Entscheidung, Kinder alleine aufzuziehen, fordern die vietnamesischen Frauen implizit gesellschaftliche Geschlechterrollen sowie das von der Regierung propagierte Familienideal der „Happy Family“ heraus. Andere ‚Mikrodynamiken des Widerstands‘ hat Sarah Marsden (Lancaster University) in Aktivitäten von anti-faschistischen Gruppen in Großbritannien entdeckt, womit sie Handlungen wie Öffentlichkeitsarbeit oder parteipolitisches Engagement meint, das sich zwischen den großen ‚Spektakeln‘ abspielt. Die Vorträge von Eirini Gaitanous (King’s College London) und Ferdinand Stenglein (Universität Münster) zeigten darüber hinaus auf, inwiefern die Bildung kleinerer Solidargemeinschaften als Alltagswiderstand gefasst werden kann. Gaitanou verwies dabei auf Solidaritätsprojekte in Griechenland, die sich implizit gegen neoliberal-kapitalistische Politiken wenden. Stenglein befasste sich mit dem Kommunenleben in Deutschland, welches er als eine Form des Alltagswiderstandes gegen Reproduktionsnormen und ökonomische Zwänge fasste. Entgegen Charles Tillys Kriterien von Widerstand als etwas Öffentlichem, Kollektivem und zumeist sprachlich Artikuliertem, zeigte Philip Wallmeier (Goethe-Universität Frankfurt) am Beispiel von US-amerikanischen Kommunen in den 1960er Jahren auf, inwiefern auch leiser, fragmentierter und eher privat-individueller Entzug aus „dem System“ eine Form des Widerstands darstellt. Auch die Verweigerung von Lohnarbeit kann laut David Frayne (Cardiff University) als ein Ansatz der De-Naturalisierung von Arbeit und damit als ein Widerstand durch Sich-Entziehen eingeordnet werden.
Sozialer Wandel kann daher durchaus auch durch Verweigerung, Alltagshandeln und nicht-intendierte Auswirkungen von Handlungen ausgelöst werden, worauf auch Rahel Jaeggi (Humboldt Universität Berlin) in der Keynote verwies. Damit – so Jaeggi – sind es eben nicht notwendigerweise die Ideen, die zu Wandel führen. Trotzdem stellt sich die Frage, wie diese individualisierten und eher unmerklichen Formen des Rückzugs in kollektiven Widerstand überführt werden können. Denn wenn Protest fern politischer Auseinandersetzungen bleibt, kann er wohl auch nur schwerlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse anstoßen. Rückzug, Nichtstun und Wegschauen kann Herrschaft auch stützen, was nicht zuletzt an Entwicklungen in totalitären Systemen deutlich wird. Wie Rina Ramdev (Sri Venkateswara College Delhi) in ihrer Kritik an Arbeiten von Arundhati Roy aufzeigt, kann zudem die einfache Proklamation des eigenen Entzuges aus gesellschaftlichen Strukturen – bei Roy „I am a mobile republic“ – nie erfolgreicher Widerstand sein. Das liegt zum einen daran, dass ein darin ausgedrücktes Fetischisieren des individuellen Willens sowie der Rückfall in alte Konzepte wie jenes der Republik weder die Notwendigkeit von Kollektivität noch die Entstehungsgeschichte gesellschaftlicher Veränderung berücksichtigt.
Erscheinungsformen von Widerstand und die Frage des Populismus
Doch wenn bereits Kernelemente von Widerstand (Dissidenz wie Opposition) variieren, (wie) ist ein Vergleich seiner diversen Erscheinungsformen überhaupt möglich? Derartige Fragestellungen wurden im Rahmen der Konferenz mehrfach aufgeworfen. Zentral für viele Teilnehmenden war hier insbesondere die Unterscheidung zwischen progressiven und regressiven Bewegungen, die u.a. auch von Jaeggi formuliert wurde. Die Konferenzorganisation hatte sich für eine sehr breite thematische Ausrichtung entschieden, so dass sowohl Arbeiten zu eher linken Gruppierungen wie auch Rechtspopulismus und islamistischem Terrorismus vorgestellt wurden. Im Panel Restistance against Elites? beispielsweise ging es um das gegenwärtig viel diskutierte Thema Populismus. Hayriye Özen (Atilim Universität Ankara), die in ihrer Präsentation die Entwicklung der türkischen AKP von den Graswurzeln hin zu autoritärem Populismus nachzeichnete, bezog sich dabei auf das Populismus-Konzept von Ernesto Laclau. Zur populistischen Strategie gehört demnach eine diskursive herbeigeführte Unterscheidung zwischen Volk und Herrschenden. Die Konstruktion eines Feindes ist damit das zentrale, notwendige Moment des Populismus, das sich aus sehr unterschiedlichen Ideologien speisen kann. [http://www.zeitschrift-luxemburg.de/warum-populismus/] Wesentlich für die gesamte Konferenz war diesbezüglich die Frage, ob es überhaupt Formen von Dissidenz geben kann, die nicht populistisch sind. Widerstandsformen, die die Spielregeln des Systems ablehnen, müssen sich automatisch gegen diese und daran beteiligte „Eliten“ richten. Hierzu wurde eine Unterscheidung von inklusiven und exklusiven Varianten des Populismus angeregt und Cristóbal Rovira Kaltwasser (Universidad Diego Portales, Santiago de Chile) vertrat in der Diskussion die These, dass alle Populisten Dissidenten seien, dies aber nicht vice versa gelte.
Widerstand im Kontext grenzüberschreitender Prozesse
Über spezifische Verständnisse und Praktiken von Widerstand hinaus drehte sich die Konferenz stets auch um den Kontext, d.h. die verschiedenen politischen Ebenen in die Widerstand eingebettet ist. Dies betraf u.a. die Frage, wie andere politische Akteur*innen auf Proteste reagieren und welche Dynamiken sich durch Wechselverhältnisse zwischen den Beteiligten ergeben. Die Redner*innen des Panels Repertoires of Reaction: International Institutions and Protest, darunter Susan Park (University of Sydney), Karen Tucker (University of Bristol), Catia Gregoratti (Lund Universitet), Regina Hack und Felix Anderl (Goethe-Universität Frankfurt), beschäftigten sich diesbezüglich mit internationalen Banken und der Welthandelsorganisation. Banken wie WTO reagierten auf die Kritik sozialer Bewegungen etwa mit der Einführung von Accountability-Mechanismen oder Foren zur zivilgesellschaftlichen Mitbestimmung. Derartige Maßnahmen, so der Konsens, zielen allerdings maßgeblich auf eine Selbstlegitimierung und die Disziplinierung von Dissidenz ab. Wie auch in zahlreichen anderen Panels wurde dabei thematisiert, wie sich Widerstand durch grenzüberschreitende Prozesse verändert. Im Panel Dissidence Across and Beyond Borders verdeutlichten unter anderem Martha Crenshaw (Stanford University) und Max Hoffmann (Universität Frankfurt), dass die lokale und nationalstaatliche Ebene auch für transnational agierende Gruppen weiterhin eine bedeutende Rolle spielt. So trieben US-Militäraktionen die Terrorgruppe Al-Qaida zum lokalen Strategiewechsel, während sich der IS in seiner grundlegenden Ideologie stark auf nationalstaatliche Konzepte wie beispielsweise jenes des Territoriums bezieht. Stellvertretend für die Forschungsgruppe um Christopher Daase, Janusz Biene, Daniel Kaiser und Holger Marcks (Universität Frankfurt) erörterte letzterer diverse Mechanismen transnationaler Kooperation und deren Beitrag zur gewalttätigen Eskalation von Dissidenz. Der Vergleich zwischen vier verschiedenen Wellen des modernen Terrorismus wurde in der späteren Diskussion um die Neuheit solch grenzüberschreitender Zusammenarbeit wieder aufgenommen. Transnationalisierungsprozesse waren auch für frühere Terrorismusformen wie die anarchistischen Stadtguerilla in den 1960er Jahren bereits charakteristisch. Heutige Gruppierungen – auch solche die lediglich lokale oder nationale Veränderungen anvisieren – haben diese Netzwerke allerdings intensiviert. Dies ist vor allem den Fortschritten in der Kommunikationstechnologie und gesteigerter Mobilität geschuldet. Während solche Bedingungen zwar zu anhaltendem, transnationalem Widerstand führen, stärken sie wiederum aber auch die Macht der Nationalstaaten. Eine post-koloniale Betrachtung der hier angesprochenen internationalen Politikebene nahm vor allem Vivienne Jabri (King’s College London) im Panel International Order and Dissidence in/against the State vor. Nationalstaatliche Interventionen wie die der USA werden ihrer Darstellung nach hauptsächlich dadurch ermöglicht, dass die internationale Ebene im vorherrschenden Diskurs von vielen politischen Akteur*innen wie auch Forschenden als herrschaftsfrei und neutral angesehen wird. Dies mache nicht-westliche Subjekte unsichtbar und beeinträchtige ihre Möglichkeit zum Widerstand im nationalen und internationalen Kontext.
(Selbst)kritische Forschung zu Widerstand
Letztendlich mussten sich auch alle anwesenden Akademiker*innen eine grundlegende Frage stellen: Wie ist kritische Forschung zu Widerstand überhaupt möglich? Unter dem Titel The Politics of Producing Knowledge on Dissidence erkundeten die Teilnehmenden methodische und politische Herausforderungen, die sich aus der wissenschaftlichen Untersuchung von Widerstand ergeben. Die Diskussion konzentrierte sich hierbei auf emanzipatorische Bewegungen. Aktivistin Sofia Monsalve (Foodfirst Information and Action Network) kritisierte vor allem die ‚extraktivistische‘ Vorgehensweise vieler Forschenden. Ihrer langjährigen Erfahrung nach sind viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu Anfang aufgeschlossen gegenüber der akademischen Welt oder versprechen sich Vorteile von der Zusammenarbeit. Letztendlich profitierten jedoch nur die Akademiker*innen selbst von Forschungsgeldern und Prestige durch die systematischen Aneignung und Verarbeitung von Wissen sozialer Bewegungen. Dies, so Monsalve, führe zu sinkender Kooperationsbereitschaft oder offener Ablehnung gegenüber der Forschung. Lara Montesinos Coleman (University of Sussex), die sich auch in der politischen Basisarbeit mit kolumbianischen Landarbeiter*innenorganisationen engagiert, unterstrich die hier oft fehlgeleitete Unterscheidung zwischen Praktizierenden und Forschenden. Diese Dichotomie negiere die originäre, fortlaufende Produktion von Wissen durch soziale Bewegungen oder entwerte sie als unakademisch. Dies warf die Frage auf, welche konkreten Handlungsoptionen sich hieraus für Forschende ergeben oder ob daraus folge, dass angesichts einer zunehmend ökonomischen Zwängen unterliegenden Wissenschaft von der Forschung zu Widerstand gänzlich abgesehen werden müsse. Eine Stimme aus dem Publikum empfahl “Make yourself uncomfortable!”: man müsse sich aus dem bequemen Forschungsdasein herausbegeben und aktiv an der alltäglichen Realität der Forschungspartner*innen teilnehmen. Doch dies kann lediglich ein erster Schritt auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Forschungszusammenarbeit sein. Nur wer sich darüber hinaus seiner eigenen privilegierten Position bewusst wird, marginalisierten Stimmen und Wissensformen Raum gibt und die eigenen Prämissen, Vorgehensweisen und Wertvorstellungen transparent macht kann sich einer gegenüber dem ‚System Wissenschaft‘ widerständigen Forschungspraxis annähern.
Full disclosure: Die Verfasserinnen dieses Beitrags haben auf der Tagung selbst einen Vortrag gehalten.
Anna Fünfgeld ist Doktorandin am Lehrstuhl für Internationale Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Dissertation befasst sich mit Konflikten um Energie- und Klimapolitik in Indonesien und Brasilien.
Joana Hofstetter ist Absolventin des Global Studies Programme der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie bereitet aktuell ein Promotionsprojekt zum Verhältnis zwischen aktueller europäischer Prostitutionspolitik und der Sexarbeiter*innenbewegung vor.
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